Meine Befürchtung hat sich bestätigt – beim Aufwachen dröhnt mein Kopf wie eine alte Kirchenglocke. Elendes Schlafmittel! Es hat mich zwar ein paar Stunden in einen bewusstlosen Zustand befördert, aber das ist auch schon alles, was man positiv dazu sagen kann.
Nun denn, mit wenig euphorischen Gefühlen wanke ich zum Frühstück, schaue mich um, alles alte Leute, viele Ehepaare, ergraut und erstummt, sitzen an ihren Tischen, in ihren Tellern stochernd. Immer, wenn ich sie sehe, denke ich an die Leben, die hinter ihnen liegen. Harte Arbeit, viel Mühsal, aber wer weiss, vielleicht auch ein Leben voller Freude. Niemand kann das wissen, und das ist auch gut so.
Plan B
Währenddessen checke ich nochmals das Wetter, vor dem Fenster und auf der Wetter-App. Nicht gut. Weitere schwere Gewitter sind für heute genau für diese Gegend angesagt. Plan B muss her. Denn ein ziemlich anspruchsvoller Tag liegt an. Den Grat hinauf zum Kronberg, dann auf der anderen Seite in Richtung Schwägalp zur Chamhaldenhütte.
Länge: 16 km, Aufstieg | Abstieg: 1150 m | 580 m, Wanderzeit: 5 h 30 min
Da ich keine Lust habe, im mondänen Hotel auf der Schwägalp zu übernachten, habe ich mir eine Alternative gesucht, und in der SAC Chamhaldenhütte eine Lösung gefunden. Sie hat zwei Vorteile: erstens eine alternative Übernachtungsmöglichkeit, und zweitens eine Verkürzung der Etappe 3 (was natürlich zu einer Verlängerung von Etappe 4 führt, aber das ist alles durchgerechnet, das klappt).
Ich habe immer noch keine Lust, auf dem Grat zum Kronberg zu wandern, wenn ich dauernd von Blitz und Donner heimgesucht werde, also muss wetterbedingt eine weitere Option gefunden werden. Die notwendige Flexibilität im Anpassen von Routen habe ich mir auf meinen Reisen angewöhnt. Man muss schnell und entschieden reagieren, entscheiden und durchziehen.
Genau das habe ich für heute vor. Warum nicht nach Urnäsch wandern (so wie es die alte Route vorsah), und dann ab Urnäsch das Postauto bis zur Schwägalp und anschliessend den Weg auf dem 3-er zurück zur Hütte. Klingt doch gut.
Der Weg nach Urnäsch
Ich gehe davon aus, dass ich in der Hütte keine Wlan Verbindung haben werde, ich muss also meinen täglichen Russischkurs auf Duolingo möglichst noch vor dem Abmarsch durchführen (seit 2 Jahren plane ich ja mit der Transib nach Peking oder Wladiwostok zu fahren, deshalb meine Bemühungen um die russische Sprache). Mit leichterem Kopf (das Morgenessen tut immer seine positive Wirkung) arbeite ich ein paar Minuten ein Thema durch und bin froh, den Streak behalten zu können (einen Streak bezeichnet man im Duolingo Kontext als eine ununterbrochene Serie von Tagen, an denen eine Sprache geübt wird; fehlt ein Tag, geht der Streak auf Null zurück). Поздравляю, мой друг!
Und so verlasse ich Appenzell, es hat mir gut gefallen, ich werde sicher irgendwann zurückkehren. Der Himmel kann gar nicht grauer und unappetlicher aussehen, als er es heute Morgen tut, es riecht nach weiterem Regen, die Strassen sind nass und die Menschen schlechter Laune. Es geht nun also via Gonten in Richtung von Urnäsch.
Wie erwartet beginnt es kurz nach dem Abmarsch zu regnen, aber ich bin vorbereitet und lege den Regenponcho um. Das knallrote Ding ist garantiert 40 Jahre alt, mit allerhand Erfahrungen von zahlreichen Wanderungen und Trecks in Nepal und Ladakh und auf dem Kilimandscharo. Es sieht langsam ein bisschen derangiert aus, so wie der Träger, hat Falten und Risse und riecht irgendwie seltsam.
Ich trotze dem Regen
Eigentlich muss ich zugeben, dass ich das Wandern im Regen – natürlich mit dem entsprechenden Schutzmaterial – liebe. Es vermittelt ein Gefühl der Geborgenheit, während die Regentropfen auf den Kopf prasseln und der Wind die Hosenbeine flattern lässt.
Was ich weniger schätze, sind die Ausflüge ins tropfnasse Gras, das der Wanderweg nun des öfteren befiehlt. In schönem Wetter etwas Wunderbares, bei Regen eher eine Belästigung, geht doch der Weg unweit der Strasse entlang, um sich über kurz oder lang wieder mit ihm zu vereinen. Schuhe und Gamaschen sind total durchnässt, immerhin scheinen meine Wanderschuhe dicht zu sein. Zumindest für den Moment.
Es ist eine recht merkwürdige Gegend, durch das schlechte Wetter noch düsterer erscheinend. Der Nebel klebt auf den Hängen, verleiht den dahinter liegenden Berge einen geisterhaften Umhang. Die Häuser und Ställe auf dem Weg scheinen in der Distanz auf, kaum sichtbar, nur Silhouetten im Dunst, dann kommen sie näher, erhalten Form und Farbe und verschwinden hinter mir im Nebel.
Überraschend – eine Seilbahn zum Kronberg
Gonten liegt unter dem Wanderweg, ein kurzes Stück durch das wie verlassen und still scheinende Dorf, dann bleibt es hinter mir zurück, eine kurzfristige Fatamorgana. Die Gegend muss wider Erwarten doch eine touristische Anziehungskraft haben, denn immer wieder passiere ich Zeltplätze und einmal sogar einen riesigen Spielplatz.
Vielleicht trägt der Barfussweg dazu bei. Er führt einen Teil der Strecke dem Wanderweg entlang, doch Barfusswanderer sind selten bzw. nicht vorhanden. Einige Hündeler kreuzen meinen Weg, der Blick auf ihre Füsse vermag nur dicke Schuhe und Stiefel zu entdecken. Wahrscheinlich ist Barfusslaufen eher für besseres Wetter gedacht.
Und dann, wirklich überrachend, denn auf der Karte habe ich nichts Derartiges gesehen, taucht in Jakobsbad die Talstation einer Luftseilbahn auf, die auf den Gipfel des Kronbergs führt. Halleluah! Das ist eine überraschende Möglichkeit, die heutige Tour doch noch zu einem vernünftigen Ende zu bringen.
Gedacht, getan, in wenigen Minuten stehe ich mit einigen anderen vom Wetter Unbeeindruckten in der Kabine und sehe das düstere Tal unter mir verschwinden, während wir hinauf zum schwarzen Himmel steigen. Vom Berg ist nichts zu sehen.
Ein weiteres Kapitel meiner Orientierungsqualitäten
Der Berg ist einsam und scheint, mit Ausnahme einiger Touristen, verlassen und allein. Immerhin hat es aufgehört zu regnen, und so mache ich mich den steilen Weg hinunter in Richtung Chamhaldenhütte. ich bin zeitlich gut unterwegs, fast ein bisschen stolz, dass ich mich trotz fehlendem Nachtschlaf körperlich topfit fühle.
Ein junges Paar, er asiatisch erscheinend und sehr gelangweilt, kreuzt ein paar Mal meine Wege, sie hasten schweigend an mir vorbei, während ich unter einem Baum picknicke.
Kurze Zeit später führt der Weg in einen dichten Wald, der Pfad wird mühsam, steil, nass und glitschig, und man muss höllisch aufpassen. Bei einer kleinen Brücke schauen ein paar Wanderer auf mich herunter, während ich mich hochquäle, nicken mir zu und gehen nach rechts ab. Eine dicke Buche versperrt den Weg, ich folge den Männern über die Brücke.
Der Weg wird immer schlimmer, Wegweiser sind keine mehr da, es ist kalt und düster, und ich bin froh, den Wald endlich verlassen zu können. Die vier Männer sind auf dem Aufstieg, ich folge ihnen. Es dauert keine fünf Minuten, bis sie keuchend und irgendwie komisch blickend an mir vorbeihetzen, den Weg zurück.
Kopfschüttelnd gehe ich weiter, bis zu einem Wegweiser. Er weist mir die Richtung zum … Kronberg. Ich starre einen Moment lang verständnislos um mich, bis ich endlich begreife, warum die Männer in entgegengesetzter Richtung an mir vorbei gehetzt sind. Irgendwo im Wald, ich ahne wo, habe ich wie die Männer ungeachtet den Weg zurück eingeschlagen.
Und jetzt beginnt es erst richtig zu pissen.
Entsetzlich fluchend gehe ich den Weg zurück, bis zur elenden Brücke. Und nun erkenne ich den Fehler. Die dicke Buche hat den Blick auf den richtigen Weg versperrt. Wenn man um sie herumgeht, erkennt man sofort, in welcher Richtung es weitergeht.
Und tatsächlich, es ist nicht sehr weit bis zur Hütte, ohne den Fehler hätte ich es problemlos ohne Regen ins Trockene geschafft. Aber Gott straft sofort, und so pretscht nun ein Gewitter auf mich nieder, dass es mich beinahe aus den Schuhen haut. Der Sturm bläst von allen Seiten, vor allem horizontal, peitscht mir das Wasser ins Gesicht, durchnässt Hosen und Ärmel.
Die Chamhaldenhütte vor Augen kämpfe ich mich schwer atmend den Abhang hinauf, und lasse mich in der Sicherheit und Trockenheit des Vorraums erschöpft auf den erstbesten Stuhl fallen.
Was für ein Idiot ich doch bin!
Aber die Hütte ist Klasse
Offenbar bin ich der einzige Gast, man begrüsst mich herzlich, weist mir ein Bett im riesigen Schlafgemach zu, es wird eine ziemlich einsame Nacht werden. Allerdings dafür auch ohne Schnarcher und andere Störenfriede.
Es bleibt nass, kein gutes Omen für morgen.
Ausser dem Hüttenpersonal, bestehend aus zwei Damen, sind ihre Angehörigen zu Besuch, so dass sich beim Nachtessen doch eine stattliche Zahl einfindet. Ich bin Gast im familiären Kreis, es wird angesichts der leeren Wein- und Bierflaschen immer lustiger, bis endlich um beinahe 23 Uhr Feierabend schlägt.
Es ist kalt geworden, draussen und auch im Schlafraum. Ein paar Decken umhüllen meinen seidenen Schlafsack wie ein Kokon, und so dauert es nicht lange, bis ich in einen wohligen Schlaf hinüberdämmere. Draussen regnet es in Strömen …
Song zum Thema: Albert Lee & Jimmy Page: Everything I do is wrong
Und hier geht die Wanderung weiter … nach Stein im Toggenburg