Man geht immer mit einem lachenden Auge und mit einem weinenden Auge.
(Sprichwort, Autor unbekannt)
Das bleiernde Ende
Wie soll manden letzten Tag verbringen?
Nochmals den irren, einem LSD-Trip ähnlichen Spaziergang durch diese verrückte Stadt machen?
Zum letzten Mal die Lungen mit Dreck und Abgasen füttern?
Im liebgewonnenen Restaurant zum letzten Mal Chicken Momos geniessen?
Im anderen den letzten wirklich guten Kaffee trinken und dabei eine Danish Roll essen?
Nochmals den Durbar Square umrunden und die wieder aufgebauten oder noch immer in Trümmer liegenden Tempel besichtigen?
Das infernalische Gewühl in Thamel beobachten, wissend, dass es das letze Mal sein wird?
Alles zusammen. Das ist der Plan.
Das alles gehört zum Abschied.
Thamel – der letzte Ritt auf dem Mustang
Dann also auf zum letzten Ritt auf dem wilden Ross, genannt Thamel. Es scheint mir, dass ich es zum ersten Mal geniesse, durch die schmalen Gassen zu gehen, alle paar Augenblicke beinahe über- oder umgefahren zu werden (was in Tat und Wahrheit nie passiert), von hundert Stimmen aufgefordert zu werden, dieses oder jenes Ding zu einem fabulösen Preis erstehen zu können. Und die sagenhaft schlechte Luft einzuatmen.
Ich habe es besiegt, dieses Monstrum.
Vielleicht hängt es damit zusammen, dass man sich langsam kennt. Die gelangweilten Verkäufer nicken mir zu, obwohl sie wissen, dass ich nichts kaufen werde. Aber ein freundliches Lächeln ist noch immer der beste Türöffner für gegenseitiges Kennenlernen.
Die Dame in meinem Lieblingsrestaurant begrüsst mich nach der langen Abwesenheit mit einem Lächeln. „Welcome back!“, murmelt sie. Ich bin ganz gerührt. Ob es was mit meinen im Allgemeinen grosszügigen Tipps zu tun hat?
Anyway, es stellt sich tatsächlich so etwas wie ein heimatliches Gefühl ein. Und das ausgerechnet an meinem letzten Tag.
Durbar Square – Tempel und Ruinen
Beim zweiten Besuch zeigen sich die wahren Schäden, die das Erdbeben zurückgelassen hat. Einzelne Tempel erstrahlen zwar wieder in altem Glanz, andere liegen immer noch in Trümmern oder müssen abgestützt werden.
Tempel beim Durbar Square – dieser ist wieder restauriert wordenAuf den ersten Blick alles okayHöchstens ein bisschen schräg …… oder immer noch in Trümmern
„There ain’t no such thing as a free lunch.“
Was mir zu denken gibt, sind die Tempel hinter riesigen Gerüsten, die offensichtlich durch chinesische Unterstützung wieder aufgebaut werden. Da kommt mir doch gleich der alte Spruch in den Sinn, der die Sache ziemlich genau beschreibt.
Aber lassen wir das.
Herzzerreissende Blicke
Die Plätze rings um den Square sind voller Touristen, und so sind da natürlich auch zahlreiche Verkaufsstände, die alles, was in Thamels Gassen angeboten wird, natürlich auch hier anbieten, allerdings zu viel höheren Preisen. Es scheint aber einige Verzweifllung zu herrschen, denn man wird als unschuldiger Fussgänger fast genötigt, zumindest einen Blick auf die Gegenstände zu werfen. Eine abschlägige Antwort verursacht einen herzzerreissenden Blick …
Auf den ersten Blick eine unendliche Anzahl wunderbarer Gegenstände, jeder ein Souvenir wertAuf den zweiten Blick immer das gleiche …
Der Weg zurück ist langsam, nachdenklich.
Das war’s also wiedermal. Morgen früh wartet ein Taxi auf mich und meine schweren Rucksäcke, und kurze Zeit später das Flugzeug Richtung Katar. Ich verabschiede mich, im Geist fühlend wie einer der bemalten Götter, deren Gesichtsausdruck irgendwas zwischen Lachen und Weinen ausdrückt.
Lacht er oder weint er?
24 Stunden später …
Ich sitze wieder mal am Flughafen in Doha, müde und gelangweilt, und muss trotzdem noch viele Stunden an diesem gottverlassenen Ort verbringen, bis endlich mein Weiterflug um 2 Uhr morgens startet. Bis dahin Netflix, Lesen, Dösen, Kaffee trinken und einen letzten Blick auf die Skyline von Doha im Abendlicht werfen.
Ein wunderbares letztes Bild dieser wunderbaren, unvergesslichen Reise …
Die Nacht fällt über Doha
Das ist nicht das Ende …
Natürlich nicht. Es ist schlimmstenfalls das Ende dieser einen Reise. Es geht weiter, immer weiter. So viele weisse Flecken auf der Landkarte. Und so viele erkundigt (Asien und Amerika). Nach all den wunderbaren Erlebnissen in Burma, in Südostasien, Südamerika, Ladakh und Rajasthan, Indien, Laos … ist der Reisevirus immer noch aktiv. Er soll so bleiben …
Neue Ideen melden sich … Die Fahrt mit der Transsibirischen Bahn nach Peking. Der alternative Jakobsweg von Sevilla nach Santiago de Compostela. Namibia. Japan …
Der Kreis hat sich geschlossen, ich bin zurück in Kathmandu. Also wieder schlechte Luft, schlimmster Verkehr, Lungen wie ein Kettenraucher.
Und trotzdem fühlt es sich an wie eine Heimkehr.
Ein paar Stunden früher
Mit Chitwan lasse ich Ruhe hinter mir. Stille. Natur. Den Platz, wo ich mich wohlgefühlt habe. Trotz einigen Erkenntnissen, die nicht zu innerem Frieden geführt haben. Aber es muss sein. Kathmandu, die letzten Tage.
Ich nehme also wieder einmal Abschied. Besteige den tausendsten Bus, schaue mir zum millionsten Mal die vorbeihuschende Welt an, bin verwundert, aufgeregt, neugierig. Aber auch etwas müde.
Die Fahrt ist lang, wir fahren den gleichen Weg zurück, wieder durch die Berge, dem Fluss entlang, erreichen am Nachmittag Kathmandu, der Lärmpegel steigt, in gleichem Mass wie die Luftqualität abnimmt. Dann bin ich im Hotel, ein neues, packe auch zum tausendsten Mal aus, strecke mich müde auf dem Bett aus, starre lange an die fleckige Decke.
Der Weg nach Bodnath
Doch ungeachtet der inneren Unruhe bleiben ein paar Sehenswürdigkeiten übrig, die ich mir nicht entgehen lassen will.
Da ist einmal Bodnath. Eigentlich ein Vorort von Kathmandu, aber vor allem bekannt und berühmt für eine der heiligsten Stätten des tibetischen Buddhismus.
Und natürlich Pashupatinath. Ebenso heilig, aber für die Hindus.
Der ältere freundliche Mann in der Hotel-Reception fragt mich nach meinen Tageszielen. Als ich ihm von Bodnath und Pashupatinath erzähle, nickt er zustimmend, doch die Absicht, zu Fuss dorthin zu gelangen, löst mitleidiges Kopfschütteln aus.
Eine Stunde später ist klar, was er gemeint hat.
Ich habe mir mal wieder etwas vorgenommen, was ich früher oder später bereuen werde.
Es beginnt ganz harmlos. Sobald man Thamel verlässt, zeigt sich ein anderes Kathmandu, städtisch, beinahe geordnet, mit breiten Strassen und Trottoirs. Man atmet unwillkürlich auf und stellt sich die nächsten Kilometer ähnlich vor.
Kathmandu – laut und dreckig und gefährlich für die Fussgänger
Das trifft auch eine gute Stunde zu. Natürlich ist der Verkehr dicht und laut und unangenehm, aber im Vergleich zum Höllenpfuhl Thamel beinahe paradiesisch. Das ändert sich aber schlagartig, sobald man in die Aussenquartiere gelangt. Die Strassen sind nun eher Gassen, eng, löchrig, staubig, ein Auto hinter dem anderen . Die Aussicht auf ruhigere Aussenbezirke mit wenig Verkehr und grünen Flächen entpuppt sich als Schimäre.
Vor mir staksen ein paar Schulmädchen in ihren properen Uniformen der Strasse entlang, und ich stelle mir vor, dass sie diesen Weg durch schlechte Luft und der permanenten Gefahr, umgefahren zu werden, jeden verdammten Tag gehen müssen. Die Statistik zeigt: es sterben sehr viele Einwohner an Lungenkrebs. Es wundert mich nicht.
Ich stelle mir vor, wie es sich für die Bronchien und Lungen anfühlen muss. Oder nein – ich stelle es mir lieber nicht vor.
Bodnath
Aber es wird nicht besser, es wird schlimmer, viel schlimmer. Die Strassen, die von ausserhalb in die Stadt führen, werden zwar wieder breiter, dafür der Verkehrsstrom dichter. Es gibt keinen Asphalt mehr, nur noch Staub und Dreck. Und Pfützen voller Wasser, die man umgehen muss, während Motorräder und Autos und Busse daneben durchrasen.
Irgendwann wird auch das Schlimmste zur GewohnheitEin Gewirr von Stromkabeln
Der Stupa
Aber da taucht endlich der riesige Stupa auf, zwischen den Hausdächern herausragend. Mit einer Höhe von 36 Metern gehört er zu den größten seiner Art.
Bekannt ist Bodnath wegen des großen Stupa, der seit Jahrhunderten eines der bedeutendsten Ziele buddhistischer Pilger aus Nepal und den umliegenden Regionen des Himalaya ist. Seit dem Jahr 1959 haben sich in der unmittelbaren Umgebung des Stupa zahlreiche geflohene Tibeter angesiedelt. Der Cini-Lama, der dritthöchste Würdenträger der Tibeter nach dem Dalai Lama und dem Panchen Lama, residiert in Bodnath.
Die Entstehung des mit ca. 36 m Höhe einer der größten Stupas seiner Art geht der Überlieferung nach zurück auf die Licchavi-Könige des 5. Jahrhunderts. Im Mittelalter hatte er so gut wie keine Bedeutung, da der Buddhismus aus dem Alltagsleben der Inder und Nepalesen verschwunden war. Erst mit der Zuwanderung zahlreicher Tibeter ins Kathmandu-Tal erlangte er wieder viel von seiner ursprünglichen Bedeutung zurück.
Beim Erdbeben in Nepal am 25. April 2015 wurde der Stupa beschädigt. Um die Reparatur durchzuführen, wurde die gesamte Spitze abgetragen und neu aufgebaut. Die Weihe des wiederhergestellten Stupas fand im November 2016 statt. Es erinnert mich an Burma: trotz empörender Armut erhalten religiöse Kultstätten jede nur mögliche finanzielle Unterstützung, während die Bevölkerung sehen kann, wo sie bleibt.
Der Blick ist ernst und durchdringend
Man muss das Bauwerk und seine sakrale Umgebung auf sich wirken lassen. Ich bewege mich langsam im Uhrzeigersinn durch die Pilger und Touristen, atme die heilige Luft ein, die allerdings auch nicht viel besser scheint als die diejenige draussen auf der Strasse.
Man umrundet die heilige Stätte im Uhrzeigersinn
Es gibt eine Menge zu sehen und zu bestaunen. Obwohl die Heiligkeit des Ortes spürbar ist, scheint er doch eine Art Disneyland nach buddhistischer Art zu sein. Es erinnert mich einmal mehr an Burma oder Laos, wo die heiligsten Orte auf seltsame Weise irdisch sind.
Wo der Buddha noch das Preisschild um den Hals trägt. Wo unter dem Heiligtum ein Abstellplatz für Autos eingerichtet ist. Wo neben dem Buddha eine Micky Mouse Figur steht.
Kriegerische Gestalten auf Kriegselefanten
Buddhisten finden sich vor allem im Morgengrauen und zur Abenddämmerung bei dem Bauwerk ein, um es im Uhrzeigersinn zu umrunden. In Vollmondnächten werden tausende Butterlämpchen auf den Terrassen, welche den Stupa im Grundriss eines Mandalas umgeben, entzündet.
Mehr zwischen Himmel und Erde …
Natürlich wird der Stupa von zahlreichen Tempeln gesäumt, jeder schöner und eindrücklicher als der andere. Ich suche mir den schönsten aus und einmal mehr erfüllt mich ein seltsames Gefühl, als würde ich daran erinnert, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gibt, als man zu wissen glaubt.
Pashupatinath
Aber ich muss mich verabschieden, ein weiteres Heiligtum wartet auf meinen Besuch.
Es führt ein direkter Weg von Bodnath zum Tempelbezirk von Pashupatinath, der an den Ufern des Bagmati-Flusses östlich von Kathmandu liegt.
Ich nähere mich über einen Hügel, der oberhalb des Tempelbezirks liegt und eine wunderbare Aussicht auf die umliegende Stadt bietet. Ich bin beinahe der einzige, sieht man von einer farbigen Frauenriege und zahlreichen Rhesusaffen ab.
Von oben scheint der Bagmati-Fluss nicht ganz so verdreckt zu sein wie befürchtet, doch je näher man kommt, desto erschreckender wird es. Der Fluss ist ine einzige stinkende Kloake; rechts der Pandra Shivalaya Komplex – 15 Schreine, die zu Ehren verstorbener Persönlichkeiten errichtet wurden.
Hier bin ich vor tausend Jahren schon mal gesessen, und schon damals war der Fluss eine einzige stinkende Kloake. Trotzdem und auch trotz der vielen Touristen strömt der heilige Ort eine eigene Würde aus.
Lange her …
Der Shiva Tempel
Hier wird Shiva als Pashupati („Gott des Lebens“ – Pashu = „Leben“) verehrt. Der eigentliche Tempel ist nur für Hindus zugänglich, der äußere Tempelbezirk darf hingegen von jedermann betreten werden. Der Tempel bildet eine Pagode mit zwei Dachebenen, die mit vergoldetem Kupfer bedeckt sind. Die vier Eingangstüren sind mit Silberplatten bekleidet. In der Cella (garbhagriha) im Inneren des Tempels befindet sich ein ca. 1,80 m hoher viergesichtiger Shiva-Lingam mit einem Durchmesser von etwa 1,10 m hat. Er darf ausschließlich von vier Priestern (bhattas) berührt werden, die immer aus dem Süden Indiens stammen müssen, daneben gibt es noch zahlreiche, mit Hilfsaufgaben betraute Priester niederen Ranges (bhandaris).(Wikipedia)
Der Ansturm der zahlreichen Touristen und Gläubigen lässt die heilige Stätte gelegentlich aussehen wie am Kirmes. Trotzdem ist es erstaunlich ruhig, als würde man merken, dass dieser Ort etwas Besonderes ist.
Blick auf den nur für Hindus zugänglichen Teil von Pashupatinath
Die Verbrennungsstätten – die Arya Ghats
Der Bagmati teilt die Anlage in zwei große Bereiche. Auf dem rechten Ufer des Bagmati liegen der Pashupatinath-Tempel und die Verbrennungsstätten, die Arya Ghats (Verbrennungsstätten der höheren Kasten) und die Surya Ghats (Verbrennungsstätten der niederen Kasten). Dieser Ort hat für viele Gläubige als Platz für die „letzten Riten“ besondere Bedeutung: es gilt als erstrebenswert, seine Leiche hier verbrennen zu lassen.
Die Verbrennungsstätten
Die meist in gelbe Tücher gehüllte Leiche wird zu den Verbrennungsstätten getragen, wo ein Scheiterhaufen errichtet wird. Vor der Verbrennung bespritzt man die Leiche mit dem Wasser des heiligen Flusses oder wäscht die Füße im Wasser. Die Leiche wird dann von oben mit feuchtem Stroh bedeckt. Wenn die Familie es sich leisten kann, verwendet man zur Verbrennung neben normalem Holz zusätzlich das kostbare, duftende Sandelholz (Wikipedia).
Vor der Rückfahrt nach Kathmandu trennen sich die Wege guter alter Bekannter endgültig. Die einen nehmen zwecks schnellerer Fortbewegung einen Jeep, andere weniger glückliche, so wie wir beiden, nehmen einen dieser schrecklichen Busse, die bereits um sieben rauchend und röhrend vor den verschiedenen Hotels stehen.
Abfahrtsbereit
Der Schlafsack wird zum letzten Mal zusammengerollt und aufgebunden, ein letztes Goodbye der freundlichen Bedienung im Hotel zugerufen, und ab geht die Post. Man hat es schon beinahe vergessen, das Hin- ind Her-Gewirble im Bus, die stinkenden Auspuffgase der entgegenkommenden Fahrzeuge, die engen Sitze, die sogar für mich zu klein geraten sind.
Sardinen in der Büchse
Wir haben allerdings nicht vergessen, dass es sich um einen LocalBus handelt, was bedeutet, dass er alle paar Meter, wo ein Hund hingepisst hat, stoppt. Was wir nicht wissen, dass dieses Exemplar nicht nur dauernd hält, sondern auch die physikalischen Grenzen des Füllens eines hohlen Raums unbeachtet lässt.
Heute allerdings sind die Auswirkungen spürbar. An allen Strassenecken stehen Gruppen von Leuten, die alle mitgenommen werden möchten. Wahrscheinlich haben sie das Fest bei Verwandten verbracht und wollen nun alle nach Hause.
So stellt man sich die Gans beim Stopfen vor
Vollgestopft wie in einer Sardinenbüchse
Es beginnt nun eine dieser unvergesslichen Geschichten, die beim Erleben alles andere als lustig sind, beim späteren Erzählen aber erst ihre besondere Note erhalten.
Eigentlich beginnt es ganz harmlos. Der Gang füllt sich schnell mit Passagieren, kleinen, grossen, alten und jungen, manche mit viel Gepäck und allerhand Krimskrams. Irgendann denkt man als stiller Beobachter, dass nun das Ladepotential erschöpft ist und man dementsprechend bei den nächsten Wartenden mit einem entschuldigenden Lächeln vorbeifahren wird.
Denkste! Der Bus hält immer, IMMER. Ganze Heerscharen drücken sich durch den Eingang, werfen einen abschätzenden Blick durch den übervollen Bus und quetschen sich hinein, Platz hin oder her. Die neben uns Stehenden und gegen Sitaram Stützenden (der Arme sitzt im Gang) wechseln langsam die Farbe, man hört leises Stöhnen und etwas lauteres Fluchen, was den Fahrer aber nicht davon abhält, neue Gruppen willkommen zu heissen.
Nun werden auch wir als bevorzugte Sitzende etwas unruhig, denn ein kleines Mädchen neben Sitaram wird langsam aber sicher zerdrückt. Sie wehrt zwar anfänglich sein Angebot, auf seine Knie zu sitzen, schüchtern ab, doch der immer noch zunehmende Druck von allen Seiten lässt sie schliesslich nachgeben.
Verrückt! Und grenzwertig
Ich bin auf allen Kontinenten immer mit viel Spass mit Local Buses gefahren, viele bis an die Grenzen gefüllt, aber dieses Spektakel ist eimalig. Und wieder mal eine Sensation für alle Sinne. Die Stimmen der Leute vermischt mit dem Brummen des Motors und dem permanenten Hupen.
Die neben und über uns schwebenden Köpfe, manche grösser, manche verschwindend im dichten Haufen. Die betörenden, die Nase reizenden Gerüche, Schwitzen, Alkohol, Erbrechen … Aber immer wieder macht jemand einen Witz, und lautes Gelächter erfüllt die Sardinendose …
Irgendwie scheint es nur mir (na ja, Sitaram findet’s auch etwas seltsam) grenzwertig zu sein. Für die Leute scheint es nichts Besonderes zu sein, alles schon mal erlebt, und ausserdem ist es ja der Tag nach Neujahr. Da ist alles möglich.
Die Strasse? Das alte Lied
Die Strasse im übrigen, damit auch sie nicht vergessen wird, ist genauso schecht wie bei der Hinfahrt, sie kommt einem sogar noch etwas schlimmer vor. Der einzige Vorteil ist, dass die Passagiere gar nicht mehr herumgeworfen werden können, dazu fehlt schlicht der Platz.
Wenigstens ein Halt zum Durchatmen
Man stellt sich zum makabren Zeitvertreib vor, was bei einem Versagen der Bremsen passieren würde. Mein Blick durch den Bus schätzt, dass es mindestens 50 Tote geben würde, ein paar Touristen eingeschlossen. Man lässt den Zeitvertreib besser sein und versucht, in all dem Chaos ein paar Minuten Schlaf zu finden.
Das letzte Dal Bhat
Im nächsten grösseren Ort ein Stop, die Sardinendose leert sich in Windeseile, und ja, die Hoffnung stirbt zuletzt – die Leute verstreuen sich in alle Himmelsrichtungen. Aufatmen. Sitaram bestellt – oh Wunder! – das dreihunderdfünfzigste Dal Bhat und isst wie immer mit grossem Genuss.
Sitaram und Dal Bhat – unzentrennliche Zwillinge
Man muss sich das vorstellen (wir haben uns öfters darüber unterhalten): ein Mensch isst jahraus, jahrein mindestens zweimal täglich das gleiche Gericht (manchmal auch zum Frühstück).
Es wäre also das Gleiche, wenn ich zwei bis drei mal täglich (und das seit Jahren) Spaghetti Carbonara oder Älplermagronen (ein Schweizer Gericht) oder Risotto Milanese essen würde. Unvorstellbar! Aber ihm mundet’s, immer wieder, zwei Mal täglich, bis ans Lebensende.
Das ist das Wunderbare an den kulturellen Unterschieden. Wie unendlich vielfältig der Mensch ist und lebt. Obwohl er zu 100% aus den gleichen Komponenten besteht. Alles, was ihn unterscheidet, ist kulturell bedingt.
Deswegen reist man.
Aber auch der schlimmste Bustrip geht irgendwann zu Ende (zu erwähnen: natürlich füllte sich der Bus auch nach dem Zwischenhalt mit der gleichen idiotischen Anzahl an Passagieren, nicht der kleinste Unterschied zu vorher festzustellen, aber wie an alles im Leben gewöhnt man sich daran.
Ein nicht mehr wiederzuerkennender Rucksack
Der endgültige Stop dann irgendwo an einem Strassenrand in Kathmandu. Der für den „Gepäckraum“ Verantwortliche, ein ziemlich unsympathischer Typ mit gefärbter Haartolle, öffnet ihn, und einen Moment lang stockt allen der Atem.
Unser Gepäck ist nicht wieder zu erkennen, bzw. man weiss schon gar nicht mehr, wem was gehört, denn alles ist mit einer dicken Staub- und Schmutzschicht überzogen. Ein junger Traveller empört sich so sehr, dass er kurz davor ist, der Haartolle an die Gurgel zu gehen.
Ich bin irgendwie zu müde, um mich noch aufzuregen, packe den wieder erkannten Rucksack vorsichtig in ein Taxi und wir lassen uns die letzten Meter bis Thamel fahren. Dann lade ich Sitaram zu einem Abschiedsbier ein, allerdings wird klar, dass der junge Mann überhaupt noch nie Alkohol getrunken hat. Dann gehört sich das auch heute nicht, wir stossen also mit meinem Bier und seinem Lassidrink auf die letzten acht Tage an und wünschen uns alles Gute für unsere Zukunft, die für ihn ein bisschen länger, für mich ein bisschen kürzer ist …
Der Regen, die mitten in der Nacht ans Fenster pocht, will nicht so recht zu meinen Vorstellungen passen, die ich mir im Vorfeld zum Langtang Trek zurecht gelegt habe. Sollte ich mich getäuscht haben? Muss ich auf dem Trek schlechtes Wetter erwarten oder gar Schnee?
Kali Gandaki
Die Erinnerungen an das Trecking entlang des Kali Gandaki Tals sind etwas verschwommen, aber ein Bild hat sich in mein Langzeitgedächtnis eingebrannt. Der morgentliche Blick aus dem Fenster in eine weisse Pracht, die in der Nacht vom Himmel gestürzt ist, und mitten drin – ein Pferd! Friedlich käuend, ganz entspannt, als wüsste es, dass der Schnee in ein paar Stunden wieder verschwunden sein wird.
Es gibt einige Bilder, die von schlechtem Wetter, von Wind und Sturm zeugen. Die dicken Jacken und die hochgezogenen Kapuzen, die Wollmütze im Schlafsack – es müsste eigentlich Erinnerung genug sein, um zu wissen, was mich erwartet.
Irgendjemand sagte doch – kein Problem, es gibt tausend Anbieter, man kann es sich aussuchen.
Das Gespräch mit dem Hotelmanager lässt meinen Optimismus ziemlich schnell schwinden und macht einer realistischeren Einschätzung Platz. Nach ein paar Telefonaten mit Geschäftspartnern oder Freunden oder was auch immer wird klar, dass es wohl doch nicht tausende Anbieter gibt.
Zwei Stunden später und nach weiteren Besuchen in mehr oder weniger düsteren Hinterhofbüros bin ich ein bisschen frustriert. Niemand scheint in den nächsten paa Wochen eine Tour nach meinem Gusto zu organisieren. Entweder gibt es gar nichts oder die angebotene Tour ist zu kurz oder zu lang.
Very cheap, Mister
Während ich also durch die verpesteten Thamel-Gassen irre, den Dauerruf „Very cheap, Mister“ im Ohr, bin ich erstens hungrig und zweitens frustriert. Nun denn, mit vollem Magen, lässt sich besser denken, ich bestelle bei einem überaus freundlichen Herrn eine Portion Chicken Momos und haue zum Dessert einen Pineapple Plunder hinterher.
Dann tue ich das, was ich von Anfang an hätte tun sollen, ich vergesse die 0815 Tour Operators , die an jeder Strassenecke ihre Dienste anbieten, und schaue im Guide nach. Ich notiere mir also Namen und Adressen der offenbar besten und zuverlässigsten Anbieter und klappere sie schön nacheinander ab.
Mein Guide und ich
Der junge Herr bei „High Spirit Treks & Expedition Nepal Ltd.“ trägt ein modisches Bärtchen und spricht ein Englisch Kauderwelsch, dem ich nur mit Mühe folgen kann.
High Spirit Treks and Expeditions
Sei es der Frust der vergangenen Stunden oder die Müdigkeit, die sich langsam einstellt, auf jeden Fall überzeugt er mich mit vielen unverständlichen Worten und Gesten von einer Tour, die am nächsten Montag startet.
Teilnehmer ich und ein Guide.
Nicht ganz das, was ich wollte. Weder bezüglich Teilnehmer noch Kosten. Aber immerhin starten wir am 8. April, so wie geplant. Ein kleiner Trost.
Und so verlasse ich das Bärtchen, eine Quittung über Fr. 750.- in der Tasche und die Aussicht auf einen wunderbaren Trek ins Langtang Valley, wo ich hoffentlich all die vielen anderen Trekker treffen werde, die man mir versprochen hat …
Thamel in Ruhe
Zur Abwechslung sind die Gassen in Thamel mal etwas ruhiger. Das gibt Gelegenheit, die Millionen von Souvenirs und Trekking-Utensilien ins Auge zu nehmen …
Den verschlafenen Augen des Reisenden öffnet sich der Blick auf die weit unten im Dunst liegende Ebenen Nordindiens.
Eine vertrocknete, braune Welt im gleissenden Licht der Morgensonne, und da, wie ein glitzernder Gruss – eine sich durch die Ebene wälzende Schlange – der Ganges. Die Karte auf dem Monitor zeigt an, Patna 78 Kilometer. Erinnerungen werden wach. An die Überquerung des Ganges. Den ersten Regen nach Monaten. Das Leck im Dach des VW-Busses. Lange her …
Eine halbe Stunde später tauchen ganz im Norden, kaum erkennbar durch die Wolken, ein paar spitze Türme auf. Der Himalaya. Oder das wenige, das erkennbar ist, denn im nächsten Augenblick werden sie durch die Wolken verschluckt.
Es dauert unendlich lange, bis wir die weisse Decke durchbrechen und unmittelbar über dem Kathmandutal die ersten Häuser und Strassen erkennen können. Eine verschachtelte Welt aus tausenden von Strassen und Gassen und Gebäuden, verschleiert durch einen seltsamen Dunst über dem Tal.
Ein erster Blick auf Kathmandu, grau und irgendwie schmutzig
Das Wetter ist mittelprächtig, aber immerhin über 20 Grad warm, so der Flugcaptain bei seiner Verabschiedung. Ich sage Goodbye zu meinem Sitznachbarn aus New York, er will den Anapurnatrek machen. Don’t get lost in the Himalayas, my friend!
Dann Touchdown, alles sieht aus wie früher. Man steigt aus dem Flugzeug die Treppe hinunter, erkennt das Flughafengebäude, zieht die noch frische Morgenluft in die Lungen und atmet erst mal durch.
Taxi gesucht
Etwas verwirrend das Prozedere am Zoll. Man steht an, merkt gerade noch rechtzeitig, dass man zuerst am entsprechenden Schalter die Visagebühr bezahlen muss, aber dann geht alles schnell. Geld wechseln, man erhält viele viele Rupien, stopft sie in die Tasche, macht sich auf den Weg zu den Taxis, sucht vergeblich nach dem Schild mit der Aufschrift „Hotel Yambu“ und ärgert sich schon mal ein bisschen, dass man mich offenbar vergessen hat. Auch nicht erstaunlich bei einer Verspätung von mehr als einer Stunde.
Schliesslich findet sich doch noch jemand, der mich für 10 Dollars in die Stadt fahren will, also für den Betrag, den mir das Hotel gemeldet hat. Erst viel später erfahre ich, dass man normalerweise gerade mal die Hälfte zu bezahlen hat.
Die Fahrt vom Flughafen in die Stadt gibt schon mal einen ersten Eindruck von der Verkehrssituation. Wir sind eigentlich mehr gestanden als gefahren, sozusagen von einem Stau zum anderen.
Das Hotel „Yambu“ ist okay, ich bin mitten in Thamel gelandet, der Altstadt, das ist dort, wo die Post abgeht. Die Aussicht auf die Stadt bestätigt meinen ersten Eindruck: der Himmel hat sich bedeckt, es ist kühler als erwartet, und vor allem: der Dunst über dem Tal ist menschengemacht. Schlicht Smog. Er wird mich die nächsten Tage begleiten und für den einen oder anderen Husten verantwortlich sein.
Das Erdbeben
Am 25. April 2015 hinterliess ein verheerendes Erdbeben Zerstörung und Tod. Die Hauptstadt Kathmandu sowie einzelne Bergtäler wie z.B. das Langtang-Valley wurden besonders betroffen.
Wie sieht’s heute aus?
Auf den ersten Blick – eine Beruhigung. Es sieht besser aus, als erwartet, obwohl man weiss, dass das Erdbeben am 25. April 2015 grosse Verwüstungen,vor allem an den Tempeln, angerichtet hat.
Aber der erste Eindruck täuscht. Wenn man genauer hinsieht, den Blick hinter die hochgezogenen Gerüste und Vorhänge wagt, dann erst werden die Schäden sichtbar. Eingestürzte Gebäude, in sich zusammengebrochene Mauern. Tempel, die mühsam wieder rekonstruiert werden müssen. Risse in Hausmauern, eingestürzte Dächer, notdürftig mit Planen bedeckt.
Es wird Jahre dauern, bis alles wieder so ist wie vor der Katastrophe.
Nicht mehr wiederzuerkennen
Wie hat sich die Stadt seit dem letzten Besuch 1990 verändert? Ich erinnere mich an lange gemütliche Velofahrten durch zwar belebte, aber nicht verstopfte Strassen und Gassen. Heute – undenkbar! Der Verkehr hat ein Ausmass angenommen, dass nur schon der Gedanke an Velofahren ein Witz wäre.
Die Strassen in Thamel, der belebten Altstadt, sind derart verstopft, dass man als Fussgänger permanent der Gefahr ausgesetzt ist, über den Haufen gefahren zu werden. Es gibt allein in Kathmandu über eine Million Motorräder, und sie alle suchen hupend einen Weg durch das Chaos. Doch niemand scheint sich daran zu stören, es ist Alltag. Niemand beschwert sich, nirgends ist Fluchen oder Schimpfen zu hören. Man hat sich daran gewöhnt.
Es erinnert ein bisschen an Hanoi, und auch das Gefühl dabei ist ähnlich. Man befindet sich im Rachen eines Monsters. Es stinkt nach Auspuffgasen und allerhand anderem, es dröhnt und hupt und kracht aus allen Rohren.
Eine einzige Umweltkatastrophe
Die Luft allerdings ist eine Zumutung. Eine einzige Katastrophe für Bronchen und Lungen. Viele Einwohner leiden unter Atemwegsbeschwerden, tausende sterben an Lungenkrebs. Vielleicht schlimmer als Delhi, und das will was heissen.
Man schätzt die Einwohnerzahl im Kathmandu-Tal auf über 7 Millionen, und es werden wahrscheinlich täglich mehr. Schon nach kurzer Zeit spürt man ein Kratzen im Hals. Es wird nicht besser werden.
Thamel
Und so bin ich nun hier, auf einem langsamen, müden Spaziergang in Richtung des Durbar Square, mühe mich durch Menschen und Motorräder und hupende Autos und Pickups und Hunde und Velorikschas. Die Beine sind etwas schwer nach der durchwachten Nacht, aber es gilt durchzuhalten bis am Abend, um sich möglichst schnell an die Zeitdifferenz zu gewöhnen.
Beim Durbar Square, wo die Auswirkungen des Erdbebens sichtbar sind (einige Museen sind immer noch geschlossen), setze ich mich auf ein Mäuerchen, bis ich von einer resoluten Dame in Uniform darauf aufmerksam gemacht werde, dass man hier Eintrittsgeld zu bezahlen hat. Na gut, ich verziehe mich ein paar Meter nach rechts, und tatsächlich, hier kostet es nichts. Ich bin viel zu müde, um den Platz gebührend zu besuchen, also mache ich mich auf den Weg zurück.
Jimi Hendrix
Der knurrende Magen erinnert mich daran, dass seit dem Frühstück im Flugzeug, immerhin vor etwas mehr als zehn Stunden, keine Zufuhr an Kalorien mehr stattgefunden hat. Merkwürdigerweise scheint es ausgerechnet hier, an dieser von Touristen wimmelnden Stelle, keine Restaurants zu geben, also gehe ich den Weg Richtung Thamel zurück, fühle mich langsam genauso alt wie ich bin, bis irgendwo das Schild eines Restaurants auftaucht, das nicht nur Essen, sondern auch Rockmusik im Angebot hat.
Das sollte eigentlich genügen, um meine müden Geister und Knochen wieder auf Vordermann zu bringen. Und tatsächlich, das Essen ist gut, aber von Rockmusik ist nichts zu hören. Immerhin kleben an den Wänden Posters von Jimi Handrix und AC/DC und Mötley Crüe.
Überraschenderweise finde ich im Getümmel sogar den Weg zurück zu meinem Yambu Hotel und bin fast ein bisschen stolz darauf.
Die Frage ist, wie überlebt man einen Abend, der ausschliesslich dem Durchhalten bis zur geplanten Schlafenszeit gewidmet ist? Einmal mehr schaffe ich es nicht, den Fernseher in Gang zu bringen, also widme ich mich auf dem iPad via Netflix einem Action-Knaller, während die Augen alle paar Minuten zufallen. Irgendwann ergebe ich mich und verziehe mich unter die Decke.