Ich stehe mitten auf der Puerta del Sol, dem grossen Platz im Zentrum Madrids, und wundere mich.

Denn die Sprache, die ich rings um mich höre, ist nicht das schnelle, abgehackte, Konsonanten und Vokale verschluckende Madrileno, nein, es klingt vielmehr nach, ja wonach denn?

Italienisch?

Real Madrid vs. Napoli

Irgendwie schon und doch auch wieder nicht.

Es dauert eine Weile, bis der Groschen fällt, allerdings erst, als einige der in Gruppen zusammenstehenden jungen Männer in Schlachtrufe ausbrechen, und andere, jetzt klar verständlich, NAPOLI, skandieren.

Ach so natürlich, Champions League, morgen der Match Real Madrid gegen Napoli.

Aha …

Puerta del Sol revisited

Der Platz sieht kleiner aus, als ich ihn in Erinnerung habe. Und auch anderes stimmt nicht.

Mitten drin ist der Eingang zur U-Bahn, so wie früher, aber jetzt ist er überdacht, zwei halbrunde Glasdinger, eine ästhetische Beleidigung, und das ausgerechnet hier, dem heimlichen Zentrum Madrids, dem Brennpunkt des politischen und kulturellen Lebens.

Puerta del Sol in Madrid
Er ist immer noch da – Wächter über Leben und Tod

Das Café, in dem ich jeden Morgen Café con Leche mit Churros ass, ist verschwunden und hat einer Modekette Platz gemacht. Viele Fassaden um den Platz herum sind nicht mehr sichtbar, an ihrer Stelle flimmern nun riesige Werbetafeln mit irgendwelchen Werbebotschaften.

Aber der Corte Inglés ist noch da, der Bär mit dem Erdbeerbaum ebenfalls (offenbar seit genau 50 Jahren wie ich im El Pais lese), und auch die Statue des berühmten Helden, den ich immer noch nicht kenne.

Aufschrei gegen Machismo

Mitten auf dem Platz liegen unzählige rote, abgetragene Frauenschuhe in allen Formen und Grössen und erinnern an die zahlreichen Opfer häuslicher Gewalt (in Spanien, im Land, das den Machismo erfunden hat, offenbar ein riesiges Problem mit jährlich hunderten von Opfern).

Puerta del Sol
Schuhe von missbrauchten Frauen – Eine Schande, wie fast überall

Auf diesem Platz habe ich mich vor bald vierzig Jahren jeweils mit meinen Freunden getroffen, um anschliessend das Nachtleben von Madrid unsicher zu machen, im Bewusstsein, dass der nächste Tag für die Professorin an der Universidad Complutense einmal mehr Frust und Kopfschütteln bedeuten würde.

Aber sie war ein liebenswerter Schatz, mit unendlichem Verständnis für uns Idioten, denen sie alles verziehen hat: die nicht erledigten Aufgaben, die nicht erfolgte Vorbereitung, das erbärmliche Hinterherhinken hinter den Besten der Klasse. Immerhin brachte sie es fertig, uns alle erfolgreich durch das Schlussexamen in Spanisch zu bringen, was als eine besondere Meisterleistung taxiert werden muss.

Ein winziges Zimmer …

Bevor ich nun endgültig in eine depressive Verstimmung versinke, suche ich die alten Gassen und Plätze auf, zum Beispiel das Haus, wo ich mein winziges Zimmer hatte, mit dem Hausherrn, der mir partout keinen eigenen Schlüssel geben wollte, und deswegen jede Nacht aufstehen musste, um dem schwankenden Gast Einlass zu gewähren.

Seine grimmige Miene wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Doch dort, wo eine abgewetzte Treppe durch eine tonnenschwere Tür ins Innere des Hauses führte, steht nun der Eingang zu einem protzigen Restaurant. Ob die Wohnungen in den oberen Etagen überhaupt noch existieren, lässt sich nicht sagen. Wohl eher nicht. Ist alles verschwunden, also auch die riesige Wohnung um einen mit Müll übersäten Innenhof herum, wo sich die Ratten tummelten?

… und ein Platz mit falschen Tönen

Und die Plaza Santa Ana ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Damals eine kleine Idylle mit einigen kaputten Bänken unter schattigen Bäumen, ungepflastert, still und friedlich in der Nacht, unter Tag ein paar alte Leute, die auf eine Horde Kinder aufpassten.

Heute ist der Platz mit Steinplatten belegt, die Bäume sind verschwunden, dafür Cafés mit überteuertem Angebot, lärmig, hektisch.

Ich setze mich aber trotzdem hin, bestelle ein Bier und schaue dem Treiben zu. Eine Musikkapelle stellt sich auf, eine Guitarre, eine Handorgel und eine Bassgeige. Ich muss gestehen, dass ich schon viel falsch klingende Darbietungen gehört habe, aber diese Bassgeige übertrifft alles.

Es klingt nicht einfach falsch, es ist, als spielte er ein vollkommen anderes Stück als der Rest der Combo. Und da die Musikanten nicht den Anschein machen, als würden sie in absehbarer Zeit aufgeben, trinke ich hastig aus und verlasse verstört diesen Ort der musikalischen Serienmorde.

Verliebt in Gassen und Restaurants

Aber die Gassen mit den wunderbaren Restaurants, aussen bemalt mit kunstvollen Zeichnungen und den von Hand geschriebenen Menüs, sie sind unverändert. Nur die Preise haben sich leicht nach oben bewegt.

Fragua de Yulca
Fragua de Yulca – bekannt und berühmt
Las Fatigas del Querer
Las Fatigas del Querer – die Müdigkeit des Mangels

Damals kostete ein Teller Judias (Bohnen) ein paar Peseten, heute wage ich gar nicht danach zu fragen. Und ein Glas Vino Tinto umgerechnet vielleicht fünfzig Rappen.

Ich flaniere mit leicht erhöhtem Nostalgiepegel durch die Gassen, Bilder und Gesichter tauchen aus den Untiefen des Gedächtnisses auf. Henk, Ian, Jake und natürlich Roseline. Meine liebe kleine verliebte Roseline.

Prachtsbauten
Prachtsbauten
Meine Flamenco Bar
Meine Flamenco Bar

Ein runder Geburtstag

Auf jeden Fall würde mich heute der runde Geburtstag, den ich mit meinen Freunden feierte, ein kleines Vermögen kosten, damals fast nichts, denn jeder Barmann, dem wir von meinem runden Cumpleanos erzählten, lud uns alle zu Wein und Zigarren ein.

Churros

Bevor ich mich auf den Rückweg mache, will ich ein letztes Mal mein damaliges tägliches Frühstück aufleben lassen – Churros, in gesüssten, starken Kaffee getunkt.

Churros
Churros – ein unvergleichlicher Genuss

Auf dem Weg nach Südamerika

Tja, was erzähle ich da von Madrid, wenn ich doch eigentlich auf dem Weg nach Südamerika bin? Ganz einfach, mein blödes linkes Knie hat mich wochenlang davon abgehalten, endlich den Flug zu buchen, was letztlich dazu geführt hat, dass ich nun einen über zehnstündigen Zwischenhalt in Madrid aufgebrummt bekommen habe.

Erinnert ein bisschen an das kleine Desaster in Doha vom letzten Jahr, aber was soll’s. Eigentlich hat mir der Ausflug in die Vergangenheit ziemlich gut (wenn auch mit ein paar sentimentalen Abstrichen) gefallen. Und gelegentlich ist es gar nicht schlecht, sich der Verluste eines langen Lebens und der Vergänglichkeit zu vergegenwärtigen (na ja, der morgendliche Blick in den Spiegel ist an sich genug Erinnerung an die Vergänglichkeit.

Und jetzt – es ist kurz nach neun und der Flug geht erst kurz vor Mitternacht – sitze ich bei Kaffee und Kuchen im Flughafen Barajas und schlage schreibenderweise die Zeit und die Erinnerungen tot, bevor sie mir endgültig die Laune verderben … und upps, wird mir doch tatsächlich das Licht abgedreht, und ich sitze im Dunkeln. Cerrado, teilt mir der müde Mann mit, der das Restaurant schliesst und eilig seines Weges zieht … Dann halt nicht.

That’s for today, folks. See you in Buenos Aires …

Kilometerstand:  null

Song zum Thema:  Alameda – Amanecer al Puerto

Und hier geht die Reise weiter … in Buenos Aires

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