Beim Frühstück habe ich mich an einen Kalenderspruch erinnert, der zwar genauso banal wirkt wie viele andere, aber irgendwie zu meiner gegenwärtigen Wanderung passt:
Gott verlangt von uns nicht, dass wir Erfolg haben, er verlangt nur, dass wir es versuchen.
Wenn ich an meine schmerzenden Achillessehnen denke, dann ist ein möglicher Erfolg zwar einen Versuch wert, aber alles andere als sicher.
Dabei fängt der Tag so wunderbar an. Mein Hotel bietet tatsächlich ein Frühstück an, nicht gratis natürlich, aber für 5€ lasse ich mich gern mit allerhand Köstlichkeiten verwöhnen. Nach all den Tostadas fürwahr eine willkommene Abwechslung.
Aber dann geht’s los, der Tag ist lang, die Strecke so stinklangweilig wie immer, aber die Anziehungskraft der Monotonie ist nicht zu unterschätzen.
Kalte Ohren
Wie erwähnt, Zamora hätte weiss Gott einen längeren Aufenthalt verdient, die 22 romanischen Kirchen hätten vielleicht doch noch ihre Magie entfaltet. Ich leiste in Gedanken Abbitte und mache mich auf dem Weg zu Decathlon, wo ich hoffe, Handschuhe und ein Stirnband zu finden.
Der Grund: in den letzten Tagen hat mich am frühen Morgen eine strenge Kühle überrascht. Klamme Finger, kalte Ohren, wenn ich ausatme, erinnert es mich an den ersten kalten Morgen im Herbst. Also muss Abhilfe her.
Der Laden liegt mehr oder weniger auf dem Weg, allerdings öffnet er erst um 10 Uhr. Ich kann mir also alle Zeit der Welt nehmen, bis mir eine nette junge Dame im Laden alles Gewünschte zeigt und ich von nun an mit allem ausgerüstet bin, was die in Zukunft zu erwartende Kälte verlangen könnte.
Eine lokale Berühmtheit
Bevor ich der Stadt endgültig den Rücken zudrehe, ein letzter Blick zurück, Nummer 17 der 22 Kirchen winkt zurück, und ich bleibe etwas irritiert vor einem riesigen Wandgemälde stehen. Der darauf abgebildete Herr muss wahrlich eine Berühmtheit gewesen sein. Auf jeden Fall macht er den Eindruck eines lokalen VIP, der politische, gesellschaftliche, kulturelle Spuren hinterlassen haben muss.
Nun, mehr interessiert mich nicht, ich überlasse ihn dem Wetter und den Winden.
Eine potentielle Orgie aus Farben
In meinem Führer steht was von Farben im Frühling, von wahren Farb- und Duftorgien, wenn die Landschaft in allen Farben leuchtet und verschwenderische Düfte produziert. Ich versuche, es mir vorzustellen, schliesse die Augen und sehe es und rieche es.
Natürlich nicht.
Ich sehe weder verschwenderische Blumenpracht noch rieche ich verführerische Düfte. Es bleibt bei braunverbrannten Ebenen, und der Geruch erinnert an Staub und verdorrtes Gras und nicht an olfaktorische Überraschungen für die Nase.
Denn es geht im gleichen Takt weiter wie gestern, einmal mehr endet der Weg im Unendlichen, verliert sich am Horizont, eine Art Sysyphus auf Spanisch. Man läuft und läuft, Erinnerungen an den VW Käfer, und scheint doch nie das Ende zu erreichen. Aber wie schon Albert Camus behauptete: Sysyphus muss ein glücklicher Mensch gewesen sein.
Und ein glücklicher Mensch bin ich tatsächlich, selten so sehr wie auf diesem unendlich scheinenden Camino. Hier wären nun ein paar tiefgründige philosophische Bemerkungen angebracht, aber die bereits wieder lauernde Hitze versetzt auch den letzten intelligenten Gedanken in eine Art vorübergehende Paralysierung.
Montamarta und eine Hochzeit
Montamarta ist von weitem zu erkennen, nicht sehr gross, wie’s scheint, 600 Einwohner, auf einer Höhe von 710 Metern gelegen. Ausserddem besitzt sie – wen wundert’s – eine romanische Kirche namens Santa María del Castillo, die aus dem 12. Jahrhundert stammt und einen schönen Glockenturm besitzt.
Viel wichtiger ist, dass ich die Dame vom Hotel anrufe und ihr versichere, dass ich in einer halben Stunde da bin. Aus irgendeinem Grund scheint Eile angesagt zu sein.
Blöd ist nur, dass der Weg grosse Bögen macht, bis er endlich ins Dorf führt, und noch blöder, dass das Hotel El Molino 1941 (der Wirt versichert mir, dass er keine Ahnung hat, wie dieser seltsame Namen entstanden ist) am anderen Ende des Dorfes liegt. Dass ich nach über 6 Stunden aus unerfindlichen Gründen Eile pressieren muss, passt mir zwar ganz und gar nicht, aber was soll’s.
Ich werde natürlich bereits erwartet. Der Wirt weist mir ziemlich ruppig das Zimmer zu und rauscht mit seiner Frau ab. Das Geheimnis lüftet sich, die Leute sind offenbar zu einer Hochzeit eingeladen.
Immerhin bin ich in einem Palast von einem Hotel gelandet. Das Zimmer ist riesig, der Wohnraum hat Platz für eine mehrköpfige Familie, ein Garten mit Swimmingpool ladet zum Bade, und mitten drin – eine Waschmaschine. So wenig braucht es für so viel Glück.
Von Montamarta nach Granja de Moreruela
Ich bin dem Wunsch, die Zukunft zu kennen, schon immer skeptisch gegenübergestanden. Und der heutige Tag beweist in aller Form, dass ich recht habe. Denn hätte ich gewusst, was heute alles auf mich wartet, wäre ich vermutlich im Bett geblieben.
Es fängt schon früh an.
Ein Bancomat from Hell
Ich stehe zwar bereits um halb 7 auf, ausgeschlafen, hungrig und freue mich auf ein tüchtiges Frühstück. Doch wieder einmal ist das Restaurant gegenüber noch geschlossen, ein kalter staubiger Wind kratzt an meiner Kehle.
Dafür entdecke ich einen Santander Bancomaten und versuche Geld zu beziehen. 300 Euros, das müsste für eine Weile genügen, doch dann geschieht das Unerwartete, nämlich gar nichts. Ma hört zwar ein Geräusch, Irgendwas dreht und dreht sich im Inneren … und bricht schliesslich ab.
The process has been aborted.
Ich versuche es ein zweites Mal, diesmal nur noch mit 140 Euros, und tatsächlich, es klappt. Schon ein bisschen seltsam, und noch viel seltsamer wird es, als ich etwas später erkenne, dass beide Beträge auf meinem Konto belastet worden sind. Da kommen mir doch gleich ein paar der phantasievollen spanischen Fluchwörter in den Sinn, die ich mir aber zwecks Jugendschutz verbiete.
Das Ende der Via de la Plata
Am heutigen Etappenziel Granja de Moreruela teilt sich der Weg. Der historische Römerweg führt weiter in Richtung Norden nach Astorga, wo sich die Via dann mit dem Camino Frances vereint. Der Weg nach Westen heisst von nun an Camino de Sanabrés.
Ich möchte eigentlich die letzten Kilometer auf der liebgewonnenen Via noch auskosten, doch die Etappe führt am Anfang vor allem an Strassen und an einer Autobahn entlang.
La Ermita de la Virgen del Castillo
Immerhin grüsst kurz nach dem Verlassen von Montamarta die Ermita de la Virgen del Castillo von einem Hügel herunter. Es handelt sich dabei um eine Kapelle, die der Schutzpatronin der Stadt gewidmet ist. Sie wurde im 16. Jahrhundert im Renaissancestil erbaut und hat einen schönen Hauptaltar, der eine flämische Tafel aus dem 16. Jahrhundert enthält.
Von oben herab hätte man einen herrlichen Rundblick über die Umgebung, vor allem aber auch auf einen verlandeten Arm des Ricobayo-Stausees. Denn eigentlich würde ich mitten durch das Wasser des Stausees wandern, aber es macht den Anschein, als hätte sich das Wasser in Staub verwandelt (wie vieles anderes).
Und noch mehr Probleme
Mit Ausnahme der Tatsache, dass der Rother-Travelguide einwandfreie Informationen bietet, ist die zugehörige App eine ziemliche Katastrophe. In Gedanken schreibe ich immer wieder böse Mails an den Verlag, wenn die digitale Anzeige der Route wieder mal verschwunden ist und sich nicht aktivieren lässt.
Es gibt manchmal Situationen, wo Wegweiser und App-Angaben nicht übereinstimmen. Noch schlimmer ist es, wenn sich die Realität von der angegebenen Route unterscheidet.
Das erste Mal führt mich Rother weit abseits der beschilderten Route auf einem selten bis nie begangenen Weg auf ein überwachsenes Feld hinaus, wo unter den Füssen Wasser emporquillt. Mein Fluch-Repertoire ist ziemlich gross.
Es wird noch schlimmer: weder die Wegweiser noch die Rother-App noch der Travelguide haben realisiert, dass es die ehemalige Unterführung unter der Autobahn hindurch nicht mehr gibt.
Man steht also mit belämmertem Gesicht vor einer Wand und fragt sich, wie man in Gottes Namen auf die andere Seite der Autobahn gelangt. Später finde ich heraus, dass es einen Kilometer weiter oben einen Übergang gibt.
Alles weitere, was sich der genervte Wanderer nun einfallen lässt, überlasse ich dem Vergessen und entsorge diesen Tiefpunkt meiner Wanderlaufbahn in die tiefste, dunkelste Schublade. Nur soviel: es spielen die Autobahn, ein hoher Zaun und ein freundlicher junger Herr der Autobahnkontrolle eine entscheidende Rolle …
Las Ruinas de Castrotorafe
Ich bin – soviel ist längst klar – ein Fan der Lord-of-the-Rings Welt. Kein schattiger Ort unter sanft wiegenden Bäumen, kein gurgelnder Bach entlang grüner Weiden und vor allem keine Ruinen ehemaliger Burgen, die nicht Bilder von Mittelerde vor mein geistiges Auge zaubern.
Zugegeben, es sind Traumwelten. Doch es sind wunderbare Welten, die sich Tolkien, ein Feind industrieller Entwicklungen und Bewahrer urtümlicher Natur, so vorgestellt hat. Schon seit den ersten Begegnungen auf dem Hippie Trail bis zu den grossartigen Verfilmungen von Peter Jackson haben mich die Hobbits, der Zauberer Gandalf, der böse Sauron in Mordor bis zu den grimmigen Kriegen in den Bann gezogen.
Und so stosse ich immer wieder auf Orte, die wieder die Erinnerungen hervorrufen. So geschehen in Ladakh, auf dem Alpenpanoramaweg und nun auch hier. Bei den Ruinen von Castrotorafe.
Denn nach ein paar Stunden – für einmal ohne weitere Probleme – tauchen die Ruinen der antiken Stadt Castrotorafe auf, die heute unbewohnt ist und im Volksmund „Zamora la Vieja“ genannt wird. Es war offenbar eine mittelalterliche Verteidigungssiedlung, die an den Ufern des Flusses Esla entstand.
Der Bau der ersten Mauer, die die Stadt umgab, muss aus dem 12. Jahrhundert stammen. Die Bedeutung des Ortes war aufgrund seiner geopolitischen Lage offensichtlich, denn er kontrollierte den Durchgang des Flusses Esla, der eine Verbindung zwischen Kastilien und Galicien darstellte.
Und die Überreste dieser alten Mauer ist das, was man vom Camino aus entdecken kann. Die Ruinen der eigentlichen Stadt liegen etwas entfernt, sicher einen Ausflug wert, aber wie immer lockt das Tagesziel und ein kühles Bier. Und so entgehen Meisterwerke aus alten Zeiten, weil der Wanderer anderes im Kopf hat, als kulturelle Artefakte. Shame on you!
Ein Palast für mich
Auf dem Weg in Richtung Granja kommt man an zwei kleinen Ansiedlungen vorbei: Fontanillas de Castro und Riego del Camino. In Fontanillas suche ich vergebens nach einer Bar, dafür spricht mich der Hospitalero der örtlichen Herberge an, hält es hingegen nicht für nötig, mich darauf aufmerksam zu machen, dass ich in der falschen Richtung laufe.
Der Rest der Etappe nach Granja ist schnell erzählt, er verläuft grösstenteils entlang der Autobahn, kein Schatten, kein Haus, einfach nichts.
Ich lande schliesslich doch noch am Ziel, wo ein ganzes Hotel für mich allein wartet. Der Ort scheint absolut tot zu sein. Immerhin gibt es in der Nähe einen Laden, wo ich von einer griesgrämigen Dame bedient werde.
Da es offenbar nirgens was zu essen gibt, nehme ich mein Dinner for one im Hotel bzw. auf dem netten Platz im Garten ein. Was braucht der Mensch mehr?
Passender Song: Andres Cantu – Celebrations
Und hier geht der Camino weiter … nach Santa Marta de Tera