Die Nacht ist weiss vom Schnee. Dicke, fette Flocken fallen vom Himmel, vom Wind sanft hin und her gewiegt. Ich habe mich mitten in der Nacht nach draussen gewagt, starre in den schwarzen Himmel, für den winzigen Bruchteil einer Sekunde spüre ich das sanfte Streicheln der Schneeflocken auf meinem Gesicht, wie kleine kalte Finger von Geistern. 

Wir sind nicht mehr überrascht, dass auch diese Nacht kalt ist, ich meine kalt, so richtig kalt. Der frühe Morgen hat sich ein eiskaltes, steinhart gefrorenes Kleid übergelegt. Daran gemessen können bestenfalls die Nächte in Kabul mithalten. Kein Grund zur Klage, wir sind in der Zwischenzeit abgehärtet. Allerdings ist bekannt, dass sich kalte Nächte irgendwann in der Zukunft als böse rheumatische Beschwerden melden werden. Aber wer kümmert sich schon um die Zukunft? Sie ist ein fernes Phantom.

Auf der positiven Seite kann aber vermeldet werden, dass die Strasse ganz ordentlich aussieht, auf jeden Fall schneefrei und trocken. Allerdings wehen vom Gebäude der Highway-Police leise Lacher herüber. Gelten sie uns? Wissen sie mehr über das, was der Tag bereithält? Wir werden sehen …

Der Norden ruft

Also wagen wir uns mit gemischten Gefühlen hinaus ins Ungewisse, der Blick zum Himmel zeigt allerdings wieder erste Anzeichen unliebsamer Entwicklungen, so in der Richtung von Dunkelheit, Regen, Schnee und andern Strafen Gottes.

Immerhin kommen wir ziemlich gut vorwärts, man ist ja schnell zufrieden. Der Norden ruft, ob er uns willkommen heisst, ist unabsehbar. Alles geht gut bis zu einem kleinen Pass gut 100km vor Täbris. In der Wetterprognose würde es heissen „starker Schneefall bis in die Niederungen“.

Die Scheibenwischer sind machtlos gegen die Sturzflut vom Himmel, ein kurzer, aber schmerzlicher Hinweis vom Wettergott, dass er unsere Schmähungen nicht vergessen hat. Doch damit scheint er seine Rache zur Genüge genossen zu haben, denn er stoppt den Schneefall und überrascht uns mit Sonnenschein.

Von Zandschan nach Täbris

Bye-bye Iran

Es ist wieder 3 Uhr nachmittags, diesmal aber nach türkischer Zeit, was bedeutet, dass wir den letzten Abschnitt auf iranischem Boden hinter uns gebracht haben. Kein Wunder werfen wir nur einen kurzen, aber nachdenklichen Blick zurück.

Hat uns das Land gefallen? Hat es uns die Augen geöffnet? Schwierig zu sagen. Ein neues, unbekanntes Land mit allen positiven und negativen Überraschungen, die jedes neue Land bereithält. Lange Fahrten durch verträumte Wüsten und Einöden, bemerkenswerte Städte, einige unerträglich, andere einfach nur schön. Klimatische Verhältnisse jeder Art, von lähmender Hitze bis knochentiefer Kälte und Schnee. Und ja die Menschen, manche freundlich und interessiert, andere nur abweisend und aggressiv. Aber so ist es halt, wir sind lediglich Gäste. Kein Grund, sich zu beschweren.

Und doch – der bedingunslose Kampf des Landes (des Schahs?), den wirtschaftlichen Anschluss zu schaffen, koste es, was es wolle, führt zu Verwerfungen. Viele Menschen bleiben auf der Strecke. Der Aufschwung bringt wenigen viel und ganz vielen nichts. Das macht sich bemerkbar.

[Und ja, die nächsten Jahre werden genau diese Ahnungen bestätigen.]

Chaos am Zoll

Aber jetzt, an der iranisch-türkischen Grenze, herrscht pures Chaos. Staub, Lärm, Hupen, die Luft erfüllt von Dieselschwaden, von allerlei undefinierbaren Gerüchen, von Kälte und frierenden Menschen. Wir stehen zwar auf der türkischen Seite der Grenze, eingekeilt von hunderten von Lastwagen, die wie auf der Hinfahrt auf die Abfertigung warten.

Sie müssen sich teilweise während Tagen gedulden, die Frustration ist hoch, zur ewigen Warterei kommt die winterliche Kälte, die alles noch unerträglicher macht. Auf der anderen Seite der Grenze sieht es gleich aus, kilometerlange Schlangen von Lastwagen aus aller Herren Länder.

Wir haben Glück. Als Tourist darf man an den Kolonnen vorbeifahren. Nicht auszudenken, wenn wir wie die Lastwagen tagelang warten müssten. Wir winken ihnen beim Vorbeifahren zu, ihr Blick ist grimmig, resigniert. Sie ergeben sich dem unabwendbaren Schicksal. Wir übernachten in der Nähe, ruhiger als befürchtet, auch wenn das Brüllen der Motoren den Wagen gelegentlich zum Zittern bringt.

Fuck Tahir

Eigentlich würde die Strecke nun wieder zurück über den Tahir führen. Wir haben weiss Gott keine guten Erinnerungen an ihn. Er soll zwar nach einigermassen zuverlässigen Aussagen schneefrei sein, aber alles andere als gut zu befahren. Der Ausspruch eines Lastwagenfahrers sagt alles: „Völlig beschissen!“

Also verlassen wir nach Doğubeyazıt die Route über den Tahir und biegen in Richtung Norden ab, die zwar etwas weiter, dafür angenehmer zu befahren sein soll. Allerdings werden wir durch eine miserable Naturstrasse begrüsst, die allerhand Ungutes befürchten lässt.

Doch das Glück ist uns für einmal hold: die Naturstrasse verwandelt sich schon bald in eine harmlose, erstaunlich breite Strasse, für einmal beinahe ohne Löcher und Staub. Nach knapp 40km geht sie sogar in eine gute Asphaltstrasse über, obwohl der Winter auch hier tiefe Löcher in die Decke gerissen hat.

Gelegentlich ein Halt, es gibt nicht viel zu sehen, auch heute gilt es einfach, die Strecke hinter uns zu bringen. Die Gegend ist typisch Osttürkei – düster, abweisend, ohne Farben, ohne Leben. Man möchte permanent das Gaspedal drücken, um möglichst schnell vorwärts zu kommen. Man fragt sich nicht zum ersten Mal, wie man hier leben kann.

Wir erreichen die Originalroute und nach kurzer Zeit auch Erzurum, das aussieht wie am Nordpol gelegen. Die Temperaturen dürften neue Tiefpunkte erreichen, also sind weitere frostige Nächte zu erwarten. Kein Ort zum Verweilen, wir beschliessen, nach Erzincan zu fahren.

Von Doğubeyazıt via Erzurum nach Erzincan

Eine Nacht ohne Eisblumen

Man kann es kaum glauben, wir sind ja immer noch in der Osttürkei – bekannt für arktische Temperaturen – und trotzdem war die vergangene Nacht weniger kalt als befürchtet.

Also eine Nacht ohne klamm gefrorene Zehen, ohne Dauerschlottern, ohne Eisblumen an den Fenstern. Mit viel Mühe haben wir hoffentlich das Schlimmste hinter uns gelassen. Irgendwo in diesem riesigen Land muss es Gegenden geben, die uns willkommen heissen, nicht so wie hier. Es führt uns wieder einmal vor Augen, wie sehr das Klima Landschaft und Menschen beeinflusst, wie es sie verändert, hart und abweisend gestaltet. Es ist nicht ihr Fehler.

Es kann uns nichts mehr erschüttern

In einem Anflug von Hochmut (nichts Neues unter der Sonne) beschliessen wir, die nächste Etappe bis Göreme durchzufahren. Das sind zwar erneut über 500km, aber eben, unsere Reise ist längst zu einer Art Flucht geworden. Seit Peshawar, eine Ewigkeit her, sind wir sozusagen dauernd am Frieren. Das muss ein Ende haben, und so hoffen wir auf die türkische Südküste, die uns mit Frühling und Wärme beschenken soll.

Nun gut, die Strassenverhältnis bis Sivas sind ordentlich gut, auch wenn der Winter auch hier die Asphaltdecke mit Löchern gesprenkelt hat. Aber nach tausenden von Kilometern auf weiss der Henker für schlechten Strassen kann uns nichts mehr erschüttern. Trotzdem hoffen wir wieder mal auf die Gnade unseres besonderen Freundes, des Wettergottes, dessen Schmähungen er hoffentlich in der Zwischenzeit vergessen hat.

Steine fliegen

Links und rechts der Strasse erinnern grau gewordene, hässliche Schneefelder an die Mühsal des vergangenen Winters. In Sivas biegen wir gegen Süden ab, Kayseri wird das nächste Ziel sein. Ein paar verstreute, schwarze Schafe versuchen, dem Boden etwas Geniessbares zu entlocken.

Der Leser wird sich vielleicht erinnern, dass wir zum Schutz gegen die Steine werfenden Jugendlichen in der Osttürkei ein spezielles Gitter zum Schutz der Frontscheibe erstellen liessen. Auf dem Dach befestigt, ist es jedoch nie zum Einsatz gekommen.

Heute hätten wir es brauchen können. Unterhalb eines steilen Abhangs fliegt ein grosser Stein und klatscht gegen die Scheibe. Vielleicht ist es der tagelange Stress, vielleicht die Überraschung, auf jeden Fall bin ich in Sekundenschnelle aus dem Wagen, sehe eben noch den Übeltäter, einen Jugendlichen von vielleicht zwölf Jahren, auf der Kuppe verschwinden.

Es entwickelt sich nun eine Verfolgungsjagd den Hang hinauf, bis ein kleines heruntergekommenes Haus auftaucht. Und so stehe ich schliesslich schwer atmend vor einer Frau und versuche ihr zu erklären, was geschehen ist. Ihr erschrecktes Gesicht lässt meinen Ärger allerdings so schnell verfliegen, wie er gekommen ist.

Kann man es ihnen verübeln? Da fahren irgendwelche Leute, wahrscheinlich mit viel Geld, durch die Gegend und haben nicht die geringste Ahnung von den Menschen und ihrem Leben in dieser rauen Gegend. Die Menschen hier wissen instinktiv, dass wir sie verachten, dass wir uns haushoch über ihnen fühlen. Ich würde vielleicht auch Steine werfen.

Der Salzsee

Die Strasse wird wieder schlechter, und als freundliche Zugabe weht nun ein starker Ostwind, der uns zeitweise beinahe von der Strasse fegt. Ein Pass folgt, über den eine unbeschreiblich schlechte Route folgt, sogar eine Naturstrasse würde sich beleidigt fühlen.

Nach gut 50km wird sie zwar wieder besser, dafür legt der Wind, der sich nun zu einem veritablen Sturm entwickelt hat, noch einen Schippe zu und zwingt mich, das Steuer konstant um eine Vierteldrehung einzuschlagen. Wenn das bloss gut geht.

Vor der Abzweigung nach Göreme, der Sturm ist noch stärker geworden, peitscht den Sand zu meterhohen Fontänen auf. Es gibt nun nichts mehr ausser uns, dem Sturm und einer endlosen, leblosen Einöde. Andere Autos sind selten geworden, sogar die unvermeidlichen Lastwagen haben sich irgendwohin verzogen. Man fühlt sich gleich ein bisschen allein gelassen.

Dann aber geschieht etwas Erstaunliches. Aus dem Nichts taucht unversehens eine blendend weisse Fläche auf, undurchdringlich, unheimlich, furchterregend, bedrohlich.

Während tausenden von Jahren hat sich hier Salz angesammelt und bildet nun mit dem Wasser einen See oder wohl eher einen Sumpf, mörderisch für alles Leben, stellenweise mit fester Oberfläche, aber man darf ihr nicht trauen. Wir wagen uns nur ein paar vorsichtige Schritte hinaus.

[Viele Jahre später stehe ich auf einem noch viel grösseren Salzsee, dem berühmten Salzsee von Uyuni in Bolivien und erinnere mich an den heutigen Tag.]

Göreme

Manchmal könnte der Eindruck entstehen, dass wir von einem UNESCO-Welterbe zum nächsten reisen. Göreme ist eines davon. Der Nationalpark Göreme, der zusammen mit anderen Felsendenkmalen von Kappadokien seit 1985 zum UNESCO-Welterbe gehört, wird geprägt duch die Landschaft um Göreme, die markanten Tuffsteinformationen, die teilweise ausgehöhlt sind.

Wir waren vor zwei Jahren schon einmal hier, vieles haben wir bereits vergessen. So geht das mit der Erinnerung. Sie ist ein zwiespältiges Wesen, das seine eigene Logik besitzt und dem man nicht trauen darf. Manch Unwichtiges bleibt im Vordergrund, anderes, vielleicht Wichtigeres, verschwindet in einer dunklen Kammer des Gedächtnisses. Nichts rüttelt einen ehrbaren Traveller mehr auf als dieses Scheitern. Auf jeden Fall weist es mich darauf hin, das Niederschreiben unserer Erlebnisse nicht zu vernachlässigen.

Da kommt doch gleich der Gedanke auf, was und wieviel wir in ein paar Jahren über unseren Ausflug ins Ungewisse noch wissen werden. Tja, leben heisst offenbar vergessen.

Wie auch immer, das Wiedersehen mit den seltsam durchlöcherten Felsen lohnt sich auf jeden Fall.

 

Das Dorf ist im Vergleich zu den vergangenen Tagen, den Wüsten und Einöden, ein Garten Eden. Schmale Strassen gesäumt von blühenden Bäumen, grünen Wiesen und sprudelnden Bächen. Die Menschen sind freundlich wie schon lange nicht mehr, vielleicht es Touristen-Freundlichkeit, vielleicht echt.

Kurz – ein Genuss!

Wir übernachten kurzentschlossen vor den Pforten zum eigentlichen Göremetal, umgeben von bizarren Felsformationen und einer undurchdringlichen Stille, die nur gelegentlich durch das Heulen des Windes sanft unterbrochen wird.

 

Passender Song von 1975:  Fleetwood Mac – World Turning

Und hier geht der Trail weiter … der Wärme zu

 

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