Irgendwas weckt mich mitten in der Nacht, ein seltsames Geräusch, das mir aber irgendwie bekannt vorkommt.
Eine Lawine aus Wasser, eine Sturzflut vom Himmel
Anfänglich nur ein gelegentliches Plopp, doch dann immer schneller plopp plopp plopp – ich merke, dass es zu regnen beginnt; welch wundervolles Gefühl unter der Bettdecke! – und dann fällt uns der Himmel auf den Kopf. Das ist kein Gewitter oder ein Wolkenbruch, es ist eine Lawine an Wasser, ein Sturzbach, eine Springflut.
Ein paar Tage mehr von diesem Geschenk des Himmels, und wir bräuchten eine zweite Arche Noah.
Der Flur vor dem Zimmer, ein langezogener Raum, der sich über zwei Etagen zieht, wird lediglich durch ein dünnes Plastikdach geschützt, das nun dieses dröhnende, tosende Geräusch von sich gibt. Man hat den Eindruck, unter einer Höllenmaschine zu liegen, deren einziger Zweck es ist, infernalischen Krach zu veranstalten.
Das sind die subtropischen Regenfälle, die innert Stunden ganze Landstriche zu verändern imstande sind. Einen Augenblick lang geistert der Gedanke durch den Kopf, dass Asunçion ja jene Stadt ist, die immer wieder durch schwere Regenfälle in Mitleidenschaft gezogen wird. Grund: die Kanalisation ist in derart schlechtem Zustand, dass sie kaum das Wasser eines normalen Regens geschweige denn einer derartigen Sintflut zu bewältigen vermag.
Bevor sich der Gedanke vertieft, falle ich trotz des Lärms in die Bewusstlosigkeit zurück und werde um halb sechs durch den Wecker geweckt. Es regnet immer noch …
Fahrt durch eine leere Stadt
Die Fahrt durch den frühen Morgen hat etwas Träumerisches an sich. Die Strassen sind leer, kaum ein Licht an den Häusern.
Es regnet und regnet, der Taxifahrer hat trotz Scheibenwischer Mühe, etwas zu sehen. Die Luft fühlt sich neu an, frisch und sauber, als wäre es der einzige Zweck der himmlischen Waschmaschine gewesen, der Stadt frische Luft zu verschaffen.
Der Flughafen ist eine Art Vorspielung falscher Tatsachen. Die pseudo-moderne Architektur erweckt den Anschein von etwas, was das Innere nicht zu halten vermag. Alles ist ein bisschen ärmlich, etwas billig, auch der Kaffee, den ich nach dem Einchecken bestelle.
Ich bin viel zu früh hier, die Fahrt zum Flughafen hat wesentlich weniger lange gedauert als angenommen. Als es denn endlich losgeht, wartet ein Flugzeugtyp auf uns, der mir unbekannt ist. Stellt Bombardier auch Flugzeuge her?
Und wieder menschgemachte Wüsten
Anyway, der Flieger ist pumpenvoll und hebt sozusagen pünktlich ab. Leider versteckt sich Paraguay unter einer dicken Wolkendecke, als wäre es immer noch etwas verstimmt, dass man achtlos darüber fliegt, statt den Bus quer durch das Land zu nehmen. Sorry!
Irgendwann überqueren wir weit im Norden die Grenze zu Bolivien, und jetzt klart auch der Himmel auf.
Auf den Anblick unter uns hätte ich allerdings gerne verzichtet. Der Regenwald bleibt hinter uns zurück, wird ersetzt durch endlose, schachbrettartig angelegte Felder, auf denen weiss der Himmel was wächst. Hundert Kilometer oder mehr immer das gleiche, und jetzt wird auch klar, warum Santa Cruz das wirtschaftliche Zentrum des Landes ist.
Übrigens soll die Stadt die am schnellsten wachsende Metropole der Welt sein. Wenn ich an ein paar chinesische Millionenstädte denke, deren Namen niemand kennt, kann ich mir das nicht recht vorstellen, aber was soll’s. Auf jeden Fall war Santa Cruz vor ein paar Jahrzehnten noch ein unbedeutendes Kaff im Süden Boliviens, heute der wichtigste Umschlagplatz des Landes.
Wo sind die Beamten?
Die Kontrollen am Flughafen sind ein Kapitel für sich. Während sich vor den Schaltern immer längere Schlangen bilden, sind diese erstaunlicherweise unbesetzt. Einfach niemand da. Erst nach einer Weile trudeln ein paar sehr schläfrig aussehende Beamte ein, setzen sich mit sichtbarem Widerwillen an ihre Arbeitsplätze und winken die ersten Kunden gnädig zu sich.
Es geht aber erstaunlich schnell, und so stehe auch ich vor einem jungen Mann, der mir einen langen Blick zuwirft und findet, dass es in meinem Pass sehr viele Stempel gibt. Ob ich denn viel reise und ob es mir in Südamerika gefällt. In diesen Fällen muss man den ganz grossen Honigtopf hervorholen und lügen wie gedruckt. Auf jeden Fall erweckt meine überschwängliche Eloge sichtbaren Stolz, und ich erhalte einen weiteren Stempel.
Buen Viaje! Muchas Gracias!
Das Hotel 360 Grados
Mein Taxi fährt durch nicht endenwollende Aussenbezirke, an unzähligen Kreiseln vorbei, bis wir endlich die Innenstadt erreichen. Der Verkehr wird dichter, die Gassen enger, und irgendwann stecken wir fest. Wir sind in einem Markt gelandet, eine Million Leute macht sich den Platz streitig, und genau dort, wo das Chaos am dichtesten ist, befindet sich das Hotel 360 Grados.
Es ist gross und luftig und trotzdem heiss, mein Zimmer ist in Ordnung, allerdings gibt es keine AirCon, und so, wie ich es sehe, läuft auch der Ventilator nicht. Es könnte also etwas heiss werden.
Anstelle 360 Grados würde 40 Grados eher den wirklichen Umständen entsprechen, das trifft ungefähr die gefühlte Hitze in meinem Zimmer.
Chaos am Strassenrand
Mit nichts im Magen als Luft erkundige ich mich nach einem Restaurant in der Nähe.
Cerca de aqui? No problema.
Ich schlendere also durch das Chaos, vorbei an unzähligen Läden und Marktständen, wundere mich über ein Restaurant, das zum Teil auf Deutsch angeschrieben ist. Den Text auf dem Schild verstehe ich allerdings nicht. Beste Preis. Mit Aufschlag. Mit Aufschlag? Also quasi Rabatt mit einem Aufschlag?
Res con Chorizo
Ich bin einen Moment lang versucht, nachzufragen, aber der knurrende Magen findet das eine schlechte Idee. Also wage ich mich in das riesige Restaurant hinein und bin einmal mehr irritiert, wie das Ganze vor sich gehen soll.
Man muss nämlich am Anfang am Counter bestellen, was man gerne hätte, und dann wird ein Waiter beauftragt, das Bestellte zu holen. Nur, ich habe keine Ahnung, was ich will oder wie die Gerichte heissen. Eine Menükarte gibt es nicht, nur ein paar Gerichte an eine Tafel geschrieben. RES con Chorizo. RES con etwas. Res con irgendwas. In der Meinung, dass es sich bei Res vielleicht um eine Beilage handelt, bestelle ich Res con Chorizo.
Eigentlich hätte ich schon misstrauisch werden sollen, als es so elend lange dauert. Die anderen Gäste bedienen sich am Buffet (das ich natürlich mal wieder nicht gesehen habe), während ich warte und warte. Und da endlich, der Kellner schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln und haut mir einen Teller mit zwei frisch gebratenen Fleischstücken, ergänzt durch eine massive Chorizo-Wurst, auf den Tisch und zeigt auf das Buffet, wo ich mir die Zulagen holen soll.
Wow! Jetzt wird mir bewusst, was Res bedeutet. Ganz einfach, es heisst Fleisch. Aber Fleisch heisst Carne, also welchen Zusammenhang könnte die Abkürzung Res haben? Ich werde es wohl nie erfahren. Auf jeden Fall ist das Fleisch erste Klasse, und auch die Chorizo schmeckt ausgezeichnet. Später erzählt mir allerdings jemand, was man hierzulande alles in eine Wurst packt. Mir wird im Nachhinein noch ganz anders, und es wird mit einiger Sicherheit meine erste und letzte Chorizo in Bolivien gewesen sein.
Don’t fuck with me!
Der Nachmittag gehört der Erkundung der Stadt, einem Ort, den ich bis vor kurzem bestenfalls aus der Zeitung gekannt habe. Ich stelle mich auf eine der typischen südamerikanischen Städte ein – grosszügige Plätze im Stadtzentrum, zahlreiche Kirchen und noch mehr, meist freundliche Einwohner, vielleicht Murales, immer wieder ein Höhepunkt des lokalen künstlerischen Schaffens.
Aber der Weg ins Zentrum führt mitten durch das Gewühl meines Quartiers, und irgendwo im Geist taucht ein Hinweis zur Sicherheit in Santa Cruz auf, der insbesondere vor dem Markt in der Innenstadt warnt. Na ja, jetzt ist es eh zu spät, also setze ich wieder mal mein grimmigstes Gesicht auf, das da heissen soll: Don’t fuck with me!
Die Stadt ist wie gesagt kein kulturelles sondern in erster Linie ein wirtschaftliches Zentrum. Allzu viel darf man sich also nicht versprechen. Es gibt wie überall einen grossen zentralen Platz, an dessen einem Ende sich ebenfalls wie überall eine Kathedrale befindet. Und nicht zu vergessen natürlich das Heldendenkmal, diesmal noch unbekannter als die bereits gesehenen. Eines ist mal sicher: in Südamerika herrscht kein Mangel an Helden. Irgendeiner, der sich irgendwie verdient gemacht hat und sei es durch etwas noch so Banales, findet sich immer …
Und tatsächlich – Murales! Einmal mehr ein grossartiger Beitrag der lokalen Kunstszene zur ästhetischen Darstellung der Stadt.
Ein Teich und eine Versammlung
Ganz zufällig stolpere ich bei meiner ziellosen Wanderung auf eine seltsame Versammlung, deren Zweck sich auch bei näherem Zuschauen nicht erschliesst. Sind es Spiele, Vorträge, eine politische Versammlung? Am besten würde ich fragen, aber manchmal ziehe ich es vor, im Unklaren zu bleiben. Mir etwas zusammenzureimen wie in Puerto Alegre. Auch im Wissen, dass meine Vorstellungen in keinster Weise zutreffen würden.
Und dann nur noch Hitze und Lord of the Rings in Spanisch
Der durch den Regen gestörte Schlaf macht sich bemerkbar, und ich beschliesse, mal früh schlafen zu gehen, allerdings nicht ohne vorher „The Lord of the Rings – The Fellowship of the Ring“ auf Spanisch anzusehen.
Und während Gandalf in gänzlich unpassender Sprache auf Frodo einredet, gleite ich massiv schwitzend (der Ventilator!) hinüber in einen wohlverdienten tiefen Schlaf …
Kilometerstand: 2434
Passender Song aus Lord of the Rings: Howard Shore – Many Meetings
Und hier geht der Trip weiter … nach Cochabamba