Es würde mich nicht wundern, wenn die heutige Etappe die schönste der ganzen Wanderung wird.
Es ist acht Uhr morgens, der Himmel ist so blau, wie er sein sollte, der See kräuselt sich im Morgenwind, was kann man von einem gewöhnlichen Samstag mehr erwarten. Das abendliche Tief ist durch viele Stunden tiefen Schlafes verschwunden. Und vor allem – der Weg durch das Lavaux ist ein besonderer Leckerbissen.
La Place du Marché
Nun, das Frühstück muss ich mir wieder mal auswärts organisieren, aber der grosse Platz direkt vor meinem Hotel, la Place du Marché, bietet nicht nur zahlreiche Restaurants und Cafés, nein, heute Samstag ist Markttag, der Platz ist voll belegt mit unzähligen Ständen, die alles, was das Herz begehrt und dem Gaumen mundet, anbieten.
Während ich durch die Stände gehe, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Solche Märkte würde ich mir auch in der Deutschschweiz wünschen. Wo die wunderbaren Düfte in der Luft schweben, wo sich die Leute treffen, schwatzen, einkaufen, fröhlich sind.
Anyway, ich kann mich kaum zurückhalten, muss aber gleichzeitig aufpassen, dass ich meinen Rucksack nicht überlade, denn heute steht eine zwar grossartige, gleichzeitig aber auch sehr lange Etappe vor mir. Ich begnüge mich also lediglich mit frisch duftendem Brot und einigen süssen Verführungen, die aussehen wie Schnecken, aber noch viel besser munden.
Doch bevor ich losziehe, setze ich mich in das nächste Café, bestelle Kaffee und eine wunderbar duftende Brioche und lasse das Leben ringsherum auf mich wirken. Es ist schwierig, sich loszureissen. Man möchte bleiben, den Tag auf diesem Stuhl verbringen, dazwischen vielleicht ein Schwatz mit irgendwelchen Leuten, etwas essen, etwas trinken und einfach das Gefühl spüren, am richtigen Ort zu sein.
Wie erwähnt, die heutige Etappe verspricht Magie.
Eine Genusswanderung durch die steilen Rebberge des Lavaux, die seit 2007 zum Weltkulturerbe der UNESCO gehören. Unterwegs trifft man auf die uralten Winzerdörfer St-Saphorin, Rivaz, Epesses und die schmucken Städtchen Cully und Lutry am Lac Léman.
Länge: 19 km, Aufstieg | Abstieg: 380 m | 440 m, Wanderzeit:,5 h 00 min
Das Lavaux – eine weltberühmte Schönheit
Bevor es richtig losgeht, ein paar Worte zu dem, was mich heute erwartet.
Mit über 800 Hektaren Rebfläche sind die Weinberg-Terrassen des UNESCO-Welterbes Lavaux das grösste zusammenhängende Weinbaugebiet der Schweiz und bietet Terrasse für Terrasse beste Aussichten. Terrassierte Weinberge, unten der Lac Léman, hinten die verschneiten Berge – man braucht etwas Zeit, um diese Landschaft richtig zu geniessen! (Copyright MySwitzerland.com).
Der Weg folgt anfänglich dem Ufer, der Lärm der Stadt bleibt hinter mir zurück, es wird ruhig, nur noch das Plätschern der Wellen, die leise ans Ufer klatschen, begleitet meine Schritte. Etwas später überquert man den Fluss La Veveyse, der sich hier in den See entleert, nicht eben so sauber, wie man sich das von einem Gewässer vorstellt.
Doch dann zweigt der Weg nochmals in die Stadt ab, ich komme an einem stattlichen Gebäude vorbei, Nestlé, wie es scheint, der Nahrungsmittel Gigant, der hier seinen Hauptsitz hat. Es dauert eine Weile und ein paar Kilometer, bis die Eisenbahn unterquert, zahlreiche Strassen überquert und endlich das offene Land erreicht wird. Doch dann, endlich, fängt es an.
Man glaubt, in einer anderen Welt angekommen zu sein.
Durch die Weinbauterrassen
Obwohl die Wege durch die Anbaugebiete durchwegs asphaltiert sind, ist das Gehen ein einziges Vergnügen. Wie könnte es auch anders sein: die Luft ist warm und frisch, der Wind eine zärtliche Umarmung, das Auge trunken durch all die Anblicke rechts und links des Weges.
Man hat den Eindruck, in etwas Vollkommenes geraten zu sein, etwas, was es gar nicht geben kann, denn alles Menschliche ist unvollkommen, wie Fernando Pessoa behauptet.
Ich habe Mühe, alles aufzuzählen, was einfach da ist, als wäre es das Normalste dieser Welt.
Es sind nicht nur die blühenden grünen Terrassen, wo man jetzt schon die reifenden Trauben hängen sehen kann, es ist – besonders heute, als Geschenk an mich und alle anderen Spaziergänger und Wanderer mit dem gleichen Ziel – auch der See, dessen Wellen sanft schaukeln, es ist der Himmel, beinahe wolkenlos, es sind die Berge am anderen Ufer, behängt mit Schleiern aus Wolken, es sind die kleinen Türmchen, die aus stattlichen Häusern ragen, die Dörfer, die alle paar Kilometer zum Trank (am liebsten natürlich zu einem Schluck Chasselas, dem hiesigen Wein) laden …
Wie soll ich morgen die Wanderung fortsetzen, wenn das Schöne bereits vorbei ist?
Weit weg von allem
Manchmal setze ich mich auf eine Steinmauer, knabbere an meinem süssen Teil, dessen Name ich leider nicht weiss, wieder einmal vollkommen bei mir. Wie könnte man auch anders. Wenn jemand inmitten dieser Schönheit seinen Problemen nachgrübelt, hat er tatsächlich ein Problem.
Also in Kürze, ich komme aus dem andächtigen Staunen nicht heraus, lediglich einen Augenblick lang, wenn mich das Geräusch der Autobahn, die oberhalb des Lavaux durchführt, aus meinen Träumereien holt.
Verkaufsstände und Wein, viel Wein
Alle paar Kilometer laden winzige Verkaufsstände, nicht mehr als ein Tisch und eine kleine gedeckte Hütte, zum Kauf des hiesigen Weins ein. Wie bereits erwähnt, der Chasselas ist hier die wichtigste Sorte, die seit Jahrhunderten angebaut wird. Der Wein hat immer noch seine Fans, hat aber in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung verloren.
Nun, ich würde mich gern zu einem Schluck einladen, allerdings ist der Weg bis Lausanne noch sehr weit. Ob ein halbnüchterner Wanderer noch genug Durchhaltevermögen besitzen würde, wage ich zu bezweifeln, deshalb lasse ich es schweren Herzens sein.
Ganz oben auf einem Hügel – man bewegt sich ja permanent auf und ab, ist manchmal in Seenähe, dann wieder ganz auf den oberen Hügeln – befindet sich ein Aussichtspunkt, auf dem ich liebend gern meine Siesta abhalten würde. Aber alle Sitzplätze sind belegt, auch kein Wunder bei diesem prächtigen Wetter. Ganze Heerscharen von Spaziergängern und Wanderern und Bikern sind unterwegs, machen sich gegenseitig den Platz streitig, aber alles geht in gutmütigem Chaos vor sich.
Schiffe und Autos und Häuser und reiche Leute
Manchmal, etwas überraschend und einen Augenblick lang ärgerlich, biegt plötzlich ein Auto um die Ecke, obwohl man meint, auf Wanderwegen zu sein. Aber eben, inmitten der Anbaugebiete befinden sich Häuser, eher Villen, die hier schon seit Urzeiten stehen und nun an die Enkel mit ihren teuren SUVs vererbt worden sind. Hinter getönten Scheiben sitzen attraktive Damen oder ihre ebenso attraktiven Männer und auf den hinteren Sitzen die nächste Generation an attraktiven reichen Leuten.
Tja, so ist die Welt. Man wundert sich etwas, und geht seines Weges. Alles andere wäre Vergeudung wunderbarer Momente.
Dörfer, doch Restaurants sind rar
Alle paar Kilometer wird man von einem Dorf empfangen, manchmal direkt am See, dann wieder auf den Hügeln. Ich bin durstig, verlange nach einem starken Kaffee oder irgendwas, aber die Etablissements wie beispielsweise in Rivaz oder Chexbres sind alle geschlossen.
Das verstehe ich überhaupt nicht, das Welschland hat doch eigentlich den Ruf, sehr kundenfreundlich und dem Trank zugetan zu sein. Aber sei’s drum, ich gehe weiter, das Leben ist auch ohne Kaffee erträglich, vor allem heute. Ich folge dem Chemin du Dezaley, das ist mal ein Wein, dem ich durchaus zugeneigt bin, vor allem zu einem Fondue.
Am Ufer entlang
Nach Epesses (wieder ein Dorf mit einem berühmten Namen) zweigt der Weg zum See hinunter, ich verlasse für den Moment die Weinberge und folge dem Uferweg, mal eine willkommene Abwechslung nach all den Weinreben rechts und links, die nur das Verlangen nach etwas anderem als Hahnenwasser anstacheln.
Schattige Alleen säumen den Wanderweg, die Mittagshitze verzieht sich unter den Bäumen. Manchmal trifft man unerwartet auf knapp bekleidete Leute, die am Ufer sonnenbaden oder sich im Wasser tummeln.
Ein seltsames Zusammentreffen zweier Welten, die in diesem Moment nicht unterschiedlicher sein könnten. Man wirft mir ein paar Blicke zu, man fragt sich wohl, was der komische Wanderer ausgerechnet an diesen Gestaden zu suchen hat.
Aber dann, endlich, ein Restaurant, direkt am See gelegen, sehr voll, ein Gemisch verschiedener Stimmen, Gelächter, Kinder, Babies. Ich lasse mich von der Atmosphäre der Umgebung einlullen, nippe an meinem Kaffee, zurückgelehnt, einfach nur zufrieden, hier zu sein.
Anschliessend folgt der Weg wieder dem See, die Berge auf der französischen Seite scheinen näher gekommen zu sein, vielleicht eine Illusion, ein trompe l’oeil, wie man hier sagen würde. Segelboote lassen sich vom leichten Wind treiben, aber auch kein Wind wäre nicht ein Weltuntergang.
Alte Bäume
Dann plötzlich ein Dorf, Cully, ganz unerwartet, auch wenn mich die Karte längst darauf hingewiesen hat, ein prächtiger Platz direkt am Ufer, Bänke und vor allem ein paar Bäume, die viel zu erzählen hätten, wenn sie denn wollten.
Der eine, ich tippe auf ein Ahorn, wurde 1798 gepflanzt, der andere, dessen Identität ich nicht herausfinde, genau hundert Jahre später.
Die beiden Methusalems strömen trotz ihres fortgeschrittenen Alters unerschütterliche Kraft und Würde aus. Man stelle sich vor, 1798, eigentlich noch mitten in der französischen Revolution, Europa ist im Umbruch begriffen, alles verändert sich, auch die Schweiz.
Und unbeachtet von all den politischen und gesellschaftlichen Wirren wird am Ufer des Genfersees ein Ahornbaum geplanzt, und jetzt, 223 Jahre später, steht der Baum immer noch in all seiner Pracht, während sich die Welt in irrem Tempo weitergedreht hat.
Verrückt und gleichzeitig sehr beruhigend. Es gibt Dinge, die geschehen jenseits von allem.
Die Weinberge zum letzten Mal
Der Weg führt durchs Dorf, dann zweigt er erneut ab in die Weinberge, nochmaliges Vergnügen, doch es sind nun definitiv die letzten Kilometer, bevor es dann endgültig zurück zum See geht.
Bisweilen fühle ich mich, ich weiss nicht warum, von einem Gefühl des Nichtdazugehörens berührt. Ich bin ein Fremder, jemand, der kurz da ist und gleich wieder verschwindet. Man bietet mir Schönheit, ein Geschenk an den Fremden, der geniesst, staunt und nach kurzer Zeit wieder loslassen muss.
Ich weiss nicht, warum diese Gefühle entstehen, ausgerechnet an einem Tag, der so voll von allem ist. Vielleicht ist es die Ahnung des Verlusts, der sich immer dann einstellt, wenn etwas da ist, das zum Verschwinden oder Vergessen verdammt ist.
Seltsame Gedanken. Ich verstehe sie selbst nicht.
Zugängliche Ufer
Wenn ich an den Zürichsee denke, an all die Abschnitte, die als privat deklariert und somit für das gemeine Publikum unzugänglich sind, dann fühle ich mich hier in einer anderen Welt. Ich habe keinen einzigen Meter gesehen, der für die Öffentlichkeit gesperrt ist. Das sollte sich unsere bürgerliche Mehrheit mal zu Herzen nehmen.
Das Ziel kommt näher
Die Dörfer werden dichter, beinahe nicht mehr voneinander unterscheidbar, Lausanne, das heutige Tagesziel ist nahe. Ich geniesse ein letztes Mal die Sicht auf den See, blicke den sich langsam entfernenden Schiffen hinterher, und bin trotzdem froh, dass es nicht mehr weit geht.
Aber dann, ich atme durch, Lausanne, zuerst Lutry, dann Pully und schliesslich Ouchy, wo die heutige Etappe endet.
Allerdings ist mein Weg noch nicht ganz beendet, denn mein Hotel liegt doch noch einige Distanz entfernt. Nach einigem Hin und Her entschliesse ich mich, den Weg zum Hotel zu Fuss zu gehen, eine ziemlich idiotische Entscheidung. Was ich nämlich nicht beachtet habe, ist die Tatsache, dass Lausanne an einem Hügel liegt, ergo muss ich den weiten Weg, notabene nach über 8 Stunden, den Hang hinauf gehen. Ich könnte mich verfluchen, aber so ist es nun mal.
Keuchend und ziemlich am Ende meiner Kräfte erreiche ich schliesslich das Hotel Ibis, checke ein, dusche, suche ein Restaurant und lehne mich vor einem Teller Pasta zurück, müde und zufrieden und sehr sehr glücklich …
Song zum Thema: Ladytron – Beauty
Und hier geht die Reise weiter … nach Etoy