Angezeigt: 1 - 2 von 2 ERGEBNISSEN
Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Die Vollkommenheit des Tages

Man würde meinen, dass ein chinesisches Frühstück aus Reissuppe oder Nudelsuppe besteht, vielleicht noch aus Jiaozi mit Hackfleisch und Chinakohl gefüllt. Oder auch Baozi oder Youtiao. Das hätte mir gefallen.

Aber nichts dergleichen. Man hat sich an die lokalen Essgewohnheiten angepasst und serviert Brot mit Butter und Marmelade und Käse und Schinken. Das Brot allerdings, das muss gesagt werden, ist das beste, was ich seit Monaten gegessen habe. Und das in einem chinesischen Hotel.

Die Wege des Herrn sind wirklich unergründlich.

Anyway, um 9.50 fährt das Schiff ab, ich kann mir Zeit nehmen, würde liebend gerne mit dem Personal auf Mandarin die letzten Gerüchte und Neuigkeiten diskutieren, aber eben, mein Chinesisch beschränkt sich auf Danke und sonst nichts. Schade.

Das Schiff scheint bereit zu sein für die Abfahrt, ich steige ein, freue mich auf die Überfahrt, während mein Herz etwas schwer wird beim Gedanken an den Abschied von Neuenburg, das mir so sehr gefallen hat.

Aber dann geht’s los. Das Schiffshorn tutet und kräftige Dieselmotoren bringen das Schiff in Bewegung.

Ich bin zwar weiss Gott keine Wasserratte, aber solche Überfahrten sind schon eine besondere Freude. Und da, ein riesiger Vogelschwarm, den ich leider nicht einer bestimmten Art zuordnen kann, zieht pfeilschnell knapp über das Wasser der Stadt zu. Sind es Zugvögel, die sich hier sammeln? Keine Ahnung.

 

Bye bye Neuchatel

Last glimpse on the Chaumont

Neuchatel stays behind

 

 

Zwischen Wäldern und Wasser

Auf mich wartet offenbar wieder mal eine grossartige Etappe, gemäss meinem Lieblingsautor und -wanderer Patrick Leigh Fermor ein Weg zwischen Wäldern und Wasser.

Auch der Guide ist begeistert:

Der Neuenburgersee wird mit dem Schiff überquert. Von weitem grüsst der imposante Mont Vully. Der Aufstieg ist steil, aber kurz. Oben wartet eine tolle Rundsicht. Durch den prächtigen Uferwald Le Chablais geht es ins mittelalterliche Städtchen Murten.

 

From Neuchâtel to Murten

Weder Guide noch Fermor haben sich getäuscht – sobald man in Cudrefin das Schiff verlässt, findet man sich auf einem traumhaften Pfad wieder, der mal durch dichten Wald, dann wieder entlang dem See führt.

Es gilt wieder einmal, die Momente auszukosten, langsam zu gehen, der Schönheit ihren Platz und ihre Zeit zu geben. Fernando Pessoa würde von der strahlenden Vollkommenheit des Tages reden. Ich muss ihm zustimmen. Jawohl.

Und so geht der Weg weiter, immer weiter, der Sonne und den Schatten nach, der Vollkommenheit des Tages.

Danach folgt das Naturschutzgebiet des Grand Caricaie. Das Gebiet ist ein wichtiges Zwischenziel für die Vögel auf dem Weg von den nordischen Steppen zu den Küsten Europas und Afrikas. Nirgends in der Schweiz leben mehr Vogelarten als hier.

 

It's just a path, but as every one still a miracle

And then the lake again, with all its splendor

The trees bow to each other (Aragorn to the Hobbits: you bow to noone)

Hanging branches or are they beards of dwarfs?

Und da, mitten im Gehölz, ein besonderer Leckerbissen für Spechte. Für sie muss es wie eine Art Tafelschmaus für Ritter und Prinzessinnen sein. Ich höre in Gedanken das rhythmische Klopfen der scharfen Schnäbel auf das wehrlose Holz. TOK TOK TOK.

Tok tok tok ….

 

A tidbit for woodpeckers

 

Befestigungen, Findlinge und Nüsslisalat

Etwas später verlässt der Weg den Neuenburgersee und zweigt nach Osten ab, von jetzt an dem Broyekanal (Canal de la Broye) folgend. Er verbindet den Murtensee mit dem Neuenburgersee.

Dieser letzte Abschnitt zwischen Murten- und Neuenburgersee wird auch Broyekanal (frz.: Canal de la Broye) genannt. Ein Kanal mit ähnlichem Verlauf wurde schon von den Römern verwendet, unter anderem für den Fernhandel sowie für die Materialbeschaffung zum Bau von Aventicum (Steinbrüche im Jura).

Alle paar Minuten wird die Stille durch das Röhren von kräftigen Aussenbordmotoren durchbrochen. Man wähnt sich irgendwo an der Côte d’Azur, wo sich Millionäre und russische Oligarchen tummeln. Hier sind es wahrscheinlich aber nur ein paar Möchtegern Millionäre, die Boote sind zwar laut und schnell, aber klein und unbedeutend. Alles ist relativ.

 

Roaring boats on the Broye Canal

Noch weiter dem Kanal entlang findet man sich plötzlich vor einer überdimensionierten offenen Halle, in der bei näherer Untersuchung Nüsslisalat angebaut wird. Man könnte meinen, dass die halbe Schweiz damit versorgt werden könnte.

 

Lamb's lettuce for half of Switzerland

Aber der Weg hat weitere Leckerbissen zu bieten.

Beispielsweise, versteckt hinter Gebüsch und Bäumen, ein riesiger Findling, vom Rhonegletscher von der Furka bis hierher transportiert. Er hat eine lange Reise hinter sich, der alte Stein.

Was könnte er uns wohl erzählen? Seit der letzten Eiszeit vor gut 20’000 Jahren ist viel Zeit vergangen. Eigentlich alles Wichtige, was die Entwicklung des Homo Sapiens betrifft, ist in diesen Jahren (ein Augenzwinkern gemessen an der Zeit seit dem Big Bang) geschehen. Was sind wir doch für Wichtigtuer.

Wie gesagt, alles ist relativ.

 

A boulder, originating from far awaym transported here by a glacier

 

Der Mont Vuilly

Doch dann beginnt der Aufstieg zum Mont Vuilly.

Nach knapp eineinhalb Stunden steht man vor dem Mont Vully und verlässt das Naturschutzgebiet. Der kleine Hügel besticht durch seine aussergewöhnlich schöne Lage zwischen dem Neuenburger-, Bieler- und Murtensee. Ein kurzer Aufstieg und man befindet sich bereits oben auf den riesigen Ackerflächen. Im Frühling blüht hier der Raps in leuchtendem Gelb. Der Abstieg erfolgt auf der Südseite. Statt Raps stehen hier in Reih und Glied die berühmten Weinberge des Mont Vully. Chasselas und Pinot Noir sind die wichtigsten Rebsorten des Gebiets. Aber auch Merlot, Chardonnay oder Gamaret werden hier gekeltert. Der Panoramablick über die Ebene und die Alpen im Hintergrund sucht seinesgleichen.

Der Pfad ist manchmal steil und anstrengend, dann wieder leicht und luftig durch schattige Wälder. Und die Aussicht auf den Murtensee ist phantastisch.

 

Up to the Mont Vuilly

Fabtastic view on the Lake of Murten

 

Helvetische Befestigungsruinen

Aber dann. ganz unerwartet (die Geschichte der Helvetier, notabene unsere gemeinsamen Vorfahren, hat sich längst aus meinem Gedächtnis verflüchtigt), eine uralte Befestigungsanlage der Helvetier. Auch nach hunderten von Jahren noch gut erhalten und zeigt, was die damaligen Baukünstler zu bieten hatten.

Ich zitiere aus mehreren Artikeln:

Dort gibt es neben der Aussicht und allerlei Kunst auch ein helvetisches oppidum zu entdecken. Von der befestigten Stadt, die in den letzten zwei vorchristlichen Jahrhunderten rund 50 Hektaren umfasste, ist ausser einer rekonstruierten Wehrmauer aber nichts mehr zu sehen: Die Helvetier hatten ihre Stadt 58 v. Chr. selber zerstort, bevor sie unter dem greisen Fuhrer Divico gegen Casars Legionen zogen und bei Bibracte in Burgund unterlagen.

Der Mont Vully beherbergt ein reiches historisches Erbe. Auf seinem flachen Rücken bestand wahrscheinlich bis zur Auswanderung der keltischen Helvetier um 58 v. Chr. ein Oppidum, dessen Festungswall noch heute gut sichtbar ist. Nach der durch Gaius Iulius Caesar erzwungenen Rückkehr der Helvetier wurde jedoch anstelle des Oppidums auf dem Mont Vully ein neues in der Nähe von Avenches errichtet (im Bois de Châtel).

 

Man steht ein bisschen ehrfürchtig vor den uralten Bauten und versucht sich vorzustellen, wie die damalige Welt ausgesehen haben muss. Eine gewalttätilge Welt (beinahe wie heute), eine Welt, in der nichts sicher war. Wo alles zerbrechlich, gefährdet, bedroht war. Wo der Feind um die nächste Ecke lauerte. In diesem Fall der alte Julius Cäsar und seine römischen Kohorten.

Lange her.

Aber auf der anderen Seite wartet die Gegenwart in Form von weitflächigen Rebbergen.

Der Weinberg von Vully hat eine Gesamtfläche von 152 ha (102 ha im Kanton Freiburg und 46 ha im Kanton Waadt). Die Hauptrebsorten des Vully sind Chasselas (mit 60 % der Produktion) und Pinot Noir (25 %). Der Hauptmarkt für Vully-Weine ist die deutschsprachige Schweiz mit rund 80 % des Verbrauchs, der Rest wird hauptsächlich im Kanton Freiburg verkauft.

Keine Ahnung, ob die diesjährige Trochenperiode Schaden angerichtet hat. Die Trauben sehen auf den ersten Blick gut aus, aber ich bin ja kein Experte.

 

Vineyards at Mont Vuilly

Seems like a good vintage

 

Erinnerungen an die Expo 2002

Nach Sugier folgt der Weg dem Murtensee entlang. Er ist lang, sehr lang, immerhin belohnt er mit immer wieder phantastischen Ausblicke auf den sich im Wind kräuselnden See. Dann wieder versteckt sich der Pfad in dichtem Wald, manchmal ist keine Menschenseele zu sehen, dann wieder ganze Gruppen, die sich offenbar für die reichhaltige Vogelwelt interessieren.

 

Across the Murten lake Lake Murten

Ich bleibe aber erst stehen, als mir ein kleines Gebäude am Ufer ins Auge fällt.

Es erinnert an die Expo 2002, die Schweizer Landesausstellung, die mir immer noch im Gedächtnis geblieben ist. Neben all den wunderbaren Exponaten in Biel und Neuenburg erinnere ich mich vor allem an den verrosteten Monolith, der genau an diesem Platz im See draussen stand.

Ein Anblick für die Götter.

Allen Anstrengungen zum Trotz konnte keine Lösung gefunden werden, den Monolith im Murtensee zu erhalten oder ihn zumindest an einem anderen Ort aufzustellen.

Sehr schade.

 

Expo.02 was the 6th Swiss national exposition - the Monolith

 

Endlich Murten

Jedes Kind kennt diesen Spruch:

Karl der Kühne verlor bei Grandson das Gut, bei Murten den Mut, bei Nancy das Blut.

Ob sich die Geschichte genau so abgespielt hat, bleibt dahingestellt. Aber dass das Städtchen Murten historisch gesehen eine Rolle gespielt hat, ist unbestritten.

Ich bin froh, das heutige Tagesziel erreicht zu haben. Ich bin mal wieder fast zwei Stunden länger unterwegs gewesen als im Guide angegeben. Immerhin erwische ich noch den einen oder anderen Blick auf das alte Städtchen mit seiner reichhaltigen Geschichte.

 

Ascent to the center of town

Old towers face darkness and night

Aber dann genug der Wälder und Wässer und Burgen und Findlinge, alles was mein Herz begehrt, kann mit einer heissen Dusche und einem kühlen Bier gedeckt werden.

 

Passender Song:  Noir Désir – Le Vent nous portera

Und hier geht der Trail weiter … nach Laupen tief im Bernbiet

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Zurück in Jinghong

Als Wanderer ist man per se jemand, der die Umwelt schützt, der das Klima schont, keine Parkplätze braucht und auch sonst – mein eigener Beitrag zu dieser Theorie – ein sehr nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft ist.

Zu meinem Erstaunen findet der Patron des Hotels genau das gleiche und gewährt mir doch gleich einen Rabatt von 10 Franken für meinen grossherzigen Beitrag zur Erhaltung der Welt. Vielleicht ein wenig übertrieben, aber für einmal komme ich mir doch glatt vor wie ein Held und stolziere mit geschwellter Brust aus dem Hotel, dem heutigen Etappenziel Neuenburg (oder Neuchatel auf gut französisch) entgegen.

Der Patron gibt mir noch einen Tipp: nicht die übliche Route gemäss Trans Swiss Trail nehmen, sondern den Weg über den Chaumont.

Gut, werde ich mir merken.

Der Guide weiss natürlich nichts davon und erzählt zur Etappe folgendes:

Das Val de Ruz entpuppt sich als ideales Wandergebiet. Auffallend die vielen Dorfbrunnen und massiven Kirchtürme. In Engollon befinden sich die einzigen Wandmalereien des Kantons Neuenburg aus der Zeit vor der Reformation. Aussichtsreicher Abstieg nach Neuchâtel.

Das klingt ja alles wunderbar, aber der Chaumont besitzt eindeutig mehr Überzeugungskraft, also wende ich mich kurz nach Dombresson dem alternativen Weg zu. Und meine tatsächlichen Werte sehen dementsprechend etwas anders aus:

Länge 16.10 km; Wanderzeit 6 h 16 min

 

From Dombresson to Neuchatel

 

Alleen und Schweine und der Chaumont

Der Patron hat nicht zu viel versprochen. Der Weg über die weite Ebene des Val de Ruiz ist ein einziges Vergnügen, auch wenn es meistens entlang Asphaltstrassen geht. Die Umgebung ist aber derart bezaubernd, dass dies zur Nebensache wird.

Und so werde ich einmal mehr zum wandelnden Meditationskünstler, tief in Gedanken versunken, auch wenn alle Sinne offen und empfänglich sind für alles, was mich umgibt.

 

Across shady alleys to Savagnier

Nur ein paar zarte Wolken sind die Garnitur zum blauen Himmel, und sonst – nichts, nur Sonne und Wärme und ein Windchen, das mir sachte ums Gesicht weht, ein Gruss vom Himmel. Manchmal gehen mir die Superlative aus, bei so viel Schönheit muss sogar die Poesie schweigen.

 

Sheep and ... ... lovely pigs

Zur Abwechslung grunzen und blöken mir ein paar niedliche Tiere entgegen, man möchte sie am liebsten mitnehmen. Ob der Wirt im Hotel in Neuenburg Freude daran hätte, ist allerdings eine andere Frage.

Das Schaf findet den seltsamen Kerl für knapp zwei Sekunden interessant, dann widmet es sich wieder der Suche nach Essbarem. Das Schwein hingegen, mit ziemlichem Hängebauch (handelt es sich um ein Hängebauchschwein?), ignoriert mich mit leisem Grunzen. Dem sage ich Desinteresse. Ich kann es ihm nicht verdenken.

 

Just blue and green and some trees Just a few clouds on the azure sky

Man bekommt unwillkürlich den Eindruck, dass dieser blaue Himmel, diese beinahe religiöse Stille rings herum, diese sich im Wind wiegenden Bäume, nur für mich gemacht sind. Für wen denn sonst, denn es ist niemand da, keine lebende Seele, nicht mal ein Auto oder ein Traktor oder sonstwas.

Also labe ich mich in diesem erhabenen Gefühl, für einmal der einzige Mensch auf Erden zu sein. Na ja, nicht ganz, da scheint doch tatsächlich jemand auf dem Acker zu stehen, ein Bauer? Auf jeden Fall zerstört er meine salbungsvollen Gedanken. Was auch sein Gutes hat …

 

Aufwärts – dem Chaumont entgegen

In Savagnier, kurz bevor der Aufstieg zum Chaumont beginnt, quatsche ich einen freundlichen älteren Mann an, man will ja gelegentlich sein Französisch anbringen. Er entpuppt sich aber als waschechter Berner, und so ist wieder nichts mit meinen Sprachbemühungen.

Auf jeden Fall findet er die Idee, über den Chaumont nach Neuchatel zu wandern, grossartig und schwärmt von der Schönheit des Hügels, der im übrigen eine topographische Fortsetzung des Chasseral bildet.

Diese Auskünfte versüssen mir natürlich den Aufstieg, auch wenn ich mich nach einer dreiviertel Stunde frage, wann denn dieser steile Weg endlich ein Ende hat. Denn er geht eigentlich in die komplett falsche Richtung, aber was soll’s, die Wegweiser werden es wohl wissen.

 

Upwards to the Chaumont

Und so wandere ich, langsam und mit geblähten Nüstern, aufwärts, bis doch tatsächlich das Ende des schnurgeraden Wanderweges auftaucht.

Er mündet allerdings in eine befestigte Strasse, an der heftig gebaut wird. Baumaschinen rattern, Arbeiter wuseln herum, man will der Strasse offenbar neuen Glanz verleihen. Zum Glück zweigt der Wanderweg von der Strasse weg, der Lärm der Baumaschienen verklingt zwischen den Bäumen.

 

Back in the woods
Nichts gefällt mir mehr als diese Waldwege …
A short break in the forest
… und natürlich die Pausen im lautlosen Wald …

 

Nicht mehr allein

Eine ganze Weile bin ich noch allein, der Wald riecht nach Sommer, nach Feuchtigkeit, nach verstecktem Leben. Ich setze mich auf einen Baumstrunk, esse geruhsam, lausche den Geräuschen des Waldes und bin wieder mal sehr glücklich.

Eigentlich habe ich auf dem beliebten Ausflugshügel massenweise Leute erwartet, aber die sind offenbar alle am Arbeiten oder was auch immer. Aber kaum gedacht, schon ändert sich alles, denn eine Schulklasse lärmt den Weg entlang, es wird laut, aber irgendwie auch schön, die Kinder und Jugendlichen in fröhlicher Stimmung zu sehen. Der Dialekt weist auf die Ostschweiz hin, ein Schulausflug zu den Welschen, wie’s aussieht.

Man wirft mir ein paar neugierige Blicke zu, denkt sich vermutlich, wie man sich freiwillig sowas antun kann.

Egal, der Weg führt nun bergab, es ist viel weiter als gedacht, immerhin blinkt ein blauer Gruss zwischen den Bäumen hindurch. Der See ist nicht mehr weit, so scheint es, aber wie immer wird man an der Nase herumgeführt. Es ist nämlich noch weit, sehr weit.

 

First glimpse of the lake

Immerhin gibt es nahe am Weg ein Restaurant, die Aussicht auf den See und die malerische Umgebung ist perfekt. Ich genehmige mir einen Kaffee, strecke die Beine aus, lausche den Gespräche der zahlreichen Gäste. Es ist wie immer eine Wohltat, allein zu sitzen, sich nicht zugehörig zu fühlen und trotzdem ein Teil davon zu sein.

Ein Teil wovon? Keine Ahnung …

Anyway, der endlos scheinende Weg trifft irgendwann auf den Trans Swiss Trail, back on track, die Stadt kommt näher, saugt mich in Blitzesschnelle auf. Verkehr, Gehupe, Nervosität, alles, was zu einer modernen Stadt gehört. Während ich etwas irritiert durch die lärmige Umgebung stadtabwärts dem See zustrebe, erreicht mich ein SMS eines alten Freundes, der eben auf einem Ausflugsschiff in den Hafen einfährt. Ich eile zwar, nur nützt es nicht viel, denn die Passagiere bleiben auf dem Schiff. Also bleibt nur ein langer Blick, und schon verschwindet das Schiff wieder.

 

Jinghong revisited

Eigentlich verrückt – ich bin mehrere Male in dieser Stadt gewesen und kenne sie doch nicht. Vom Bahnhof mit dem Bus zum Kunden und am Abend wieder zurück. Keine Zeit für Sightseeing, keine Chance, ausserhalb des Jobs etwas kennenzulernen.

Eine Schande, wie ich jetzt feststelle.

Denn die Stadt hat mich innerhalb Minuten mit ihrem Charme, ihrer Offenheit, ihrer Freundlichkeit überwältigt. Mein Hotel liegt überraschenderweise direkt am zentralen Platz in der Altstadt. Also langweilig wird es mir hier nicht werden.

Und noch überraschender ist die Tatsache, dass das Hotel du Marché von Chinesen geführt wird. Ich trete hinein und fühle mich gleich an Jinghong erinnert. Eine Gruppe chinesisch sprechenden Personen mit sehr chinesisch aussehenden Gesichtern sitzt um einen Tisch herum und mustert den komischen Kerl mit den verdreckten Wanderschuhen. Ich vernehme leises Lachen, was mich wiederum an China bzw. Hongkong erinnert.

In Jinghong wurde ich schwupps in den Kreis einer mehrköpfigen Familie mit Baby aufgenommen, nachdem ich ihr meinen Tisch im Restaurant zur Verfügung gestellt hatte. Und in Hongkong merkte ich erst nach einer Weile, dass ich das ungewollte Objekt grosser Belustigung wurde, weil man meine äusserst untalentierten Versuche, mit Stäbchen zu essen, am Nebentisch beobachtet hatte.

Wie auch immer, die Dame des Hauses schaut zwar etwas verblüfft, doch dann nickt sie, und ich nehme stolz meinen einzigen Ausdruck auf chinesisch hervor und bedanke mich. 谢谢你 (Danke, Deepl Translate, ich hoffe, es stimmt).

 

Neuchâtel – unbekannte Stadt

Der Gang durch die Feierabend Stadt erinnert mich einmal mehr daran, was man alles verpassen kann, weil man vermeintlich keine Zeit hat. Ich muss es wiederholen: diese Stadt ist ein Besuch wert.

Der Guide meint dazu:

Neuchâtel hat einen mittelalterlichen Stadtkern mit vielen Cafés und Restaurants, Museen und Theatern. Die Uhrenindustrie spielt auch hier eine wichtige Rolle. Das Observatorium im Forschungszentrum zeigt die Schweizer Zeit auf Sekundenbruchteile genau an. Am Hafen endet die sechste Etappe des Trans Swiss Trail. Von Porrentruy bis Neuenburg konnte man den ganzen Weg über knapp 100 Kilometer zu Fuss zurücklegen. Die Etappe sieben beginnt dann mit der Schifffahrt nach Cudrefin.

Am Ufer des Sees, der in allen Nuancen von blau den späten Nachmittag beleuchtet, stehen still und wahrscheinlich seit Ewigkeiten Gestalten, denen ich aber keine Namen zuweisen kann. Vielleicht handelt es sich um den anonymen Bürger namens Jeanneret (der häufigste Name in der Stadt), oder eine Dame mit Namen Madame Huguenin. Möglicherweise sind es historische Einwohner der Stadt, denen man hier ein Denkmal gesetzt hat.

Auf jeden Fall sind sie sehr beliebt bei jedem Fotographen und dienen ausserdem als wunderbare Sujets für die unausweichlichen Selfies.

 

Monsier Jeanneret und ...

... and Madame Huguenin

Der Abend und die Nacht fallen langsam und unausweichlich über die Stadt mit seinen den Feierabend geniessenden Bürgern, zu denen ich mich heute ausnahmsweise auch zähle. Ich setze mich inmitten der fröhlich schwatzenden Gesellschaft an einen Tisch und trinke langsam und genussvoll mein Bier.

Das gleiche Gefühl wie letztes Jahr in Vevey – hier könnte ich leben. Mehr Gutes kann man über einen Ort nicht sagen.

 

A well-earned beer in Neuchatel

 

Passender Song:  Bob Seger – Fire Lake

Und hier geht der Trail weiter – nach Murten und bye bye la Suisse française