Irgendwann möchte ich aufhören, den Tag mit Regen zu beginnen und mit Regen zu beenden.
Ich hoffe, dass heute der Tag der Auferstehung bedeutet, der Tag mit dem letzten fucking Rain bis Genf. Natürlich wird dies ein frommer Wunsch bleiben, denn auch heute Morgen entdeckt der erste Blick aus dem Fenster das haargenau Gleiche wie gestern Abend.
Beim Morgenessen starre ich irgendwie apathisch aus dem Fenster, Lastwagen preschen vorbei, die Gischt des aufgewühlten Wassers fliegt meterhoch in die Luft. Die Berge sind nicht zu sehen, ist mir egal. Sie sehen genau gleich aus wie gestern, tief verhangen mit Nebel und Nässe.
Der Blick auf den heutigen Plan zeigt eine einfache Route durch das Tal von Stein nach Amden.
Der recht lange Aufstieg von Stein zur Vorderen Höhe wird mit einer herrlichen Aussicht auf die Glarner Berggipfel belohnt. Eine abwechslungsreiche Höhenwanderung führt um den Gulmen herum, zum Mattstock hinüber und nach Amden hinunter.
Länge: 14 km, Aufstieg | Abstieg: 860 m | 800 m, Wanderzeit: 4 h 45 min
Ein wunderlicher Entscheid am frühen Vormittag
Wie sich heute zeigen wird, kann man einen falschen Entscheid auch beliebig wiederholen. Anyway, der Regen hat tatsächlich eine Pause eingelegt, als wollte er mich davon überzeugen, dass er mir trotz allem gut gesinnt ist. Ich kenne diesen elenden Lügner in der Zwischenzeit sehr gut, also erwarte ich nichts Gutes.
Auf jeden Fall trete ich um neun aus der Tür, schaue mich um, da ist der Wegweiser, kein 3-er, aber ein Wegweiser, der garantiert in die richtige Richtung zeigt. Frohgemut – der Schlaf im hochanständig getrennten Bett war gut und tief und die Klamotten trocken – folge ich dem Weg, der in ein Tal hineinführt.
Selbstverständlich beginnt es nach einer halben Stunde zu regnen – hallo du lügenhafter Kerl – Autos und Traktoren fahren an mir vorbei, vorsichtig, wie mir scheint, um den seltsamen Wanderer nicht noch nasser zu machen, als er eh schon ist. Und wieder führt der Wanderweg auf die Wiesen hinaus, ich wiederhole meine Abneigung gegen hohes nasses Gras nicht mehr. Auf jeden Fall taucht ein spitzer Kegel am Horizont auf, kaum sichtbar durch den Nebel, aber es könnte sich um den Speer handeln.
Die erste Warnung. Eigentlich dürfte ich aus dieser Perspektive noch keinen Berg sehen, auf jeden Fall nicht den Speer.
Aber ich fühle mich wohl, es geht vorwärts, langsam und stetig, vorbei an den typischen Bauernhöfen dieser Gegend, kein Mensch ist zu sehen, manchmal höre ich ein unterdrücktes Muhen aus den Ställen. Ich scheine nicht der einzige zu sein, der auf schöneres Wetter hofft.
Die Bäche sind voll, rauschen unter den Brücken vorbei.
Aber dann werden die Wege schlechter, die Strasse hat sich irgendwohin verflüchtigt, es geht nun aufwärts. Der Dreck steckt wieder mal tonnenschwer an den Schuhsohlen, der Atem geht schwer, und alle paar Meter muss ich eine Atempause einlegen.
Aber der Wegweiser zeigt stur in die hoffentlich richtige Richtung, bergaufwärts, dem Sonnenuntergang entgegen (falls es denn Sonne hätte).
So gehe ich denn talaufwärts, beinahe wie in Ladakh auf dem Babytrail, einfach mit Regenbegleitung.
Immerhin würden die Wiesen bei Sonnenschein ein wunderbar farbiges Bild abgeben; heute sehen sie aus wie halb ertrunken und machen mir einmal mehr das Gehen zu einer mittleren Tortur.
Es wird steiler und steiler, und immer noch hoffe ich, endlich die 3-er Wegweiser zu entdecken. Immer noch im Glauben, am richtigen Ort zu sein, male ich mir in Gedanken eine böse e-Mail an die Organisatoren des Panoramawegs aus. Es darf doch nicht sein, dass eine ganze Etappe nicht bezeichnet wird.
Erste Zweifel – Das falsche Tal?
Doch langsam schleichen sich Zweifel ein. Der notwendige Blick auf die Karte oder das iPhone ist schwierig und nass bei diesem Regen und entfällt grösstenteils. Aber die umliegenden Berge und Abhänge entsprechen doch mehr oder weniger dem, was ich erwartet habe. In Kürze müsste doch eigentlich die Vorderhöhi auftauchen, oder doch nicht?
Auch der Weg wird noch schlimmer, Sumpf und Schneereste wie gestern, dazu steile Hänge, die das Gehen zur Mühsal machen. Es ist absolut keine lebende Seele zu sehen, ich höre nichts ausser dem eigenen Schnaufen und Fluchen. Der Weg sieht auf jeden Fall so aus, als hätte ihn das letzte Mal jemand im 19. Jahrhundert durchquert.
Aber plötzlich taucht von rechts eine stattliche Waldstrasse auf, die ich ganz und gar nicht erwartet habe. Auf der Karte ist nichts zu finden, aber was soll’s, viel mehr falsch kann ich heute nicht mehr machen. Und tatsächlich, nach kurzer Zeit taucht so etwas wie Kamm auf, und ich kann meinen Augen kaum trauen, zum ersten Mal heute sehe ich einen 3-er Wegweiser.
Ich bin auch jetzt noch überzeugt, auf der Vorderhöhi zu sein, allerdings meint der Wegweiser, dass ich auf dem Weg zwischen Vorder- und Hinderhöhi stehe.
Ja Herrgott, wo bin ich denn da durchgegangen? Mit Hilfe der verschiedenen Wegweiser und einem verschämten Blick auf die Karte verstehe ich endlich meinen Fehler. Ich bin doch tatsächlich den ganzen Tag durch das falsche Tal gegangen, also weiter nördlich als das richtige. Das Missgeschick passierte offenbar unmittelbar nach dem Verlassen des Hotels. Ich hätte nicht nur links sondern auch rechts blicken müssen, und dort hätte ich meine geliebten 3-er Schilder entdeckt.
Einmal mehr – was für ein Idiot!
Aber irgendwie finde ich es auch lustig. Es gibt nichts Besseres für das eigene Ego bzw. dessen richtige Einordnung als solche blödsinnigen Fehlleistungen. Das hat in meinem Fall nichts mit dem Alter zu tun, ich war diesbezüglich schon immer ein ziemlicher Vollpfosten!
Wie man sieht, kann man dasselbe Ziel auf unterschiedlichen Wegen erreichen und zwar ohne es zu merken. Dazu braucht es allerdings Blindheit, Regen, der die Kontrolle auf der Karte verunmöglicht, sowie eine gehörige Portion Gleichgültigkeit. Eine wichtige Voraussetzung für entspanntes Gehen und gelassene Geisteshaltung.
Nah am Glück
Zwei ältere Biker treffen ein, ziemlich schwer atmend, ich erkundige mich, woher sie kommen. Sie lachen sich halbtot, als ich ihnen mein Missgeschick erzähle, aber wir stimmen überein, dass solche Geschichten letztendlich das Salz in der Wandersuppe sind.
Nach der Hinderhöhi, die ich nach einer halben Stunde erreiche, geht es nun zügig abwärts, am Mattstock vorbei. Im HIntergrund ragt der Speer empor, sein Auftauchen am Horizont hätte das erste Warnsignal sein sollen. Und oh Wunder, es regnet nicht mehr.
Und endlich eine Sitzgelegenheit, eine hölzerne Bank mitten auf einer blühenden Wiese. Ich esse, trinke, atme tief durch, sinniere über die wechselhaften Einfälle des Lebens, und da, unerwartet und so willkommen, ausgerechnet nach diesem seltsamen Tag wieder einer dieser Momente, wo alles in vollkommener Balance ist. Näher am Glück kann man nicht sein.
Während im Tal der Löwenzahn, meine Lieblingsblume, längst verblüht und sich fallschirmmässig über die Wiesen ergossen hat, blüht er auf dieser Höhe noch immer in voller Pracht. Gibt es ein schöneres Bild für den Frühling als eine Wiese übersät mit blühendem Löwenzahn? Für mich nicht. Da kann sich jede noch so schöne Orchidee oder Rose schleunigst verziehen.
Wie befürchtet ist die Sesselbahn nach Amden hinunter nicht in Betrieb, als muss ich die letzten Abhänge auf teuflisch steilem und glitschigem Weg zu Fuss machen. Nach kurzer Zeit scheine ich gewachsen zu sein, denn an den Schuhsohlen hat sich eine dicke Schicht Dreck angesammelt, die das Gehen noch mühsamer macht. Immer wieder kann ich mich im letzten Moment auf den Füssen halten, Kühe am Wegrand finden es wieder mal hochinteressant, dem stolpernden und fluchenden Wanderer zuzusehen.
Im Hintergrund tauchen die Glarneralpen auf, ein Stück Walensee glänzt in der Tiefe. Ich bin fast da.
Aber irgendwann ist das letzte Stück dieser unseligen Etappe geschafft, und tatsächlich, die Sonne ist aufgegangen, es wird schnell warm, eine Einladung, sich vor dem Café mit Bäckerei einen Kaffee mit Meitschibei zu gönnen. Selten hat mich diese Kombination in eine derart positive Stimmung gebracht.
Übernachtung im Punjab
Das Hotel Schäfli hält eine Überraschung bereit, denn ich werde von einem waschechten Sikh begrüsst. Schon der erste Blick im Inneren zeigt eine wunderbare Vermischung von indischer und einheimischer Kultur. Aber im Moment interessiert mich nur eine heisse Dusche und anschliessend etwas zu essen.
Ich erkundige mich bei einem alten Freund, ob er Lust auf ein Bier mit mir hat, leider ist er aber momentan abwesend in den Ferien. Und so esse ich halt allein im Hotel Rössli. Und übrigens – draussen regnet es wie aus Kübeln (nur um die alte Tradition fortzusetzen, den Tag mit einer Regenmeldung zu beenden).
Song zum Thema: Bob Dylan – Idiot Wind
Und hier geht es weiter … nach Siebnen