Der jährliche Neujahrs-Holiday ist vorbei, der Verkehrslärm braust lauter, intensiver. Montag.
Heute werde ich etwas Wichtiges feststellen. Yunnan ist ein anderes China.
Trotz leerem Magen und verschlafenem Kopf – selten eine gute Voraussetzung für die objektive Beurteilung einer unbekannten Stadt – bin ich vom ersten Augenblick an von einem eigenartigen Gefühl des Wohlbehagens erfüllt. Ganz und gar der Erwartungshaltung zuwider herrscht eine zwar geschäftige, aber trotzdem irgendwie entspannte Atmosphäre.
Ist das wirklich China?
Das hektische, gierige, dem Rubel nacheilende China, das uns alle weit in den Schatten stellt? Ich sehe mich um und erblicke nur freundliche, gelassene Gesichter, die mir einen schnellen, aber letztlich nicht wirklich interessierten Blick zuwerfen, und ihrer Wege gehen.
Lediglich die Kinder schauen genauer hin, mit einer Mischung aus Neugier, Überraschung und ein bisschen Erschrecken. Trotz Montag und Arbeitsbeginn scheint es nicht zu erhöhtem Blutdruck zu führen. Nicht wenige Leute hocken bereits mitten am Vormittag über ihren Suppentellern oder was immer sich in den Schüsseln befindet. Andere spielen chinesisches Domino oder Karten, die dazugehörigen Yuan-Scheine vor dem neugierigen Blick versteckt.
Orientierung in Jinghong
Ein guter Orientierungssinn ist eine schöne Sache, wenn man ihn denn hat. Eines ist sicher – ich habe ihn nicht. Ich frage mich immer wieder, wie ich es geschafft habe, von all meinen Reisen heil zurückzukommen, ohne mich in aussichtsloser Lage am Nordpol wiederzufinden.
Nun denn, auf jeden Fall bewege ich mich – vollkommen überzeugt, den Sonnenstand korrekt zu interpretieren – genau in die falsche Richtung. Ich bin etwas enttäuscht, dass sich die Prachtsstrasse irgendwo in der Nähe des Mekongs verliert. Das irritierte Gesicht des Mannes, dem ich auf der Karte meinen vermeintlichen Standort klar zu machen versuche, tut das seinige dazu. Es ist natürlich genau umgekehrt …
Sprachversuche in Mandarin
Nun denn, rechtsumkehrt, ein bisschen beschämt, aber frohen Mutes, und ich lande nach einigem unsicheren Herumgeschaue (wie finde ich wieder ins Hotel zurück??) bei dem im Führer angegebenen Kaffee. Es soll eines der wenigen Restaurants sein, das Menüs in verständlicher Sprache anbieten.
Und jetzt ist es auch Zeit, die ersten Sprechversuche in Mandarin zu wagen. Die freundliche Bedienung lächelt anfänglich verständnislos, als ich meine ersten chinesischen Ausdrücke anzubringen versuche. Sie verfällt schliesslich in lauthalses Gelächter, was mein Selbstvertrauen in Sachen Sprachbeherrschung nicht gerade auf neue Höhen hebt.
Ich bestelle ein Swiss Breakfast – haha -, doch der Kaffee ist süss und stark und gut, ebenso das Birchermüesli, wer hätte das gedacht. Ausgerechnet in Jinghong. Die Wege des Herrn sind wirklich unergründlich …
Stadterkundung
Jede Stadterkundung hat ihren eigenen Reiz. Ich bin schon lange der Überzeugung, dass eine Stadt sich erst dann dem Fremden öffnet, wenn er sie zu Fuss abgeht, zumindest die wichtigsten Gebiete.
Das Zentrum Jinghongs besteht im Grund aus mehreren schachbrettartig angelegten Strassen, breiten, mit hohen, laubbehängten Bäumen besetzt. Alle paar Meter ein Laden, eine Bank, ein düsterer Hauseingang, eine Suppenküche. Oder wie immer man diese Dinger bezeichnen soll, wo Leute in dichten Trauben auf Kinderstühlen kauern, während sie essen, palavern, kauen, spucken, lachen …
Museumbesuch
Vor lauter Herumschauen und Wundern verpasse ich beinahe das Museum. Es ist zwar geschlossen, aber nur schon das Äussere ist beeindruckend (wie so vieles, was ich heute gesehen habe). Langsam dämmert die Erkenntnis, dass ich für den Chinatrip viel mehr Zeit hätte einplanen müssen. Das nächste Mal …
Grossfamilien im Restaurant
Auch die Suche nach einem Ort, wo ich ein Abendessen kriege, was ich a) lesen und b) identifizieren kann, gestaltet sich schwierig (wer hätte das gedacht). Ich lande schliesslich in einem mehr als vollbesetzten Restaurant (alte Reiseregel: immer dort essen, wo es die meisten Leute hat), werde nach einigem Warten an einen Tisch gesetzt.
Freundlich wie ich nun mal bin (LOL), gebe ich den Tisch an eine Familie weiter, die sich vor Dankbarkeit fast bis zum Fussboden verbeugt (neue Freunde). Man bittet mich höflich an den Tisch einer andern Grossfamilie, die mich euphorisch in ihren Kreis aufnimmt.
Dem sich anbahnenden Gespräch ist aus verständlichen Gründen kein Erfolg beschert, denn wir verstehen schlicht kein einziges Wort, was der andere sagt. Aber man wirft sich immer wieder ein freundliches Lächeln zu, vor allem das an der Brust der Grossmutter schlafende Baby ist Anlass zu allerlei erfreuten und stolzen Grimassen …
Ein Tanz am Abend
Nacht ist über die Stadt gefallen. Auf dem Heimweg klingt plötzlich Musik in meinen Ohren, und beim Näherkommen ist zuerst unklar, ob jemand ein Fest feiert, eine Hochzeit im Gange, irgendwas …
Weit gefehlt: Am Ufer des kleinen Sees im Stadtzentrum haben sich Trauben von Leuten gebildet, die sich tanzend im Kreis bewegen, angeführt von einem alten Mann der der mit vollen Wangen in eine Art Trompete bläst und dabei Laute erklingen lässt, die in meinen Ohren, sagen wir mal recht seltsam klingen. Den Leuten aber gefällt’s: wildfremde Menschen tanzen miteinander, es sieht seltsam elegant und auf besondere Weise rührend aus.
Es gefällt mir sehr hier in Jinghong. Schade, dass meine Reiseplanung nur einen kurzen Abstecher in die Provinz Yünnan vorgesehen hat.
Eine Provinz, die so anders ist als das vorgestellte China.
PS Song zum Thema: Martha and the Vandellas – Dancing in the Street
Und hier geht die Reise weiter …