Abschied vom Major

Eigentlich hätten wir es im wunderschönen Garten des Majors noch ein bisschen länger ausgehalten, aber es drängt uns weiter, der Grund ist unklar, wer weiss schon, was in unseren seltsamen Köpfen vor sich geht. Das nächste Ziel ist Khajuraho, auch einer der touristischen Hotspots, die man offenbar auf keinen Fall verpassen darf, und vor allem durch ihre erotischen Darstellungen in den Tempeln bekanntgeworden ist. Wow, da sind wir aber gespannt.

Zunächst geht’s stramm gegen Süden, es sind rund 400 Kilometer via Gwalior und Jhansi bis Khajuraho. Im Normalfall in einem Tag zu schaffen, aber he, wir befinden uns in Indien. da kann es schon mal sein, dass man zehn Stunden unterwegs ist und kaum 100 km schafft.

Optimistisch wie immer fahren wir früh los, die ganze Belegschaft im Anwesen des Majors winkt uns zum Abschied, wir fühlen uns schon fast ein bisschen wehmütig.

Der Grössere gewinnt

Die Strasse bis Gwalior ist leidlich gut, nichts Besonderes zu erwähnen, was sich nachher allerdings sehr schnell ändert. Die Strasse wird nun verflucht schmal, und zum ersten Mal erfahren wir hautnah, was es bedeutet, dass das grössere Vehikel immer Vortritt hat.

Eigentlich ist es ganz einfach: da die Strasse so schmal ist, ist es unmöglich, dass zwei Fahrzeuge kreuzen können. Der eine, das heisst der kleinere, muss also von der Strasse weichen. Im besten Fall auf eine Wiese oder ein ebenes Feld, im schlimmsten Fall auf etwas Schlimmeres mit Gräben und Löchern und Steinen. Da Busse oder Lastwagen eindeutig grösser und stärker sind als unser vergleichsweise dürftiges Gefährt, drängen sie uns mit hämischem Grinsen von der Strasse.

Man kann sich vorstellen, wie ich mich bei diesen Manövern fühle, denn bei jedem dieser Ausflüge besteht das Risiko, dass irgendwas kaputt geht, ein Gelenk bricht, eine Achse beschädigt wird. Und immer stellt sich die Horrorvorstellung ein, in dieser abgelegenen Gegend zu stranden und womöglich wochenlang auf Ersatzteile zu warten.

Doch Rache ist süss, denn wenn WIR die Grösseren und Stärkeren sind, dann müssen alle anderen weichen, also normale Personenwagen, Fahrräder, Fuhrwerke, Fussgänger. Das hämische Grinsen unsererseits ist eine wahre Wohltat.

Verzeichnis einiger Probleme

Es ist gleichzeitig ein ereignisloser wie auch ereignisreicher Tag. Als erstes verlieren wir in Gwalior die Orientierung, bis wir nach langem Suchen die richtige Strasse finden. Kann man sich heute überhaupt vorstellen, was es heisst, ohne Navigationsgerät, nur mit einer überdimensionierten Karte und mittels Fragen bei Leuten, die kein Wort vestehen, ein Ziel zu finden?

Unser Problem mit den fehlenden Strassenkarten ist hinlänglich bekannt. Immerhin haben wir in Delhi eine Karte gefunden, nicht gerade detailliert, denn sie zeigt das ganze Land (sie hängt heute an meiner Schlafzimmerwand, eine immerwährende Erinnerung an ruhmreiche Zeiten).

Im besten Fall wissen wir, wo wir uns ungefähr befinden, also vielleicht auf 500 km genau. Alles andere ist Glückssache, aber he, bisher sind wir von einem besonders wohlgesinnten Gott meistens in die richtige Richtung geführt worden.

Und dann verlieren wir unsere Kumpels Beatrice und Ruedi, mit denen wir gemeinsam nach Kathmandu fahren wollen, aus den Augen. Na ja, sie schlicht schneller und wendiger als unser alter Bus, immerhin hoffen wir, sie in Khajuraho wieder zu treffen.

Und dann, sozusagen die Krone des Tages, verlieren wir wieder Oel, der Grund ist nach der Totalreparatur in Täbris ziemlich unklar und trägt nicht zum allgemeinen Wohlgefühl bei. Sollte uns eine Wiederholung der ersten Wochen drohen? (Seltsamerweise nicht, denn in den kommenden Monaten erweist sich unser Bus als wahrer Freund und bringt uns doch tatsächlich nach Hause).

Anyway, es ist kaum zu glauben, aber bei Sonnenuntergang fahren wir tatsächlich in Khajuraho ein, glücklich und müde und ehrlich gesagt fix und fertig.

Die erotischen Tempel

Khajuraho war ursprünglich die religiöse und kulturelle Hauptstadt des Chandella-Reiches, verlor jedoch nach dem Niedergang der Dynastie im 12. Jahrhundert an Bedeutung. Heute ist es eine Kleinstadt von ein paar tausend Einwohnern, zu hundert Prozent auf den Tourismus ausgerichtet.

Vor über tausend Jahren schuf die Chandella-Dynastie etwa 80 der schönsten Hindu-Tempel Indiens, von denen heute noch rund 20 erhalten sind und zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören. Diese Tempelgruppe ist neben den Tempeln von Bhubaneswar ein herausragendes Beispiel mittelalterlicher indischer Architektur. Aufgrund seiner abgelegenen Lage blieben die Tempel von zerstörerischen Übergriffen verschont und konnten so bis in die heutige Zeit überdauern.

Die Tempel sind berühmt für ihre erstaunlichen architektonischen Strukturen und die Vielzahl an Skulpturen, darunter auch erotische Darstellungen.

Was die erotischen Darstellungen anbetrifft, na ja. Für die prüden Inder müssen sie eine Art Playboy-Ersatz darstellen, für uns abgebrühte Westler eher ein lahmes Vergnügen.

Aber zugegeben, die Darstellungen sind teilweise nicht gerade als prüde zu bezeichnen. Immerhin stammt ja das Kamasutra, der heute noch bekannte Sex-Ratgeber, aus Indien. Na also.

Es ist allerdings ein besonderes Vergnügen, den indischen Männern zuzusehen, wie sie leicht verkrampft auf die Darstellungen zeigen, während ihre weiblichen Begleiter verschämt kichern. Wunderbar!

Der kleine Rikschafahrer

Um die ausserhalb der Stadt gelegenen Tempel zu besuchen, genehmigen wir uns eine Rikscha. Unser Fahrer, kaum zehn Jahre alt, soll uns dahin bringen. Nicht, dass diese Tempel unser besonderes Interesse haben, im Grunde sind sie kaum zu unterscheiden von denjenigen in der Stadt.

Die Fahrt durch die zahlreichen Dörfchen rings um Khajuraho ist wesentlich interessanter und gibt einen Einblick in das indische Dorfleben weit abseits touristischen Tohuwabohus. Unbefestigte Strassen, umgeben von ein paar ärmlichen Hütten, Kinder in allen Altersstufen, scheue Frauen, die sich schnell abwenden, wenn unsere Blicke auf sie fallen.

Als Bezahlung wünscht der Junge aber kein Geld, sondern mein T-Shirt, und da mir das Ding eh zu klein ist, sind wir mit dem Geschäft einverstanden (wir geben ihm aber trotzdem ein saftiges Trinkgeld, denn er hat seine Sache perfekt gemacht).

Das Joch mit der Technik

Eine permanente Unruhe treibt uns immer weiter, das nächste Ziel, der nächste Höhepunkt wartet. Heute Khajuraho, morgen Varanasi, Bodh Gaya, Katmandu … Wir sind gewissermassen Getriebene mit einer unstillbaren Lust nach Neuem. nach Ungesehenem, nach Erlebnissen, Erfahrungen … Etwas Ähnliches wird heute mit dem Ausdruck FOMO (Fear-of-missing-out) genannt.

Doch gelegentlich hält uns eine innere Stimme zurück, die uns manchmal leise, manchmal mit markigen Worten daran erinnert, dass keine Eile nötig ist, dass wir im Augenblick verweilen, diese einmaligen, nie wiederkehrenden Erlebnisse geniessen sollten.

Und so entschliessen wir uns für einmal, der Stimme nachzugeben und einen Tag in Khajuraho zu verweilen. Das Wetter ist grossartig, schön und warm, das Städtchen hat neben den Tempeln tatsächlich nichts zu bieten, aber was soll’s, wir fühlen uns in unserer vermeintlich faulen Haut sehr wohl.

Ausserdem gibt es eine Menge technischer Probleme zu beobachten. Unsere Freunde mit dem Citroën 2CV schlagen sich wieder einmal mit der Lichtmaschine herum. In der Nähe ist ein Bus mit deutschen Kennzeichen parkiert, allerdings ohne Motor, der offenbar nach 50000 km den Geist aufgegeben hat. Die dazugehörigen Damen sind hier geblieben, während ihre Männer nach Delhi gefahren sind, um dort möglicherweise einen Austauschmotor zu finden.

Tja, wie erwähnt, der befürchtete Supergau mit dem Auto.

Song von 1974: Average White Band – Pick up the Pieces

Und hier geht der Trail weiter … einem weiteren Höhepunkt entgegen – Varanasi (früher Benares)

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