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Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Dem Gotthard entgegen

Erwachen mit David Bowie

Der Griff zum iPhone und der iTunes-Datenbank ist immer die erste Bewegung, noch bevor das System hochgefahren wird.

Die Random Auswahl ermöglicht jeden Morgen die Überraschung des Tages, heute eigentlich sehr willkommen mit David Bowie. Dieses Lied allerdings, aufgenommen kurz vor seinem Tod Anfangs 2016, ist nicht gerade das, was einen optimistischen Tagesanfang beflügelt.

David Bowie – Black Star

Es ist einer seiner besten, aber auch traurigsten Songs seines umfangreichen Katalogs an unvergesslichen Liedern. Ich habe mir das Video schon unzählige Male angesehen und falle jedesmal in eine Art Endzeitstimmung. Es ist voller Angst, handelt vom Ende, vom Tod, dunkel und voller Trauer.

Bowie sieht krank aus, am Ende seiner Kräfte, nahe am Tod. Aber die Musik ist überwältigend. Nur schon das Schlagzeug (offenbar hat er sich die Unterstützung junger Jazzmusiker geholt) lohnt genaueres Hinhören.

Jemand schrieb als Kommentar zum Video: If you ever feel sad, know that the earth is 4.35 billion years old, and you were born at a time to listen to David.

Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Das ist natürlich kein optimistischer Einstieg in diesen Tag, der wohl einer der anstrengensten der ganzen Tour werden wird. Aber mal sehen, ich bin ja nicht abergläubig.

Immerhin bringt mich der Touren-Guide auf bessere Gedanken:

Saumweg, Kantonsstrasse, Gotthardbahn, Autobahn, Neat-Baustelle… Spätestens in Erstfeld gleicht das Urnertal einem Durchgangskorridor. Silenen, Amsteg: symbolträchtige Orte am alten Saumweg. Gute Sicht auf die Hügelkirche von Wassen und die Kehrtunnels.

Meine Werte: Länge 24.87 km; Aufstieg | Abstieg 1300 m | 855 m; Wanderzeit 8 h 12 min

 

From Attinghausen to Wassen

 

Ein tückischer Fluss

Die ersten Kilometer sind die Zugabe von gestern. Eine Stunde und 40 Minuten bis Erstfeld, und dann erst fängt die eigentliche Etappe an. Immerhin folgt der Weg der Reuss, die sich heute in einigermassen ruhigem gemächlichem Zustand präsentiert. Man müsste blind sein, um nicht zu erkennen, dass der Fluss auch anders kann. Dass er das ganze Tal überfluten kann, wenn ihm danach ist.

So beispielsweise im Oktober 2020.

Solche Naturereignisse werden sich häufen, der Klimawandel lässt grüssen. Viele Leute haben immer noch nicht begriffen, dass gerade die Alpen in erhöhtem Mass betroffen sein werden. Es wird mehr gravierende Ereignisse geben, auf der anderen Seite wird sich durch das Verschwinden der Gletscher die Wasserversorgung entscheidend verändern.

Aber wie schon an anderer Stelle erwähnt – man macht weiter wie bisher, und falls endlich etwas passiert, dann viel zu langsam.

Die Menschheit schaufelt sich ihr eigenes Grab.

 

The Reuss river between Erstfeld and Amsteg

Überraschenderweise führt der Weg schon bald in einen dunklen Tunnel, eher unerwartet, aber nicht unerwünscht. Etwas Abwechslung tut immer gut, vor allem wenn sie das Auge von der immer gleichen Schönheit der Umgebung löst und man in die finsteren Werke des Menschen geführt wird.

Allerdings muss ich zugeben, dass dieses finstere Werk lediglich einen winzig kurzen Abschnitt unter der Erde durchführt. Grund dafür ist, dass der Weg durch einen steilen Abhang, der bis zum Fluss hinunterführt, blockiert wird.

 

Dark entrance into tunnel  In the underground

Eine andere Abwechslung – der Truckstop Gotthard, wo die Lastwagen gestoppt und überprüft werden, ob sie in technisch einwandfreiem Zustand sind (eine Panne oder noch Schlimmeres im Gotthard Autobahntunnel ist fatal, siehe 2001). Und ob sie nicht überladen sind (was offenbar nicht selten vorkommt) oder die Fahrer sich nicht an die Ruhezeiten gehalten haben (was erschreckenderweise noch häufiger vorkommt).

Alles Gründe, sich die Sache sehr genau anzusehen. Alle Trucks, die den Anforderungen nicht genügen, werden zurückgehalten. Manchmal wird der Fahrer gezwungen, Ruhepausen einzulegen, manchmal muss das Fahrzeug repariert werden, bevor es die Genehmigung zur Weiterfahrt erhält.

Man stelle sich vor, was passieren kann, wenn ein Lastwagen mit kaputten Bremsen im Gotthardtunnel ein Problem verursacht. Der Tunnel in der heutigen Form wird in einer einzigen Röhre geführt (eine zweite ist im Moment im Bau), d.h. dass sich die Vehikel kreuzen. Ein kleiner Unfall führt zu katastrophalen Auswirkungen.

Man stellt sich das lieber nicht vor.

 

Truckstopp Gotthard - serching for possible problems

 

Planes, Trains & Automobiles

Planes ist etwas übertrieben, obwohl die gelegentlichen weissen Schlieren am Himmel von oberirdischer Aktivität zeugen.

Aber der Titel gefällt mir, denn er erinnert an eine Filmkomödie gleichen Namens von 1987 mit Steve Martin und John Candy. Unbedingt ansehen, sehr lustig (vor allem, als ihr Auto in Brand gerät), zeigt gegen Ende jedoch auf eine tragische Geschichte hin, die auf gut amerikanische Weise positiv aufgelöst wird.

Was hingegen nicht übertrieben ist, ist die unüberhörbare Präsenz von Zügen und Autos.

Durch dieses enge Tal bewegt sich der gesamte europäische Nord-Süd Verkehr. Jedes Jahr überqueren einige hunderttausend Lastwagen den Gotthard, von den PWs ganz zu schweigen. Obwohl die sogenannte Alpeninitiative eigentlich die Verlagerung des Strassenverkehrs auf die Schiene bezweckte, hat sich an der Zahl nicht viel verändert.

Ausserdem bewirkt das Nadelöhr des Tunnels, dass sich an bestimmten Feiertagen (Ostern, Pfingsten) oder bei Ferienbeginn der Verkehr über viele Kilometer staut und den Autofahrern eine Wartezeit von manchmal über zwei Stunden auferlegt.

Wie auch immer, je enger das Tal wird, desto mehr streiten sich die Verkehrswege um den begrenzten Raum.

Da ist einerseits die Autobahn, die das Tal in zahlreichen Kehren über unzählige Brücken durchquert. Da ist die Bahn, die alte Strecke, die erst nach Wassen in den Tunnel fährt. Da ist die normale Strasse für den Verkehr abseits der Autobahn.

Und last but not least gibt es einen Wanderweg, der sich irgendwo auf dem Weg Richtung Süden durchzwängt. Auf diesem Weg befinde ich mich.

 

Die Gotthardbahn

Ein Wort zur Zugverbindung: der alte Eisenbahntunnel (siehe Bild) war ja das Ergebnis einer Jahrhundertleistung in Sachen Tunnelbau.

Der über 140 Jahre alte Gotthardtunnel wurde als Scheiteltunnel unter den Gipfeln des Gotthardmassivs in Nord-Süd-Richtung gebaut. Er war das zentrale Bauwerk der Gotthardbahn in der Schweiz. Der 15’003 Meter lange Eisenbahntunnel besteht aus einer einzelnen, doppelgleisig ausgebauten Tunnelröhre zwischen den Ortschaften Göschenen im Kanton Uri und Airolo im Kanton Tessin. Der Tunnel wurde um 1880 auf einer Höhe von 1150 Metern über dem Meer gebohrt und gesprengt. Die Zufahrtsrampen schlängeln sich durch das Reusstal und das Tal des Ticino bis auf diese Höhe. Der Tunnel wird im Mittel von etwa 1100 Metern Gebirge überdeckt. (Wikipedia)

Das ist Vergangenheit. Seit der Eröffnung des Gotthard Basistunnels im Jahre 2016 ist die alte Bahnstrecke zum Touristenerlebnis degradiert worden. Sie fährt zwar noch in periodischen Abständen, doch ihre Zukunft ist ungewiss. Offenbar gibt es Überlegungen, die alte Gotthardbahn ins UNESCO Kulturerbe aufzunehmen, andere noch in Arbeit befindliche Studien gehen in Richtung einer Reaktivierung als Verkehrsaches für den Gütertransport. Grund: die viel langsamer verkehrenden Güterzüge im Basistunnel verlangsamen den Personenverkehr massiv.

Mal sehen. Aber wenn man die einst so stolze Bahn sieht, kommt Traurigkeit auf. Sie hat mehr verdient als ihr gegenwärtiges Schicksal.

 

One of the numerous viaducts  The train driving downwards

Roads and trains searching for space  Train towards the Gotthard

 

Nun beginnt der Aufstieg

In Amsteg, dem letzten Dorf, bevor die Steigung in Richtung Gotthard beginnt, trinke ich zwecks mentaler Vorbereitung auf die kommenden Anstrengungen friedlich einen Kaffee und nasche einen Mandelgipfel. Das Dorf scheint ausgestorben, nur ein vereinzeltes Auto hat sich ins Dorf verirrt und fährt im Schneckentempo an mir vorbei.

Der Himmel bzw. das Wetter vollzieht die üblichen Kapriolen. In einem Moment strahlt der Himmel in tiefstem Blau, lediglich geschmückt durch ein paar niedliche Wolken. Im nächsten Augenblick überzieht er sich mit finsterem Gewölk, die Sonne verschwindet, wird zum Rückzug gezwungen.

 

One moment a bright blue sky ...  ... the next moment dark clouds hiding the sun

Jetzt beginnt der mühsamere Teil der heutigen Etappe. Der Fluss bleibt unter mir zurück, nun erkennt man seine eigentliche Natur als wilden Bergbach. Man muss es gesehen haben, um zu glauben, zu welchen wütenden Monstern Bergbäche werden können.

Es braucht ein starkes Gewitter oder ein lang anhaltender Regen, um die Bäche in Minuten anschwellen zu lassen. Die Unkenntnis darüber hat schon den einen oder anderen Badenden erwischt.

Mit tödlichen Folgen.

 

The Reuss river shows its nature, wild and untamed  Water from the Glaciers high up

Das Tal wird nun richtig eng. Der Lärm der Autobahn mischt sich mit dem Gurgeln und Tosen des Bachs, manchmal ergänzt durch das Sausen des irgendwo versteckt vorübereilenden Zugs. Der Geräuschpegel, ein permanenter Begleiter durch das Tal, wird lauter, eindringlicher.

Obwohl man sich mitten in der Natur wähnt, ist man umgeben von Zivilisation und deren Auswirkungen. Beton. Abgase. Lärm. Zerstörung.

 

Sometimes the path leads through strange surroundings  Bridges of concrete and bridges of wood

Strange contrasts, so many  Sometimes surreal feelings

Somehow threatening  Everything there: footpath, highway, river

Doch unversehens wird man an die Vergänglichkeit erinnert und sei es bloss durch eine verwitterte Sitzbank. Und plötzlich spürt man seine Muskeln und Sehnen, die Anstrengung, das Alter und damit – alles andere als erwünscht – die Einsicht in die eigene Vergänglichkeit.

 

A very weather-beaten bench, just like myself

 

Und dann endlich – die berühmte Kirche von Wassen

Auch die längste Etappe kommt irgendwann an ihr Ende. Das heutige Ende wird schon von weitem angezeigt – das berühmte Kirchlein von Wassen. Es hat eine lange Geschichte.

Nach der Eröffnung der Gotthardbahn im Jahr 1882 wurde das Kirchlein von Wassen zu einem Wahrzeichen auf der Fahrt in den Süden. Wegen der Kehrtunnel sehen Zugreisende die Kirche dreimal von einer anderen Seite.

Also eine Touristenattraktion erster Ordnung. Heute (siehe oben) eine vergangene Sache.

 

The famous Church of Wassen

Für mich bedeutet es Durchatmen, ein Bier trinken, die Beine hochlagern, an nichts denken. Oder an alles …

 

Passender Song: Bob Marley – Concrete Jungle

Und morgen geht die Reise weiter … nach Andermatt

 

Südamerika

Final Destination Bogota

Dann also die letzten 420 Kilometer. Der 10 Uhr-Bus ist reserviert, nichts steht dem letzten Teilstück meiner Reise entgegen.

 

Allerdings schleicht sich das unbestimmte Gefühl ein, dass die Fahrt länger als die angegebenen acht Stunden dauern könnte.

Aber mal sehen. Ich nehme ein weiteres Mal die Metro, diesmal ohne Unterbrüche (bei der gestrigen Fahrt am frühen Morgen musste man zwei Stationen zu Fuss gehen, weil sich eine Frau unter die Metro geworfen hatte).

Der bereitgestellte Bus gefällt mir allerdings gar nicht. Er stammt zwar aus der gleichen Gesellschaft wie mein Ticket, sieht aber etwas heruntergekommen aus, und auch der unfreundliche Chauffeur („Un poco de cortesia, por favor!“) lässt Schlimmes erahnen.

Und so kommt es auch.

 

Geistlose Idioten

Man sollte sich ja vor Pauschalurteilen hüten, und aus einer statistischen Grösse von grade mal 7-8 Fahrten eine zutreffende Erkenntnis zu ziehen, ist gefährlich.

Jeder Statistiker wird sich beim folgenden die Haare raufen, ist mir aber egal. Also, ich muss es loswerden. Alle, wirklich alle Buschauffeure in Kolumbien sind hirn- und geistlose Idioten, komplett durchgeknallte Schwachköpfe. Was sich diese Rattenärsche, diese No-Brainers von Gottes Gnaden, auf den Strassen leisten, sind, gelinde gesagt, Mordversuche an den Passagieren, die mit Gefängnis und dem lebenslangen Entzug der Fahrlizenz bestraft werden sollten.

Ich habe schon des öfteren darauf hingewiesen, dass allgemein gültige Verkehrsregeln in ganz Südamerika keinen interessieren, aber ausserhalb Kolumbien werden sie wenigstens mit einer gewissen Schamgrenze befolgt. Hier nicht. Ich bin zur Überzeugung gekommen, dass es unter den Chauffeuren Wettbewerbe gibt, wahrscheinlich eine Tafel an der Wand im Hauptbüro, auf der die schnellsten Fahrten zwischen Medellin und Bogota aufgeführt sind. Pablo Gonzales, 12 Stunden 14 Minuten. Pedro Ibanez, 12 Stunden 15 Minuten.

 

Sibirien im Bus

Der heutige Chauffeur, wie gesagt ein Charmeur erster Ordnung, der im halbleeren Bus eine Frau mit ihren Kindern zurechtweist, weil sie sich auf drei Sitzen niedergelassen haben, obwohl sie nur für zwei bezahlt haben, ist ein besonders fieses Exemplar.

Nicht nur, dass er fährt wie vom Teufel gebissen, er gehört offenbar auch zur Spezies, die ihre Kunden mit besonders tief eingestellten Temperaturen der AirCon drangsalieren. Es ist so kalt, dass ich zuerst den Pullover, dann die dicke Helly-Hansen-Jacke, dann den Schal und schliesslich die Wollmütze überziehe. Der eiskalte Luftstrahl von der Decke, bei geschlossen Düsen übrigens, ist so stark, dass ich durch die Hosen hindurch kalte Beine kriege und sie behelfsmässig mit dem Rucksack zudecke.

Es sind Familien im Bus, kleine Kinder, Babys, und die wenigsten Leute haben warme Klamotten bei sich, doch niemand beschwert sich. Als wäre die Kälte gottgegeben, wird still gelitten, geniest, gehustet, geschnäuzt, geschnieft.

Ich habe mich einmal mit einem Chauffeur bezüglich Temperatur angelegt („Porque hace tanto frio? Es una locura, una estupidez!“ und nur ein höhnisches Grinsen und ein paar blöde Sprüche geerntet, also lasse ich es bleiben. Draussen ist Hochsommer, T-Shirt-Wetter, kurze Hosen, drinnen ist Sibirien. Na wunderbar … Der junge Mann, der einen Welpen bei sich hat, packt ihn in eine warme Decke ein, während die Frau auf dem Sitz vor mir ihre kleine Tochter an die Brust drückt, um ihr etwas Wärme zu vermitteln.

 

Namenlose Flüsse und einsame Bauernhöfe

Und so gehen die letzten paar hundert Kilometer vorbei. Bald sind die knapp 10’000 Kilometer geschafft.

Erstaunlicherweise bin ich körperlich nicht müde, aber der Geist wird schlapp. Er bräuchte jetzt dringend eine Pause von ein paar Wochen, um Ordnung zu schaffen, die tausend Eindrücke zu verarbeiten, Platz zu machen für Neues. Vielleicht merkt er auch, dass das Ende in Sicht ist, dass in ein paar Tagen wieder die Langeweile des Alltags Einzug hält. Genug Zeit, um auszuruhen, herunterzufahren, den Dingen wieder ihren gewohnten Gang zu geben …

Doch das Auge bleibt neugierig. Immer wieder streift der Blick aus dem Fenster, lässt die letzten Eindrücke vorüberhuschen. Wir überqueren Flüsse, namenslos, unbekannt, aber eindrücklich … Die Welt scheint kalt und grau und furchterregend in ihrer Einsamkeit. Es gibt hier nichts, nur Wasser und Wolken und Nebel und abgrundtiefes Nichts.

 

Lonely nameless rivers on the way to some ocean More a lake or a sea but it's a river

 

Oder auch Bauernhöfe, ebenso namenlos, unbekannt, im Nirgendwo, versteckt in der grünen Hölle … Ich frage mich, wer hier wohnt. Wie das Leben in der Einöde ist. Sind Kinder da, Tiere, gibt es genug zu essen, zu arbeiten. Oder ist Hunger und Armut der permanente Begleiter durch Zeit und Raum?

Man weiss es nicht. Es ist die immergleiche Frage, die ich mir auf jeder meiner Reisen gestellt habe. Und nie eine Antwort erhalten habe.

 

lonely farms in the middle of nowhere

Bye-bye Moron Driver, hello Bogota

Natürlich ist es stockdunkel in Bogotà, bald neun Uhr, als der Bus im Terminal einfährt, also wie befürchtet knapp 11 und nicht 8 Stunden. Das war’s also. Bye bye, du Schweinebauch von einem Chauffeur. Mögest du in der tiefsten Hölle zu Tode frieren …

Das Taxi bringt mich zur letzten Adresse, einem hochgelobten Hotel in einem alten Kolonialhaus mitten in der Candelaria, dem alten Zentrum.

Der Besitzer Joshua soll besonders nett und hilfsbereit sein, was sich in meinem Fall allerdings schnell ändert. Wenn ich – müde und gereizt vom stundenlangen Frieren – obwohl bestellt und reserviert ein Zimmer ohne eigenes Bad erhalte, werde ich doch etwas muffig.

Wir einigen uns angesichts der späten Stunde auf eine einzige Nacht, dann suche ich mir was Besseres. Zugegeben, das Hotel ist wirklich schön, und wer riesige, hundert Meter hohe Räume mag, ist im Paradies. Ich nicht, ich fühle mich fehl am Platz und verziehe mich schleunigst unter die Decken, die allerdings vom Feinsten sind …

 

Kilometerstand:  10118

Song zum Thema: Green Day – American Idiot

Und hier geht die Reise weiter, dem Ende zu

 

Südamerika

Smog über Medellin

Medellin.  Eine Art Nachhausekommen.

Ein Blick genügt, um zu sehen, was sich seit der letzten Woche verändert hat. Die Stadt liegt unter einer dicken Smogdecke.

 

Smog über Medellin

Verdammt! Nach letztem September in Delhi hat mich das elende Ding also ein weiteres Mal eingeholt. Obwohl in den TV Nachrichten des langen und breiten besprochen, scheint es hier genauso wenig jemanden zu kümmern wie in Delhi. Die Strassen sind gewohnt voll, die Kolonnen lang, die Benzin- und Dieselwolken dicht.

Nun gut, meine Lungen haben vieles überstanden, auch diese knapp 24 Stunden werden ihnen, ungleich den Einwohnern dieser Stadt, nichts anhaben können. Aber es sieht schon bedenklich aus. Die Häuser an den Abhängen sind kaum mehr zu erkennen, es ist, als hätte sich ein graugelber Nebel eingenistet, eine giftige Suppe, zusammengesetzt aus tausend gesundheitsgefährdenden Stoffen.

 

Smog over Medellin

Smog over Medellin 2

 

Zurück im Hostal Rich

Und dann bin ich wieder zurück im Hostal Rich, mein Freund aus Madrid öffnet mir die Tür.

Das Zimmer ist allerdings grösser, ich kann zwischen 5 Betten wählen. Silvia, die Hoteleigentümerin, Managerin und Mädchen für alles, scheint tatsächlich das halbe Hotel in eigener Regie erstellt zu haben, einschliesslich des riesigen Holztisches, an dem sich jeweils hundert Nationen zum gemeinsamen Frühstück versammeln.

Eine handwerkliche Lichtgestalt erster Ordnung (erinnert mich doch glatt an eine Namensvetterin gleichen Vornamens). Sie erwartet Lob und kriegt es auch. Allerdings würde ich ihr gerne sagen, dass der Lichtschalter besser bei der Tür und nicht zuhinterst im Raum angebracht werden sollte. Und ein paar Haken im Badezimmer wären auch nicht schlecht. Und wenigstens eine einzige Stromdose, die auch wirklich funktioniert …

Aber wir wollen ja ihr Wohlwollen behalten, also lassen wir’s …

 

Letzter Besuch

Ein letzter Besuch in der inzwischen liebgewonnenen Stadt.

Samstag, der Teufel ist los. Es scheint, dass sich die halbe Stadt zwischen den Ständen, in den engen Gassen, auf den Plätzen herumtreibt. Ich geselle mich zu ihnen, lasse mich vorwärts-, seitwärts-, rückwärtsschleppen, ohne Ziel, ohne Wunsch, ohne Absicht.

 

Medellin Streets

Medellin Streets

 

Traurige Musik

Musik erklingt von weitem, ich kann nicht widerstehen und suche die Quelle der musikalischen Überraschung. Sie klingt traurig und verloren. Und ich finde sie. Zwei ältere Herrschaften sitzen auf einer Parkbank, zwei Gitarren, zwei brüchige Stimmen, die den Ton nicht immer finden.

Die Leute gehen achtlos vorbei. Niemand interessiert sich für die beiden alten Musikanten, obwohl ihre Darbietung vielleicht die einzige und letzte Möglichkeit ist, etwas Geld zu verdienen. Sie reagieren mit einem kurzen Nicken auf meine bescheidene Gabe, als wüssten sie ganz genau, dass der vor ihnen stehende Tourist mehr Geld in der Tasche hat, als sie in einem Jahr verdienen.

Die Ungerechtigkeit der Welt …

 

Musicians on the street in Medellin

 

Ein letztes Mal ins Malaga

Nach sovielen Wochen hat sich (endlich) eine innere Ruhe eingestellt. Der Adrenalinspiegel sinkt, alle Ungewissheiten sind weg. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass sich die Reise dem Ende nähert, dass alle Busfahrten gekauft, die restlichen Hotels gebucht, die nächsten Strecken klar sind.

Fast ein wenig langweilig. Natürlich auch ein letzter Besuch bei den alten Tangoherren im „Malaga“, doch heute scheint wenig los zu sein. Einer der besonders aktiven Tänzer von letztem Samstag hat sich in Schale geworfen und wirft begehrliche Blicke um sich, allerdings ohne Erfolg. Vielleicht am Sonntag …

Im TV läuft Juventus Turin gegen irgendwen. Fussball ist allgegenwärtig. In buchstäblich jedem Restaurant läuft den ganzen Tag über ein Spiel nach dem anderen. Ich muss gestehen, dass ich die letzten Wochen, vor allem hier in Kolumbien, soviele Fussballspiele gesehen habe wie sonst in einem halben Jahr zusammen. Die südamerikanische Champions League, irgendwelche Spiele der brasilianischen oder argentinischen Liga, kolumbianische Cup-Spiele, regionale Ligen so wie ungefähr Niederurnen gegen Mollis, und natürlich die Qualifikationsspiele für die Fussball-WM in Russland.

 

Paisa

Am Abend bei heftigem Regen (!) das letzte Abendessen, bei Fussball natürlich. Ich wähle eine kolumbianische Spezialität, irgendwas mit „Paisa“, möglicherweise das bevorzugte Essen der Bauern.

Auf jeden Fall ist sie reichhaltig. Ich versuche mal, mich zu erinnern, woraus sie besteht: Reis, eine Chorizowurst, ein riesiger Knochen (Rückgrat?) eines undefinierbaren Tieres (Schwein?) mit ein paar Fleischfetzen daran, eine halbe Kochbanane, Salat mit Tomaten, ein Topf Bohnen, Arepa, ein Spiegelei, und allerhand Undefinierbares, das ich zwar versuche, aber dann doch lieber liegenlasse.

 

Paisa - the colombian national dish

Ich bin auf jeden Fall satt und verziehe mich anschliessend ein letztes Mal in ein heisses Zimmer, in ein Bett, wo es keine Decke bis ans Kinn zu ziehen gilt. Ab Morgen ist alles anders, denn Bogotà liegt wieder auf knapp 3000 Metern, und es soll dort ziemlich kalt sein, wie mir berichtet wird …

 

Kilometerstand:  9659

Song zum Thema:  Free – Morning sad Morning

Und hier geht die Reise weiter … nach Bogota, dem letzten Ziel

 

Südamerika

Medellin – Botero und seine Albtraum Gestalten

Der Nachtbus nach Cartagena fährt erst um acht (wenn ich Glück habe und ein Ticket kriege).

Also bleibt mir beinahe ein ganzer Tag, um mich ein weiteres Mal der Stadt zu erfreuen. Erstes Ziel: das Museo Casa de Memoria. Es soll an die schlimmen Zeiten erinnern, als die Stadt ein Kriegsschauplatz war, einer der grausamsten zu jener Zeit.

 

La Casa de Memoria

Von aussen sieht das Gebäude bescheiden aus, beinahe versteckt zwischen den Häusern, ein langgezogener grauer Komplex, umgeben von einem Park. Der Eintritt ist frei; damit will man wahrscheinlich auch diejenigen zu einem Besuch animieren, die sich einen Eintrittspreis nicht leisten könnten.

Die Innenräume sind düster, das Licht gedämpft, die Ausstellungsobjekte sachlich und emotionslos zur Schau gestellt. Hier ist nicht das Ziel, den Besucher mit verstörenden Fotos der Opfer zu erschrecken, das ist nicht Tuol Sleng in Phnom Penh. Die Wirkung ist aber genauso eindrücklich.

Zum Beispiel werden in einem sehr dunklen Raum, wo man kaum noch den Ausgang findet, Fotos an die Wand projiziert, nicht Bilder von Toten und Ermordeten, sondern die der noch Lebenden, im Kreis ihrer Familie, mit ihren Kindern oder Eltern oder Freunden.

Zuerst sind alle Personen farbig, dann werden die Nichtbetroffenen schwarzweiss, während das Bild des Opfers farbig bliebt. Daneben steht der Name: Juan Martinez, 28 Jahre, verschollen. Pablo Jimenez, 35 Jahre, ermordet. Eindrücklich. Es ist nicht der Hammer auf den Kopf wie in Kambodscha, aber die Gefühle werden trotzdem auf sehr einfache und unmissverständliche Weise aktiviert.

 

Der Salon Malaga

Danach brauche ich einen Aufsteller, ein Kaffee mit einer Art Flan dazu ist genau das richtige. Im TV läuft eben der Final in Miami, und unser Roger, der alte Hase, ist wieder mal in Bestform und lässt seinem ewigen Rivalen Rafa Nadal keine Chance. Die junge Dame neben mir, offensichtlich eine Spanierin, is not amused, was ich mit grosser Genugtuung zur Kenntnis nehme.

Schon am Vortag ist mir ein Lokal aufgefallen. Schon von weitem ist die Musik zu hören, sie übertönt sogar das laute Durcheinander auf den Strassen. Es scheint sich um eine lokale Berühmtheit zu handeln und nennt sich Salon Malaga.

 

La Malage
La Malaga

Es ist voll von Artefakten zum Thema Tango, Musik, Tanz. An den Wänden hängen unzählige Bilder verblichener oder noch lebender Tangohelden, und auch ein grosser Teil des Publikums ist zwar noch nicht verblichen, aber nicht allzu weit davon.

Ausnahmsweise wird das Durchschnittsalter durch mich eher gesenkt als gehoben, was meinem Feel-Good-Level zu einem gehörigen Schub verhilft.

 

La Malage - dead and living Tango Heroes
La Malaga – Lebende und tote Tango Helden
There are many of them
Es gibt viele davon
Surrounded by Heroes
Umgeben von Tanz Helden

 

Die Herren bitten zum Tanz

Heute ist wieder Show angesagt (Sonntag!).

Das Lokal ist voll, die älteren Damen und noch älteren Herren haben sich bereits auf der Tanzfläche zusammengefunden, es wird zu wunderbaren, wahrscheinlich uralten Tangomelodien getanzt, geschwoft, ganz dem Rhythmus ergeben.

Ich bin hin und weg und kann gar nicht genug kriegen von diesem einmaligen Schauspiel, das es in dieser Ausprägung wahrscheinlich nur noch in Argentinien geben dürfte. Sobald die Melodie ausklingt, geleiten die Herren ihre Damen gentlemanlike zu den Tischen, während sie sich bereits nach der nächsten Dame umsehen. Unendlicher Spass.

Einige der Herren sehen so verschrumpelt aus, dass sie das Pensionsalter schon einige Zeit hinter sich gebracht haben müssen, aber tanzen, mein Gott, tanzen können die Kerle wie der Gott des Tangos persönlich.

 

Ein kleines Detail noch, was zu jedem Lokal in Kolumbien (oder auch anderswo in Südamerika) gehört: obwohl die Musik spielt und die Herrschaften tanzen, sind zwei riesige Flachbildschirme, allerdings ohne Ton, in Betrieb. Auf dem einem wird ein Fussballspiel gezeigt, auf dem anderen läuft eben „Airforce One“, ein Actionkracher mit Harrison Ford. Allerdings guckt niemand zu, was aber erwartungsgemäss kein Schwein interessiert. Ein lustiges Ländchen, dieses Kolumbien …

 

Parque de Botero

Irgendwie passt der berühmteste Künstler des Landes, Fernando Botero, zum oben gesagten. Es gibt einen Parque de Botero, wo unzählige seiner sehr eigenwilligen Figuren ausgestellt sind und für alle Foto-, Selfie- und Videofreaks der Welt zu einem beliebten Sujet geworden sind.

Wer Botero nicht kennt, der kann sich vielleicht schon mal an die voluminösen nackten Damen oder Herren, mit riesigen Ärschen und atomaren Brüsten erinnern.

 

Botero 1 Botero 2 Botero 3 Botero 4 Botero 5 Botero 6Botero 7 Botero 8

Botero 11Botero 13

 

Das Museum Botero

Das nahegelegene Museum stellt eine ganze Reihe mir unbekannter kolumbianischer Künstler ins Zentrum, allerdings ist die Etage, die sich ganz der Bilderkunst Boteros widmet, das eigentliche Highlight.

Seine Gemälde leben von der Spannung, die sich durch den Gegensatz der Üppigkeit der menschlichen Figur und der gleichzeitigen Reduktion der Details aufbaut. Auf jeden Fall ist man am Ende der Tour völlig erschlagen und hat das unbestimmte Gefühl, in den folgenden Nächten durch „die Üppigkeit der menschlichen Figur“ massiven Albträumen ausgesetzt zu sein …

 

Botero Meseum 1 Botero Meseum 2

Botero Meseum 3 Botero Meseum 4

Und so geht Medellin Part I zu Ende. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass auch der Rückweg nach Bogota hier durchführt. Allerdings mit der Erkenntnis, dass die vor mir liegende Nachtbusfahrt ein weiteres Mal in umgekehrter Richtung erlitten werden müsste. Wir werden sehen …

Einem Wiedersehen mit Medellín bin ich auf jeden Fall nicht abgeneigt.

 

Kilometerstand: 8331

Song zum Thema: The Cramps – Naked Girl falling down the Stairs

Und hier geht der Trip weiter … nach Cartagena

 

 

Südamerika

Medellin – Das Herz der Finsternis

Ausgerechnet in dieser Nacht funktioniert das WIFI nicht, und so schlafe ich einigermassen unbehelligt dem Morgen entgegen, während 10’000 Kilometer nordöstlich ein lustiges kleines Mädchen namens Mila Sofia das Licht der Welt erblickt.

 

Welcome to our world, princess Mila Sofia!

Ich muss es irgendwie gespürt haben, denn schon früh am Morgen, das iPad in der Hand, stolpere ich müde und mit halb geschlossenen Augen in den Gang hinaus, wo das WIFI eventuell funktionieren könnte. Ich öffne die Mailbox, und das erste, was mir entgegenblickt, ist das wunderbar friedliche Gesicht meiner ersten Enkelin.

 

My first granddaughter - Mila Sofia
Meine erste Enkeltochter – Mila Sofia

Und so ist das kleine Mädchen DAS Gespräch Nummer eins beim Morgenessen. Es dürfte selten sein, dass ein Neugeborenes von so vielen unterschiedlichen Nationen gefeiert wird. Kanadier, Franzosen, Spanier, Kolumbianer, Amis, Australier … gratulieren mir von allen Seiten, man schüttelt mir die Hand, umarmt mich, klopft mir auf die Schultern.

Dabei habe ich nichts beigetragen, ausser der Vater meiner Tochter zu sein …

 

Medellín ist eine grossartige Stadt

Es ist von Anfang an ein guter Tag. Mila Sofia eröffnet den Reigen positiver Erlebnisse dieses besonderen Tages in Medellin, und auf diese Weise geht es weiter.

Mit der Metro fahre ich zur Station San Antonio mitten im Stadtzentrum und wow! Innert Sekunden spüre ich, dass diese Stadt etwas Besonderes ist. Genauso wie für Cali im Nu den Daumen nach unten ging, geht er hier nach oben.

Wenn man bedenkt, wie es zu Zeiten Pablo Escobars aussah, muss man sich wundern (by the way – wer sie nicht bereits kennt, es gibt eine sehenswerte Netflix-Serie namens „Narcos“, die das Leben und Sterben des berühmtesten und berüchtigsten Sohnes der Stadt fiktionalisiert – nicht verpassen!).

Eine besondere Energie scheint der Stadt aus allen Poren zu triefen. Das Wetter ist so schön, wie man es sich nur wünschen kann, nicht zu heiss, aber vor allem nicht mehr kalt. Etwas Leichtes liegt in der Luft, etwas Schwebendes, Schwereloses. Es scheint, als hätte die Stadt an diesem Tag ihr schönstes Antlitz aufgesetzt.

 

Medellin

Medellín ist die Hauptstadt des Departamento Antioquia in Kolumbien.

Mit mehr als 3,7 Millionen Einwohnern ist es die zweitgrößte Metropolregion Kolumbiens nach der Hauptstadt Bogotá und liegt im Aburrá-Tal, ein Tal des mittleren Bergzugs der Anden im nordwestlichen Kolumbien, auf einer Höhe von 1538 m.

Medellín wird daher auch Capital de la Montaña, Hauptstadt der Berge, genannt. Medellín verfügt als einzige Stadt Kolumbiens über eine Hochbahn (eröffnet 1995), die die Stadt mit ihrer Umgebung verbindet. Die Metro de Medellín hat zwei Linien mit insgesamt 42 km Schienennetz. Die Stadt betreibt auch zwei Seilbahnlinien zu den Armenvierteln Santo Domingo und San Javier sowie die Ayacucho Tram, eine spurgeführte Oberleitungstramlinie nach dem System Translohr. Pro Jahr transportieren die Seilbahnlinien rund 100 Millionen Passagiere.

 

Pablo Escobar

Berühmt geworden ist der Name Medellín über das berüchtigte Medellin-Kartell, das neben dem Cali-Kartell Anfang der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre der größte Kokain-Exporteur weltweit war.

Es wurde unter anderem von Pablo Escobar geführt und konzentrierte seine Aktivitäten von der kolumbianischen Stadt Medellín bis zu den Absatzmärkten in den USA mit dem Schwerpunkt in Miami und Florida. Die Entstehung des Kartells, das eher den Charakter einzelner, nebeneinander agierender illegaler Unternehmen als den einer straff geführten, kriminellen Organisation wie zum Beispiel der sizilianischen Mafia trug, war eng mit der rasant steigenden Nachfrage nach Kokain in den USA Ende der 1970er verbunden.

Von der amerikanischen DEA wurde die Behauptung aufgestellt, dass das organisierte Verbrechen des Medellín-Kartells 80 Prozent des US-Marktes beliefere, nach Darstellung des Time-Magazins sogar 80 Prozent des Welthandels. 1975 exportierte das Land etwa eine Jahresmenge von 4.000 Kilogramm in die USA.

Die Transportrouten von Medellín über Norman’s Cay nach Miami/FL wurden seit 1978 von Carlos Lehder kontinuierlich ausgebaut. Die Blütezeit des Medellin-Kartells stellten die 1980er Jahre dar. Nach dem Tod von Pablo Escobar und dem Niedergang des Kartells, änderten sich auch die Transportwege. Von Medellín, und Cali wurde das Kokain über La Ceiba in Honduras nach Tampico oder nach Brownsville in Texas verschifft. Ende der 1980er Jahre passierten 80 % des Kokains, das in die USA verkauft wurde, die mexikanische Grenze und begründete somit den Aufstieg mexikanischer Kartelle, wie zum Beispiel dem Sinaloa-Kartell.

Aber eigentlich will ich das alles gar nicht wissen, zuviel Blut und Tränen haften an diesen unseligen Erinnerungen. Ob die Stadt ihre unrühmliche Vergangenheit definitiv hinter sich gelassen hat, wird sich zeigen. Ich bin zuversichtlich, denn das, was an positiven Vibes in der Luft liegt, ist schon mal ein Anfang.

 

Lebenslust pur

Soviel zur bösen Vergangenheit der Stadt, von der man an diesem wunderbaren Tag nichts zu spüren scheint. Ich lasse mich tragen, durch die Gassen, die in alle Richtungen führen, zwischen den dichtgedrängten Verkaufsständen hindurch, die seltsamerweise fast alle nur Mützen verkaufen. Keine Ahnung, warum ausgerechnet Medellín eine derartige Vorliebe für farbige Mützen besitzt.

Restaurants in allen Farben laden ein zum Drink, natürlich erklingt aus allen Türen und Fenstern Musik, Salsa wie in Cali, aber entspannter, nicht so übergriffig.

 

Restaurant in Medellin

Obwohl die Stadt sich ja vor allem einen Namen als Drogennest gemacht hat, ist sie viel mehr. Ich nehme mir den Stadtplan vor, folge anschliessend den Strassen, passiere alte Gemäuer und Kirchen und Kathedralen (wen wundert’s) und bin einmal mehr beeindruckt von der reichhaltigen Vergangenheit, die in erster Linie auf die Hinterlassenschaften der katholischen Kirche zurückgehen.

 

Cathedral in Medellin The old spanish architecture in Medellin

 

Eine Protestdemo

Und dann, wie aus dem Nichts, vielstimmiger Lärm, Musikinstrumente, Lautsprecher, alles, was zu einer gehörigen Demo dazugehört.

Da ich nicht die geringste Ahnung habe, erkundige ich mich vorsichtig bei einer älteren Dame, sie lacht, als erriete sie meine Gedanken, und klärt mich auf. An diesem Samstag finden überall im Land Demonstrationen gegen die Regierung Santos statt und gegen den vom Volk knapp abgelehnten Friedenspakt zwischen Regierung und FARC, der dann aber in etwas abgeschwächter Form trotzdem umgesetzt wurde. Dies scheint immer noch grossen Ärger hervorzurufen; allerdings läuft alles sehr friedfertig ab und gleicht eher einer Art Volksfest.

Alles bleibt friedlich, die Polizei hält sich zurück, man feiert den Tag, der sich allerdings langsam mit dunklen Wolken verdüstert.

 

Protesters in Medellin

 

Die Comuna 13 – das ehemalige Herz der Finsternis

Allerdings muss ich Punkt halb zwei zurück im Hotel sein, denn dann beginnt die sogenannte Graffiti-Tour, die in eines der berüchtigsten Viertel der Stadt führen soll, die Comuna 13, also dorthin, wo vor wenigen Jahren noch Mord und Totschlag alltäglich war.

Wir sind ein farbiges Trüppchen, altersmässig mit grossem Vorsprung von mir angeführt. Zwei junge Burschen, Einheimische, führen das Unternehmen als Führer an. Wir folgen ihnen mit leicht gemischten Gefühlen, denn wie gesagt, auf diesen Strassen, Gassen, Treppen ist das Blut unzähliger Opfer versickert.

So betreten wir also das Herz der Finsternis, steigen die Treppen hinauf oder lassen uns durch Rolltreppen in die höheren Gefilde führen. In diesen Katakomben und Labyrinthen, in diesen verschachtelten Hütten und Häusern, lebten zehntausende Menschen, darunter Familien, Kinder, alte Leute, umgeben vom schlimmsten Abschaum der Menschheitsgeschichte.

Hier bekämpften sich die Narcos mit den Ultras und der Polizei und der Armee und der FARC, bis vor einigen Jahren die Regierung den Nothebel zog und in einer Nacht- und Nebelübung alles dem Erdboden gleichmachte. Viele hundert Menschen, die meisten wahrscheinlich unschuldige Opfer, kamen bei dieser Übung ums Leben.

Alles, was wir bisher erzählt haben, ist Vergangenheit, behaupten unsere ziemlich schlecht Englisch sprechenden Guides. Jetzt, gut sieben Jahre später, ist alles anders. Keine Drogen mehr, keine Morde, alles geordnet, die Lebensfreude ist zurück, die Kinder spielen nun wieder ohne Gefahr.

 

Comuna 13 in Medellin 1

Comuna 13 in Medellin 2

Comuna 13 in Medellin 3

Comuna 13 in Medellin 4

 

Ein neues Image

Dass hier vor nicht allzu langer Zeit Mord und Totschlag herrschte, wo jeder  Schritt aus dem Haus den Tod bedeuten konnte, ist nicht vorstellbar. Und trotzdem geschichtlich relevant. Die beiden Guides versuchen ihr Bestes, uns Fremden die damalige Zeit mit allen unvorstellbaren Tragödien nahezubringen, doch sie schwenken schnell (wir sind trotz der Faszination dankbar) zur Gegenwart zurück.

Die Behörden haben nach dem Ende des Drogenkartells alles versucht, der Stadt und insbesondere diesem  notorischen Viertel eine neue Zukunft, ein neues Image zu verpassen. Es ist ihnen ganz offensichtlich gelungen. Anstatt Drogen und Kriminalität hat sich nun eine Art Alltag eingefunden. Die Leute sind freundlich, nur manchmal ein schräger Blick auf die jungen und naiven Besucher, die aus ihren behüteten Ländern kommen und sich nun auf einer Sightseeing Tour an der bösen Vergangenheit des Viertels aufreizen.

 

Hat das Gute im Menschen gesiegt?

Nicht dass ich als alter Zyniker nicht auch an das Gute im Menschen glauben könnte und Verhaltensänderungen durchaus Glauben schenken kann, aber in diesem Fall bin ich skeptisch.

Ich könnte mir eher vorstellen, dass das Ganze nun etwas heimlicher geschieht, sozusagen unterhalb der Sichtbarkeitsgrenze. Die allgegenwärtige Korruption ist doch immer noch vorhanden, die verschwindet nicht einfach von einem Tag zum anderen, vor allem nicht durch ein Dekret der Regierung (die ja ebenfalls Teil des Spiels ist).

Na ja, wie auch immer, beim Gang durch die Gassen stellt sich das merkwürdige und überraschende Gefühl ein, dass es sich hier tatsächlich gut leben lässt. Kinder spielen in den engen Gassen, die verschachtelten Häuser bieten Lebensraum für die unterschiedlichsten Bewohner jeden Alters, man hört Stimmen, Lachen, Musik. Alte Männer sitzen vor ihren Häusern, Frauen hängen Wäsche auf, überall klingt Salsa aus den Häusern …

Täuscht der Schein tatsächlich? Oder doch nicht?

 

Houses in Comuna 13 in Medellin 1

Houses in Comuna 13 in Medellin 2

Bei der Betrachtung der Umgebung mit den bemalten Häusern in rot, orange, grün, blau, braun, verschachtelt übereinander gebaut, an den steilen Abhang geklammert, denke ich zum ersten Mal – und bin selbst am meisten verblüfft dabei – dass ich hier leben könnte.

Das hat aber nicht nur mit den Häusern zu tun, sondern mit dem, was das Viertel zu einem touristischen Hotspot gemacht hat.

 

Die Graffitis

Ob es ein geplanter Schachzug der Behörden war oder ein Zufall mitgewirkt hat – das Hauptinteresse der Besucher gilt nicht nur der blutrünstigen Vergangenheit der Comuna 13, sondern in erster Linie den besonderen Highlights des Viertels.

Es sind nicht die ersten umwerfenden Graffitis in Südamerika, man erinnere sich an Buenos Aires, an Cochabamba und andere. Aber was hier an allen Mauern dargeboten wird, ist reine Kunst. Die Kunst der Graffitis.

Wir werden an all den Gemälden vorbeigeführt, wir staunen, möchten verweilen, die Ausstrahlung wirken lassen. Aber die Zeit drängt, man wird weitergehetzt, von einem Bild zum anderen, ist erschlagen und kann nicht aufhören, zu staunen, zu bewundern.

 

Medellin Graffiti Comuna 13 nr 1

Medellin Graffiti Comuna 13 nr 2

Medellin Graffiti Comuna 13 nr 3

Medellin Graffiti Comuna 13 nr 4

Medellin Graffiti Comuna 13 nr 5

Medellin Graffiti Comuna 13 nr 6

Medellin Graffiti Comuna 13 nr 7

Medellin Graffiti Comuna 13 nr 8

Medellin Graffiti Comuna 13 nr 9

Medellin Graffiti Comuna 13 nr 10

 

Kilometerstand: 8331

Song zum Thema:  Talking Heads – Drugs

Und hier geht der Trip weiter …

 

Südamerika

Von Cali nach Medellin – Regen und Nebel

Habe ich schon erwähnt, dass es wieder einmal regnet?

Es regnet. Beim Frühstück drängen sich alle unter dem grossen Sonnenschirm bzw. Regenschirm und machen sich den Platz streitig. Da es aber ein warmer Regen ist, stört es niemanden. Tja, und dann wieder ein Abschied, allerdings ohne Tränen. Ein weiterer Bus mit einem hoffentlich weniger geistesschwachen Fahrer am Steuer.

Das Verbrechernest fällt schnell hinter uns zurück, der übliche leicht wehmütige Blick zurück entfällt diesmal. Schauen wir vorwärts. Lange Kilometer rasen wir über schnurgerade Autobahnen Richtung Norden.

 

FRom Cali to Medellin

 

Hollywood-Verkaufsgespräche im Bus

Aber heute ist Unterhaltung angesagt, zur Abwechslung wieder mal das bereits mehrfach erlebte Spektakel, genannt Verkaufsgespräch im Bus.

Die Vorstellung, dass sich in einem Schweizer Postauto zuvorderst ein Fremder hinstellt und eine zwanzigminütige Eloge über die gesundheitlichen Vorteile einer mit besonderen Kräften ausgestatteten Kette aus Silber (oder was auch immer) hält, ist ziemlich schräg, aber hier offenbar alltäglich. Die Verkäufer, meistens Männer aber gelegentlich auch junge Damen, legen los, ziemlich laut natürlich, ohne Punkt und Komma und ohne ein einziges Mal Luft zu holen.

Sie sind geborene Redner, die es in der Politik weit brächten, Schauspieler, die in jedem Hollywoodfilm eine Rolle finden würden. Auf jeden Fall ziehen sie das Publikum im Nu in ihren Bann (ausser natürlich den einzigen Extranjero im Bus, der wieder mal gar nichts glaubt und entweder mit grimmigen Blicken oder kompletter Verachtung bedacht wird).

Heute werden die mit Begeisterung vorgetragenen Ansprachen von einem Zweier-Team gehalten, die sich abwechseln und offenbar eine Art Arbeitsteilung eingeübt haben. Während der eine redet, hält der andere die entsprechenden Gegenstände in die Luft und geht durch die Reihen nach hinten. Heute sind es Handys, Ladegeräte für Handys, Selfiesticks, undefinierbare andere elektronische Geräte, aber schliesslich auch Kaugummis und andere Süssigkeiten.

Und die Kerle haben Erfolg. Jedem – ausser mir! – wird ein Gegenstand zur näheren Betrachtung in die Hand gedrückt. Später dann kommt der andere, zieht entweder das Geld ein oder nimmt den Gegenstand wieder an sich. Konservativ geschätzt kauft die Hälfte der Passagiere mindestens einen Gegenstand (beim ersten Verkäufer, dem mit den Gesundheitsketten, sass eine ältere Dame neben mir, die sogar drei dieser blöden Ketten kaufte; ich dachte einen Augenblick lang, sie zu warnen, liess es aber sein; jeder ist seines eigenen Glückes Schmied).

Beim nächsten Halt steigen die Verkäufer aus, sehr positiv gestimmt, wie mir scheint. Kein Wunder. Aber ich muss zugeben, sie haben ihren Lohn redlich verdient. Sowas muss man erst mal können …

 

Regen und Nebel – unsere permanenten Begleiter

Nach knapp drei Stunden haben wir die Hälfte der über 400 Kilometer geschafft.

Wow! Wenn das so weiter geht, sind wir nachmittags um drei in Medellín. Aber natürlich zu früh gefreut, denn es geht nun wieder in die Berge. Je weiter wir an Höhe gewinnen, desto mehr verdüstert sich der Himmel, blasse Nebelfinger tasten sich aus allen Richtungen heran, zucken den Boden entlang, streichen feuchtkalt um die Fenster.

 

There is something brewing
Da braut sich was zusammen
Clouds getting nearer
Die Wolken kommen näher
and here they are
Und hier sind sie – dunkel und nass und bedrohlich

Wie war das nochmal mit Ferien im südlichen Sommer?

Die Geschwindigkeit nimmt nun rapide ab, der Bus schleicht den Berg hinauf, Kehre um Kehre, und wird immer wieder gezwungen, einen dieser monströsen 60-Tönner Lastwagen zu überholen. Wenn man an ihnen vorbeifährt, hat man den Eindruck, dass die Kolonne endlos ist.

Irgendwann eine Unfallstelle, wen wundert’s bei diesen Manövern.

Lange stehen wir, niemand weiss, was los ist, bis unser Busfahrer die Nerven verliert und auf das Gaspedal drückt, die Kolonne überholt und es tatsächlich schafft, am völlig zerknautschten Überbleibsel eines Lastwagens vorbeizukommen.

Was soll man da sagen? Wir sind einerseits froh, andererseits bewusst, welche Risiken unser geliebter Driver eingegangen ist.

 

Sometimes a small village sometimes a few Tuktuks Colombian style

Es gibt wenig zu sehen, was nicht schon tausend Mal am Busfenster vorbeigezogen ist. Gelegentlich ein Dorf oder ein Städtchen, ein paar Häuser, farbige TukTuks, Busse, vollgestopft mit tausend Leuten, dann wieder lange nichts, ausser Bäumen und Sträuchern und grünen Wiesen und Weiden und Abhängen und Hügeln und Bergen. Und manchmal ein Fluss, gelbes schnelles Wasser mit sich führend, dann wieder lange nichts.

So vergeht der Tag.

 

Sometimes some trees, bushes, green green grass of homeAnd then a brook with yellow fast water

Die einzige Abwechslung – ein Stopp im Nirgendwo.

a very welcome bus stop

Es dauert halt doch wie angekündigt seine zehn Stunden, und einmal mehr ist es stockdunkel, als wir in Medellín ankommen. Ausnahmsweise kennt der Taxifahrer die Adresse oder zumindest die Strasse, und so erreichen wir das Hostal Rich, das einrichtungsmässig hoffentlich seinem Namen alle Ehre macht. Silvia, die Hotelmanagerin, Eigentümerin und Mädchen für alles erwartet mich bereits und heisst mich willkommen. Schön …

 

Kilometerstand: 8331

Song zum Thema: Bruce Ruffin – Rain

Und hier geht die Reise weiter … in Medellin