Eigentlich weiss man nie, ob man einen Ort noch einmal im Leben sehen wird. Alles eine Frage positiver Erinnerungen oder, wie in meinem Fall, auch eine Frage des Alters. Wie oft habe ich mir diese Frage schon gestellt, nach Ladakh oder Burma oder Laos. Man schaut zurück mit leiser Wehmut, und je älter man wird, umso öfter weiss man, dass es das letzte Mal gewesen sein könnte.
Genauso ist es mit Mérida. Ich werde die Stadt vermissen, ihre Lebensfreude, ihre Schwerelosigkeit. Aber eben, wie schon früher erwähnt – der Camino ruft.
Mérida – Aljucén
Man gewöhnt sich gerne an Frühstückseinladungen, vor allem wenn sie derart liebevoll zubereitet werden wie bei Lin und Frank. Und ein weiteres Mal schlagen wir uns den Bauch voll, ungeachtet der Strecke, die heute vor uns liegt.
Die Etappe zwischen Mérida und Aljucén ist etwa 17 km lang und verläuft durch eine hügelige Landschaft mit Olivenhainen, Korkeichen und Steineichen. Die Route beginnt mit dem Aquädukt von Los Milagros.
Das Aquädukt von Los Milagros
Das Aquädukt von Los Milagros ist ein römisches Bauwerk, das die antike Stadt Mérida in Spanien mit Wasser versorgte. Es wurde im 1. Jahrhundert n. Chr. erbaut und hat eine Länge von etwa 830 Metern. Es besteht aus Granit- und Ziegelsteinen, die in mehreren Bogenreihen angeordnet sind. Es ist eines der drei Aquädukte, die in Mérida erhalten sind, und gilt als eines der beeindruckendsten und elegantesten Beispiele für römische Ingenieurskunst.
Nichts hat uns auf diesen majestätischen Anblick vorbereitet.
Man unterquert eine Bahnstrecke und entdeckt über den Bäumen merkwürdige Gebilde, die aus einer anderen Welt zu stammen scheinen. Wir kommen näher und stehen ziemlich fassungslos vor einem weiteren Beispiel der unvergleichlichen Baumeisterkunst der alten Römer.
Diese gewaltigen Gebilde stehen seit tausenden von Jahren hier, ein bisschen von der Zeit gebeutelt, aber immer noch mit bewundernswerter Widerstandskraft gegen die Macht des Verfalls. Es ist ja nicht das erste Mal, dass man sich wundert und bewundert. Die Römer, diese Kerle, sie eroberten nicht nur die halbe Welt, sie hinterliessen Bauwerke, die der Nachwelt zeigen, was schon vor langer Zeit möglich war.
Manchmal, vor allem in letzter Zeit, verliert man den Glauben an den Menschen, doch wenn man vor dem Aquädukt von Los Milagros steht, verspürt man wider Willen doch einen leisen Stolz zu dieser seltsamen Spezies zu gehören.
Der Stausee Embalse de Proserpina
Man muss sich tatsächlich losreissen von den alten Ruinen, der Weg ist zwar nicht lang, aber wir sind frühstücksbedingt eh schon ziemlich spät dran.
Im Grunde folgen wir der Route, die das Wasser aus dem Embalse de Proserpina über das Aquädukt nach Merida nimmt. Alles gehört zusammen. Der Embalse de Proserpina wurde im 1. oder 2. Jahrhundert n. Chr. errichtet, um die Stadt Mérida mit Wasser zu versorgen. Er hat eine Kapazität von 6 Millionen Kubikmetern und ist von einer 12 bis 22 Meter hohen Mauer aus Granit und Beton umgeben.
Eine unglaubliche Ingenieurleistung, eine Wasserleitung über knapp 6 km erst mittels Tunnel durch einen Granitfelsen und dann über den Los Milagros-Aquädukt nach Mérida zu führen. Und was vor allem erstaunt: die Leitung nach Mérida hatte ein Gefälle von einem Meter auf 2 Kilometer bei einer Kapazität von 150 Sekundenliter Wasser. Das ist erstens ein kleines Wunder und zweitens ein Mysterium.
Wir verbleiben nicht lange beim See, obwohl man sich eine längere Pause am Ufer durchaus vorstellen könnte. Nach dem See geht folgen wir dem Weg durch eine abwechslungsreiche Landschaft auf rotem Sand, gesäumt von Ginsterbüschen und Steineichen und erreichen schliesslich El Carrascalejo auf einem kleinen Höhenkamm.
El Carrascalejo
In Carrascalejo gibt es zwar eine alte wunderschöne Kirche, aber keine Menschen, dafür Hunde, die sich gerne streicheln lassen. Wir setzen uns auf eine Steinbank vor den Häusern und wundern uns über die allumfassende Stille, die schwer wie die Hitze über dem Dorf liegt. Man fragt sich wieder einmal, ob es einfach die tägliche Siesta oder eine generelle Abwesenheit von Menschen ist.
Soll ich hier noch beifügen, dass meine Gesangskünste, vorgetragen mit dem 60-er Klassiker „Those were the Days“ von Mary Hopkin, auf wenig Begeisterung stossen und ich eine potentielle Karriere als Sänger endgültig ad acta legen muss? Lassen wir das …
Der weitere Weg bleibt ein Erlebnis, so wie man sich das vorstellt, von zarten Schlieren am Himmel umgarnt, kommen wir schnell vorwärts, kein Wunder, es ist schlicht traumhaft zu wandern.
Aljucén
Man könnte es schlimmer haben.
Die Dame des Hauses führt mich in ein Zimmer von allererster Sahne, ein paar Meter von der Gaststätte „Kiosque“ entfernt, und die Herberge, wo sich Lin und Frank einquartieren, ist auch nicht weit.
Das Dorf hat zwar nur etwa 240 Einwohner, aber die Kirche ist einmal mehr von beachtlicher Gestalt und Form und einem Innenleben, das von grosser Vergangenheit und tiefer Religiosität zeugt.
Das Abendessen im „Kiosque“ erfüllt alle kulinarischen Wünsche, die angesichts der hungrigen Bäuche schnell und einfach zu befriedigen sind. Andere Wanderer tauchen auf, die meisten weiblicher Natur, aus Spanien und Italien und Frankreich, wir werden sie mit einiger Sicherheit wieder auf dem Camino antreffen.
Aljucén – Alcuescar
Für heute ist tatsächlich Regen angesagt, anfänglich eher Phantom, zumindest glauben wir daran. Es geht zwar gut vorwärts, aber Frank ist nach kurzer Zeit nicht mehr zu sehen.
Immerhin wissen wir, dass durch diese Einöde vor tausenden Jahren römische Legionäre in die Schlacht gezogen sind, was die Monotonität der steppenartigen Strecke allerdings nicht zu reduzieren vermag. Wieder einmal links und rechts Büsche, Ginster und sogar Pinien und was es sonst noch zu sehen gibt.
Immerhin werden wir von einem rötlichen Vorhang über dem Horizont begrüsst, was doch ein gutes Omen für den langen Tag werden könnte. Das düstere Gewölk daneben lässt allerdings auf weniger gute Aussichten schliessen.
Der Regen und der Sturm
Während Frank längst am Horizont verschwunden ist, nehmen Lin und ich es gemütlich, obwohl der immer dunklere Himmel schon bald allerhand Feuchtes und Stürmisches verspricht. Die üblichen Granitpoller und gelbe Pfeile und manchmal sogar ein kunstvoll aus Steinen zusammengesetzter Pfeil führen uns durch das wellige Gelände.
Natürlich nehmen wir die ersten Tropfen noch nicht richtig ernst, es wird schon nicht so schlimm werden, lautet die unausgesprochene Hoffnung. Der Wettergott, dieser unselige Geselle, lacht sich wahrscheinlich halbtot, als er unsere spöttischen Gesichter entdeckt, und legt eine Schippe drauf.
Innerhalb kurzer Zeit wird aus den ersten flüchtigen Tropfen ein wahrer Wolkenbruch, eine Lawine aus Wasser, ein Sturzbach, eine unerwartete Dusche, an jedem anderen Tag willkommen, heute aber vor allem lästig.
Auf jeden Fall steigen wir hastig in unsere Regenklamotten und zeigen dem Wettergott den Mittelfinger. Was dieser nicht überraschend als Beleidigung auffasst und den nächsten mitleidlosen Angriff startet.
Jetzt beginnt es nämlich auch noch zu stürmen.
Der Regen klatscht auf Kopf und Schultern und Beine, während der zunehmende Wind den Poncho in alle Himmelsrichtungen bläst und dabei vieles, was nicht nass werden sollte, zum Beispiel die Hosen, klatschnass werden lässt.
Das Allerblödeste beim Wandern durch den Regen ist die Tatsache, dass alles, was sich ausserhalb der Regenkleidung befindet, nass wird. So auch das Handy. Sobald man es wie gewohnt aus der Tasche nimmt, klopft der Regen auf das wehrlose Ding, und man stopft es schnell wieder an seinen sicheren Ort. Dumm nur, dass ausgerechnet jetzt die Poller fehlen und die üblichen Pfeile sich irgendwohin verkrochen haben.
Man folgt nun also dem eigenen Orientierungssinn, fragt auch schon mal bei einem mitleidigen Mann nach dem Weg und überhört geflissentlich die alternative Route der Landstrasse entlang nach Alcuescar. Dass wir anschliessend eine ganze Weile zwar gelben Pfeilen folgen, die aber nicht zum Tagesziel führen, merken wir erst nach einer Weile. Die damit eingefangenen zusätzlichen Kilometer sind angesichts des Wasserfalls vom Himmel ein Ärgernis, das uns den Spass am Camino für einmal gründlich vermiest.
Eine fromme Unterkunft
Aber auch diese Mühsal kommt irgendwann an ihr Ende, wir erreichen müde, nass und ziemlich missgelaunt das Tagesziel Alcuescar, wo wir doch tatsächlich von einem Herrn französischen Ursprungs angesprochen und in die örtliche Herberge geführt werden.
Alcuéscar hat etwa 2.500 Einwohner und ist bekannt für die Kirche Santa Lucía del Trampal, ein tempelvisigotisches Bauwerk aus dem 7. Jahrhundert.
Während Frank längst angekommen und in seligem Schlaf liegt, nehmen wir ziemlich überrascht unsere Einzelzimmer in Beschlag und machen uns anschliessend auf die Suche nach offenen Läden. Bei einem ziemlich unfreundlichen Herrn chinesischen Ursprungs werden wir fündig.
Und he, Lin kann seit Wochen wieder einmal in ihrer Muttersprache parlieren. Der Chinese aus dem Mutterland findet es allerdings nicht besonders lustig, ausgerechnet auf eine Dame aus Taiwan zu treffen. Aha, die politischen Antipathien sind sogar hier spürbar.
Das Abendessen wird von der Herberge zubereitet. Das Personal für den Abwasch und dergleichen wird aus unseren Reihen rekrutiert, was einen ziemlich passenden Abschluss dieses grenzwertigen Tages darstellt. Der wirkliche Tiefpunkt folgt etwas später: es ist im Zimmer derart kalt (keine Decken, nichts), dass nur der Schlafsack und alle mitgenommenen Klamotten für kältere Gegenden die frostige Feuchtigkeit bezwingen können.
Passender Song: La Rumba – Entre dos Aguas
Und hier geht der Camino weiter … nach Caceres