Silvester in Kathmandu

Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Der letzte Tag des Jahres, Silvester, Besinnlichkeit und Feierlaune sind angesagt. Die Besinnlichkeit lassen wir für einmal beiseite, dazu gibt es in ein paar Monaten noch genügend Gelegenheit. Außerdem ist es nur unser letzter Tag im Jahr, die Nepalesen haben ihr Neujahrsfest schon vor drei Monaten gefeiert.

Von Silvester oder Neujahr ist also wenig zu spüren, es bleibt ein Thema für die Westler, von denen es allerdings viele gibt. Glückwünsche werden zwar in den Geschäften und Restaurants verteilt, man will ja bei den Touristen gut dastehen, also wünscht man ihnen alles Gute für das neue Jahr.

Abends trifft man sich vorerst nicht in bunt geschmückten Restaurants oder Hotels, um mit billigem Wein anzustoßen, sondern sitzt in warme Wolldecken gehüllt im Hof, lässt sich statt von einem ordentlichen Feuer von einem Benzinofen wärmen und erzählt sich Geschichten vom Trail, ob wahr oder nicht, spielt an diesem Abend keine Rolle.

Hippie-Latein, wie könnte es anders sein.

Orange Wine

Gegen 22 Uhr kommt dann doch so etwas wie Feierlaune auf. Wir machen uns auf den Weg in unser Lieblingsrestaurant, um den Rutsch in ein hoffentlich gutes neues Jahr zu feiern. Die Straßen sind wie ausgestorben, die Einheimischen längst im Tiefschlaf.

Das neue Jahr begrüßt man am besten mit Pies und Alkohol, wenn es denn Alkohol gibt. So begnügen wir uns mit einem nepalesischen Gebräu namens Orange Wine, das allerdings weder nach Orange und schon gar nicht nach Wein schmeckt.

Dass der Heimweg dann etwas länger dauert – wir sind etwas wackelig auf den Beinen – ist klar. Auf jeden Fall ist der Weg durch das nächtliche Kathmandu, das still und gar nicht feierlich das neue Jahr begrüßt, auf eine seltsame Weise feierlich. Man könnte fast sagen, es war ein geradezu wunderbarer Übergang vom wunderbaren Jahr 1974 in ein hoffentlich ebenso wunderbares Jahr 1975.

Ein Appenzeller in Grönland

Es ist anzunehmen, dass in heimischen Gefilden allerlei Kopfschmerzen zu bekämpfen sind, während wir uns trotz Orange Wine prächtig fühlen (damit hat sich der Verdacht, dass der „Wine“ nicht nur keinen Wein, sondern auch keinen Alkohol enthält, bestätigt, denn wir verspüren weder einen Hangover noch sonst etwas).

Ein kleiner, schräger Schweizer namens Kari hat sich in unserem Camp eingefunden und trägt einen großen Teil zur allgemeinen Unterhaltung bei. Man stelle sich einen Mann etwa Mitte zwanzig vor, der nicht nur viel zu große und viel zu weite Knickerbocker-Hosen trägt, sondern auch einen grauen Pullover, der wahrscheinlich ein paar hundert Mal zu oft gewaschen wurde.

Seine blauen Augen sitzen in einem lebhaften Gesicht, das von einer mehr als eigenwilligen Frisur (wahrscheinlich selbst geschnitten) und einer imposanten Hakennase gekrönt wird. Die Geschichten, die er in seinem Appenzeller Dialekt erzählt, sind für ihn wie das Normalste der Welt.

Von der Durchquerung eines südindischen Dschungels, in den sich nicht einmal die Einheimischen trauen. Von langen, eiskalten Polarnächten in Grönland. Von Jagdabenteuern im Packeis. Man fühlt sich in eine andere Welt versetzt. So müssen sich die Daheimgebliebenen fühlen, wenn sie unsere Geschichten hören.

Er mag ein Weltenbummler sein, aber ein Verkäufer ist er nicht. Wir haben das Glück, ihn beim Verkauf seines ziemlich heruntergekommenen VW-Käfers beobachten zu können. Das ist zwar aus der Bibel für angehende Verkäufer entnommen, allerdings aus dem Kapitel „Welche Fehler beim Verkaufen unbedingt zu vermeiden sind“. Es kümmert ihn wenig, früher oder später wird er jemanden finden, der ihm sein Gefährt abkauft.

Die Tage gehen dahin

Und so vergeht die Zeit. Manchmal sieht es aus, als ob uns die dunklen Wolken eine feuchte Überraschung bescheren möchten, was sich aber anfänglich als uneingelöstes Versprechen entpuppt. Als dann der Wettergott doch noch beweisen will, dass er sein Metier beherrscht, öffnet er die Schleusen und lässt den Regen wie mit Pferdehufen über das VW-Dach galoppieren. Und he, die Dachreparatur hält das Wageninnere dicht, und ich klopfe mir stolz auf die Schulter.

Nach den hektischen Tagen in Indien macht sich eine gewisse körperliche und geistige Erschöpfung bemerkbar. Und so tun wir das, was in solchen Fällen angemessen und das Beste ist: Wir tun nichts. Ein wunderbar entspanntes Gefühl, sich einmal keine Gedanken über die nächste Etappe, die Übernachtung und schon gar nicht über die nächste Tankstelle machen zu müssen.

Es ist, wie soll ich sagen, eine Möglichkeit, das Erlebte zu verdauen, Platz zu machen für das, was noch kommen wird. Man sitzt also einfach da, trinkt Kaffee oder raucht oder schwatzt und sieht zum Himmel, wo sich herbstliche Wolken zeigen.

Vielleicht hat es mit dem langsam zu Ende gehenden Sommer zu tun, mit den kühlen Abenden, die den Herbst und den nahenden Winter ankündigen. Noch ist es tagsüber warm, manchmal richtig heiß, aber es ist das letzte Aufbäumen vor der Kälte, die unweigerlich am Horizont lauert. Noch ist es nicht richtig Herbst, noch vergilbt das Laub nicht, noch fallen keine Blätter, und doch liegt etwas in der Luft.

Die Tage werden kürzer, die Sonne verabschiedet sich früh, es zieht langsam eine unangenehme, aber der Jahreszeit durchaus angemessene Kälte ein. Es kann vorkommen, dass das bereitgestellte Glas Wasser zum Zähneputzen nach einem längeren Schwatz im Wagen mit einer dünnen Eisschicht überzogen ist.

Der Affentempel

Aber auch für die überzeugtesten Nichtstuer fährt das Nichtstun nach einer gewissen Zeit in die Glieder, und ja, die Stadt hat soviel zu bieten. Die bekannteste und eindrücklichste ist der Swayambhunath Stupa. Wir legen also unsere selbstgewählte Apathie beiseite und machen uns auf zum berühmten Hügel über der Stadt.

[Viele Jahre später werde ich an der gleichen Stelle stehen, immer noch beeindruckt, immer noch berührt].

Der Swayambhunath Stupa, im Volksmund Affentempel genannt, gehört zu einer der 7 UNESCO Weltkulturerbestätten des Kathmandu-Tals und ist im Alter von mehr als 2.000 Jahren eines der ältesten Heiligtümer. Der  Stupa ist mit den ikonischen Augen des Buddha geschmückt, die gelassen über das Tal blicken. Die Stätte ist über eine lange Treppe mit 365 Stufen zugänglich, die zur Hauptplattform führt. Auf dem Weg dorthin stößt man auf zahlreiche Schreine, Tempel und eine große Population von heiligen Affen, die dem Tempel seinen Spitznamen gaben.

Swayambhunath ist nicht nur ein Ort der Verehrung, sondern auch ein UNESCO-Weltkulturerbe, das für seine kulturelle und historische Bedeutung anerkannt wurde. Der Komplex ist seit Jahrhunderten ein Zentrum der Verehrung und ist nach wie vor eine wichtige Pilgerstätte sowohl für Buddhisten als auch für Hindus.

Seinen Spitznamen verdankt einer der heiligsten Orte des Kathmandu Valley der großen Population einer Horde wilder Affen, welche die Anlage bevölkert. Weil die Tempelanlage ein beliebtes Ziel für Pilger und Touristen ist, haben sie ihre Scheu vor den Menschen längst verloren. Wittern sie Essbares, sind die Besucher auch nicht davor gefeit, von den Affen beklaut zu werden.

Der Stupa übt eine enorme Anziehungskraft aus, sowohl auf Touristen als auch auf Gläubige, die den anstrengenden Aufstieg auf sich nehmen, um Buddha zu huldigen. Wir sind also nicht die einzigen Besucher.

Vorbei an keifenden Affen steigen wir die exakt 365 Stufen hinauf, wo weithin sichtbar die golden glänzende Stupa thront. Obwohl auch hier viel von der ursprünglichen Ausstrahlung dem Tourismus geopfert wurde, ist die Anlage ein glänzendes Zeugnis der damaligen Baukunst.

Es ist nicht selbstverständlich, dass für die Pflege und den Erhalt dieser Stätte viel Mühe aufgewendet wird. Bedauerlich ist die Gleichgültigkeit der Behörden, die es versäumen, andere verfallene oder baufällige Gebäude zu restaurieren.

Singen und beten

Es gibt auch ein Kloster auf dem Hügel, in dem zahlreiche Mönche leben. Und wie so oft in buddhistischen Stätten – man darf sie problemlos betreten (angesichts der Tourismushorden ein zweifelhafter Nutzen).

Mönche aller Altersstufen bis hinab zum zehnjährigen Jungen sitzen in einem Viereck am Boden und murmeln ihre monotonen Gebetsformeln, gelegentlich unterbrochen von Blasinstrumenten, die von zwei Mönchen geblasen werden. Es ist auf jeden Fall laut und klingt wie die Trompeten von Jericho.

Es ist schwierig, all die sinnlichen Eindrücke in Worte zu fassen. Man könnte von einem Beispiel sprachlicher Unzulänglichkeit sprechen. Wie auch immer, wir kehren nachdenklich, beschenkt, und ein bisschen müde nach Hause.

Passender Song zu 1975:  AC/DC – TNT 

Und hier geht der Trip weiter … immer noch in Kathmandu

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