Manchmal tut es gut, einen Touristen zu sehen, es erweckt dann den Eindruck, Verbündete gefunden zu haben, nicht allein zu sein in diesem von Menschen überströmten Land. Und manchmal entsteht das seltsame Gefühl, ein kafkaesker Gefangener zu sein und nicht mehr wegkommen zu können, an einem Ort, der fremd ist und laut und stinkig und wo man sich vorkommt wie ein Alien auf einem fremden Planeten.
Ein fremder Planet
Und letztlich ist es ein fremder Planet, und auch wenn wir genau hinsehen und zu verstehen glauben, bleibt alles unverständlich und fremd. Es ist nur klar, dass jeder hier um sein Leben kämpft, Tag für Tag, als Waiter, als Rikschafahrer, als Schuhflicker auf dem Trottoir, als Bettler, als Taxifahrer, als Bus-Chauffeur, als Kontrolleur, als Gemüse- und Obstverkäufer, als Schneider, als irgendwas …
Ein ständiges hektisches Getriebe und Gewühl, aufreibend, die Sinne betörend im Guten wie im Schlechten, ein unaufhörliches Gewirr aus Leben.
Dunkle Momente…
Diese Gedanken gehen vorüber und kommen wieder. Irgendwann sitzt man im nächsten Bus oder im Zug und es geht weiter, immer weiter, an den nächsten Ort auf der Landkarte, der anfänglich fremd wirkt und abweisend, bis ein schönes Hotelzimmer, ein gutes Essen, ein Spaziergang das Fremde zu Bekanntem werden lässt und man sich mit einem Mal zuhause fühlt.
Aber dann gibt es diese schrecklichen Hotelzimmer (wie in Kanyakumari), wo alles unangenehm ist, wo es keine Sicherheit, keine Geborgenheit gibt, wo alles fremd bleibt. Das sind die schwierigen Momente, wo man lieber zuhause wäre, wo man sich fragt, warum man hier ist, obwohl alte Erkenntnisse darauf hingewiesen haben, dass diese Momente immer wieder kommen werden …
… und solche von vermeintlicher Klarheit
Es sind aber auch die Momente der vermeintlichen Klarheit, wo alles schlecht oder alles gut aussieht. Wo das Herz im Ungewissen versinkt, um im nächsten Augenblick vor Freude zu weinen.
Jede Reise ist anders, diese hier ist nicht die gleiche wie die letzte, und wenn ich zurückkehre in mein altes Leben, wird der Blick auf die Dinge unterschiedlich sein. Für eine Weile wird die Erkenntnis vorherrschen, dass wir alle ein gutes Leben habe mit allem, was wir brauchen, und mehr eine Last wäre. Und für eine Weile werde ich die emotionale Leere nicht spüren, denn das Leben ist zurück, nichts fehlt …
Eine Ebene … weit weg
Und dann … sitze ich im Bus, der mich über die wunderschönen Western Ghats nach Tenkasi bringen soll. Dort werde ich dann am Abend in den Zug nach Madurai umsteigen. Kollam bleibt zurück als gute Erinnerung, auch wenn mir später wohl nur das unglaubliche Puff auf den Strassen und der Cockroach im Hotel in Erinnerung bleiben werden.
Ein abgefuckter Local Bus
Es ist wahrlich ein abgefuckter Local Bus, vollgestopft mit Einheimischen, Familien, Kindern. Ich setze mich wie üblich in die hinterste Reihe, vor mir eine metallene Querstange, die mir im Falle eines Zusammenstosses mit Garantie alle Vorderzähne kosten wird.
Und es wird wieder zu einem Höllenritt, dem ultimativen diesmal, über einen kurvigen Pass hinauf und später (leider) wieder hinunter. Ich werde genauso wie jeder andere Passagier herumgeworfen, mein angeschlagener Rücken meldet sich bei jedem Schlag schmerzvoll, aber ich muss gestehen, es ist ein Höllenspass.
Nur einmal verliere ich doch die Fassung, als vor mir ein Mädchen aus dem Fenster spuckt und mir alles ins Gesicht fliegt. Dummerweise versteht weder sie noch ihre Mama mein Gezeter, und so muss ich mich am Schluss mit etwas Süssem entschuldigen
Die Western Ghats
Der Gebirgszug verläuft auf einer Länge von etwa 1600 km durch die Bundesstaaten Maharashtra, Goa, Karnataka, Kerala und Tamil Nadu fast bis zur Südspitze des indischen Subkontinents. Die Berge stellen ein natürliches Hindernis für den West-Monsun dar, was dazu führt, dass seine wasserreichen Regenwolken sich an den Hängen abregnen, da die die Hänge aufsteigenden Wolken durch die Abkühlung ihr gespeichertes Wasser nicht mehr halten können.
Die dichten Wälder tragen ebenfalls zu einem feucht-warmen Klima bei. Davon profitieren allein die Westhänge der Westghats, während der Osten mit dem Dekkan relativ trocken ist. Sie stellen zudem die wichtigste Wasserscheide der indischen Halbinsel dar.
Tenkasi
Irgendwann taucht in der Ferne ein beeindruckendes tempelartiges Gebäude auf, das ich nicht entziffern kann, aber offenbar zu Tenkasi gehört.
Dort empfängt mich eine wundersame Stadt, in dem Fremde noch wie Wunder bestaunt werden (wer geht schon nach Tenkasi?). Ich lasse mein Gepäck im Büro des Bahnhofvorstehers und mache mich auf den Weg in die Stadt.
Durch Gassen und Strassen gehe ich gelassen und entspannt dem Zentrum entgegen, weiche Töffs und Fahrrädern und Autos behutsam aus, bis ich vor dem Tempel stehe, den ich vom Bus aus gesehen habe.
Er ist überwältigend (obwohl ähnliche Gebäude in Madurai noch viel eindrucksvoller wirken werden, aber das ist mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst). Affen turnen gelenkig auf schmalen Dachrinnen herum, bunt gekleidete Damen pumpen Wasser aus einem Brunnen, während sie dem Fremden scheue Blicke zuwerfen.
Der dunkle Bahnsteig
Und dann stehe ich auf dem dunklen Bahnsteig und warte wie hunderte andere auf den Zug.
Und schliesslich sitze ich endlich im vollbesetzten Zug nach Madurai, indische Familien um mich herum (ich habe nur ein AC 3-Tier erwischt, also unterstes Level, macht aber nix für drei Stunden). Ich bin der einzige, der etwas zu essen bestellt (ein Fehler?) und später für erhebliches Aufsehen sorgt.
Ich weigere mich nämlich standhaft, von Hand zu essen.
Auf der Suche nach einem Löffel
Daraus ergibt sich nun eine der wunderbaren Geschichten, die sich so nur in Indien abspielen können. Sie wird mir ewig in Erinnerung bleiben.
Die Passagiere um mich herum erkennen das ernsthafte Problem. Es gilt, für den komischen Fremden eine Gabel oder etwas Ähnliches zu finden. Der zuständige Waiter macht sich auf den Weg und verschwindet im Hintergrund des Wagens.
Alles schwatzt und kichert und wirft mir erstaunte, mitleidige, belustigte Blicke zu. Ich bin in kurzer Zeit zum Highlight, zum Objekt des Interesses im Zug geworden. Aber dann, nach endlos langer Zeit (mein Essen ist längst eiskalt geworden), hat tatsächlich irgendwer einen Löffel aufgetrieben, der nun von Hand zu Hand (!) weitergegeben wird. Ich nehme ihn mit viel freundlichem und dankbarem Nicken entgegen.
Und mache aus Höflichkeit einen grossen Fehler.
Einen Augenblick lang überlege ich, ob ich ihn säubern soll (die Hände!!), entscheide mich dann aber dagegen. Ich will ja niemanden kränken, vor allem nicht die vielen Leute, die sich alle Mühe gegeben haben, mein Problem zu lösen.
Während zehntausend Augen auf mich gerichtet sind (es ist mucksmäuschenstill geworden), stopfe ich den kalten, ziemlich faden Reis in den Mund und werfe zustimmendes Nicken in die Runde. Man glaubt, das Aufatmen zu hören.
Damit ist die Geschichte aber noch nicht abgeschlossen. Eben, als der letzte Rest Reis in meinem Mund verschwindet, taucht der fürs Essen zuständige Waiter auf. Er hat die ganze Zeit im Zug nach einem Löffel gesucht und ist fündig geworden. Voller Stolz streckt mir einen Plastiklöffel zu, der ungefähr der Grösse des winzigen Löfffels entspricht, das jeweils den Eisbechern mitgegeben werden. Ich werde sein enttäuschtes Gesicht nie vergessen, doch seine Laune bessert sich immens, als ich ihm zum Abschied ein grosszügiges Trinkgeld gebe.
Madurai
Kurz nach zehn erreichen wir Madurai, die Bahnhofshalle ist voller Menschen, die am Boden ausgestreckt liegen, genauso wie auf dem Platz vor dem Bahnhof, wo man sich für das Nachtlager bereit macht.
Nach kurzer Fahrt bin ich endlich im Hotel, einem guten, geordneten, sauberen Hotel, in dem ich mich die nächsten Tage garantiert wohlfühlen werde.
PS Song zum Thema: Andy Mackay – Trumpets On The Mountains Off To Work
Und hier geht’s weiter …