Was ist das absolute Gegenteil von Indien?
Ich werde es in ein paar Stunden finden. In Doha, der Hauptstadt von Katar. Einem der reichsten Länder der Erde. Grösste Erdgasreserven der Welt. Reich. Unendlich reich.
Abschied
Aber ich bin immer noch hier, das TukTuk zur Metrostation in Richtung Flughafen nimmt eben Fahrt auf, es ist früh am Morgen. Ich kann mir noch nicht vorstellen, dass ich in ein paar Stunden dem absoluten Gegenteil gegenüberstehen werde.
Das hier ist in der Zwischenzeit zum täglichen Eintopf geworden: Lärm, Hitze, Gestank, Millionen von Menschen. Mit anderen Worten – Leben.
Das, was mich erwartet, wird anders sein. Sehr viel anders. Ein letzter Blick also, doch der Kopf ist bereits auf Reisen, hat schon gestern und vorgestern Abschied genommen. Bin ich bisher – wenigstens ein bisschen – Teil dieser verrückten Welt gewesen, so bin ich es bereits nicht mehr.
Schon der erste Schritt in die klimatisierte, beinahe klinisch saubere Metrostation, die mehr nach London oder New York aussieht, ist ein Abschied von allem, was mich in den knapp 5 Wochen begleitet hat. Ein leises Summen kündet die Ankunft des Zuges an, elegant und teuer gekleidete Herren mit Aktenkoffern und einem gewichtigen Ausdruck im Gesicht steigen ein, entnehmen den Taschen ihre Tablets oder Notebooks und fangen an zu arbeiten.
Das kommt mir alles sehr bekannt vor.
Die letzten Kilometer Indien rasen lautlos vorbei, wir befinden uns bereits in einer anderen Welt, hermetisch abgeschlossen von der Welt da draussen. Der Blick geht hinaus, manchmal eine gebückte Gestalt auf einem Feld, ein Velofahrer auf einem Feldweg, eine Staubwolke.
Und da ist plötzlich blauer Himmel. Delhi ist tagein, tagaus von einer dicken Decke Smog bedeckt. Man glaubt die ganze Zeit an schlechtes Wetter, an dunkle Bewölkung. Aber es ist nur Smog, während ein paar Kilometer vor der Stadt ein klarer blauer Himmel herunterblickt.
Und während Indien langsam entschwindet, kommt sie, die Wehmut, die Trauer. Zum letzten Mal tief durchatmen. Ich werde es vermissen, aber ich komme wieder.
Versprochen.
Ankunft in Doha
Ein endlos lang erscheinender Anflug über das Meer, nur noch ein paar Meter über der Wasseroberfläche, man hat den Eindruck, die Fische von Hand fangen zu können. Die Silhouette der Stadt taucht am Horizont auf, es könnte auch Manhattan sein oder Shanghai.
Der Flughafen, mein Heim für die nächsten 21 Stunden (ich habe mich verrechnet, es sind nicht 18 sondern 21 Stunden Aufenthalt). Das wird kein Vergnügen werden.
Ich kenne mich hier aus, weiss, wo ich was kriege, wo die überteuerten Läden sind, wo die Restaurants mit Food aus aller Herren Länder. Es ist ein zutiefst langweiliger, völlig steriler Ort, leblos trotz der vielen Menschen, kalt, abweisend, ein inneres Frösteln hervorrufend.
Rundfahrt durch Doha
Aber immerhin – es gibt offenbar eine dreistündige Rundfahrt durch Doha, offeriert von Katar Air und dem Katar Tourist Office. Das nehme ich selbstverständlich gerne an, macht mit allen Wartezeiten immerhin vier bis fünf Stunden, die ich von den 21 abzählen kann.
Ein sehr gemischtes Völklein versammelt sich am entsprechenden Counter, ich zähle mindestens zehn verschiedene Nationalitäten, alle erleiden sozusagen das gleiche Schicksal wie ich, einen langen bis sehr langen Stoppover in Doha zu überleben. Der Guide, wie sich herausstellt ein Nepalese, begrüsst uns, und auf geht’s ins gelobte Land, so zumindest könnte man es nach der Schwärmerei in den nächsten drei Stunden bezeichnen.
Es fängt schon gut an. Kurz nach der Ausfahrt aus dem Flughafen weist uns der Guide auf ein grosses Gebäude in der Nähe hin, architektonisch äusserst kühn gestaltet, inklusive Autobahnanschluss. Der private Flughafen seiner Majestät, Hamad bin Chalifa Al Thani, Emir von Katar, Herr über Leben und Tod, also knapp unter dem Herrgott persönlich.
Das ist doch schon mal ein erster Hinweis auf das, was uns erwartet. Und so geht es weiter, von einem Wurf zum nächsten, ein Schlaraffenland für jeden architektonisch Interessierten, und es macht auch ganz den Anschein, als hätten sich ganze Generationen von Architekten austoben dürfen. Geld spielt ja hier eine untergeordnete Rolle.
Imitation of Life
Ein älterer Herr hat sich neben mich gesetzt, Bill aus Perth in Australien, wir geraten schon bald ins Diskutieren, und es stellt sich heraus, dass auch er irgendwie gemischte Gefühle hat.
Es sieht alles ziemlich perfekt aus, wie bereits erwähnt bewirkt der Anblick der unzähligen Türme, Hochhäuser, verschachtelten Gebäude, der nahtlos ineinander übergehenden grünen und braunen und grauen Konstruktionen manches Ah und Oh, aber es bleibt trotzdem eigenartig still im Bus, als wäre man erschlagen von soviel protziger Pracht.
Man merkt erst nach einer gewissen Zeit, dass etwas fehlt – Menschen. Nicht, dass es keine hätte, es ist zwar nicht wie in Indien, aber es hat schon welche. Nur sehen sie aus, als hätten die Erbauer am Schluss gemerkt, dass noch etwas Wichtiges fehlt, nämlich ein paar lebendige Wesen, um das Puppenhaus zu beleben.
„Imitation of Life“ findet Bill, und ich muss ihm zustimmen.
Moscheen und andere Bauten
Die Ausführungen des Guides ergeben nur Sinn, wenn man an die Allmacht des Geldes glaubt. Man kann eine gewisse Attraktivität der einzelnen Gebäude nicht absprechen, sie deklarieren das, wofür sie gebaut sind: „Seht her, wir können uns alles leisten. Alles Extravagante, alles Geschmacklose, alles Surreale. Und ihr bezahlt dafür. Wie schon immer …“
Man übersieht vor lauter Bewunderung die Absurdität dieser seltsamen Stadt, die vor nicht mal 50 Jahren noch ein unbedeutendes Fischerdorf war. Heute gibt es die alten Häuser und Strassen nicht mehr, der Markt wurde neu gebaut, natürlich auf der Basis des früheren, natürlich ohne dessen Charme. Auch hier zeigt die groteske Abwesenheit echten Lebens.
Einmal mehr – Imitation of Life!
Auch die Moscheen und alle anderen sakralen Gebäude sind neu und grossartig, allerdings ist ausser uns Touristen niemand da. Wir fühlen uns verlassen auf dem Platz vor der Moschee und fragen uns, ob jemals Gläubige hier sind.
Vielleicht …
Und dann fällt der Abend herab, tausend Lichter und Lampen erleuchten die Stadt und verleihen ihr endlich etwas Leben.
Und so ist man nach den drei Stunden erschlagen und erleichtert zugleich, und Bill und ich beschliessen, den Abend gemeinsam zu verbringen, sein Abflug allerdings etliche Stunden vor dem meinen.
Wir merken gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht, vor lauter Debatten über den Brexit, Donald Trump, die Vorteile der australischen Rugby-Mannschaft gegenüber der neuseeländischen, die Regeln des Cricketspiels, die mir absolut unverständlich erscheinen, die direkte Demokratie (von der Bill noch nie was gehört hat), und so weiter und so fort, und schliesslich ist es Mitternacht, noch acht Stunden bis zum Weiterflug, Bill verabschiedet sich, und es ist Samstag …
Bill verschwindet durch die Zollabfertigung, ich bleibe zurück und damit die Gewissheit, dass ich ihn nie mehr wiedersehen werde. So ist das eben. Man lernt sich kennen, fühlt sich in kürzester Zeit äusserst wohl in der Gesellschaft des andern, und ist sich die ganze Zeit bewusst, dass es eine Begegnung auf Zeit ist …
(Not so) silent Room
Es gibt einen sogenannten Silent Room mit einer Art Liegestühlen, die man zur Überbrückung der endlos langen Nacht benutzen darf. Um ein Uhr morgens gibt es genau noch eine unbesetzte Liege, auf der ich versuche, eine Stellung zu finden, die ein bisschen Schlaf ermöglichen könnte.
Es bleibt beim Versuch. Das Ding ist nicht nur unbequem, die Geräusche der etwa zwanzig weiteren Gestrandeten ergeben eine akustische, zwar nicht allzu laute, aber die Nerven traktierende Hintergrundkulisse, die es unmöglich macht, auch nur eine einzige Sekunde Schlaf zu finden.
Ein Herr gegenüber, dem ich ernsthaft rate, in Zukunft eine Maske gegen Schlafapnoe zu benutzen, besitzt eine äusserst raffinierte Palette von Schnarchgeräuschen, unterbrochen durch ein wiederholtes Schnappen nach Luft und allerhand flankierenden Lauten, mit denen man Hunde und kleine Kinder zu Tode erschrecken könnte.
Nun, ich gebe irgendwann auf, setze mich an einen Tisch in einem der vielen Restaurants und friere trotz Rollkragenpulli und Fleecejacke erbärmlich. Wie überall in Asien ist es Usus, die Raumtemperatur so weit nach unten zu korrigieren, dass nicht nur ein Schnupfen sondern die akute Gefahr einer doppelseitigen Lungenentzündung droht. Jä nu …
Schliesslich, nach mehreren glühend heissen Black Coffees, ist es soweit – ich habe die 21 Stunden überstanden und überlebt. Den Flug von knapp sechs Stunden nehme ich nicht bewusst wahr, dazu ist meine Müdigkeit zu gross. Die Stimme des Piloten, die den Sinkflug nach Zurich Airport ankündet, bringt mich schliesslich in die Welt der Lebenden zurück. Der Blick nach draussen zeigt etwas Unerhörtes – grüne Wiesen, Bäume, Sträucher, glitzernde Flüsse und Bäche. Alles sieht so geordnet aus, so proper, so … anders.
Ja, das muss es sein. Ich bin zuhause …
PS Song zum Thema: Faada Freddy – Reality cuts me like a Knife
Und hier beginnt eine andere Reise … nach Südamerika