Wann geht denn die Sonne auf?
Diese Frage stelle ich dummerweise erst, nachdem ich – wie eine Menge anderer Leute – um knapp halb Sechs vor dem stockdunklen Eingang zu Angkor Wat stehe. Die Frage betrifft die Zeit: was ist der Grund, dass man um halb Fünf aufstehen muss, um dermassen früh schon hier zu sein, denn – und das ist die Frage aller Fragen überhaupt … Aber niemand scheint sie zu beantworten können. Die ewigen Mysterien Asiens …
Dunkel wie in einem Kuhmagen
Ich stolpere im Licht der iPhone-Taschenlampe über die Brücke hinüber zum Eingang, vor, hinter und neben mir eine ganze Menge anderer schemenhafter Gestalten, stumm und müde. Man hört allenfalls allenfalls unterdrücktes Murmeln, ein kurzes Lachen, Schritte auf Stein. Das Ganze erinnert unangenehm ans Militär, Nachtmärsche …
Es ist dunkel wie in einem Kuhmagen, ein paar vereinzelte Sterne blinken am wolkenlosen Himmel, Mauern aus uralten Steinen wachsen vor den verschlafenen Augen in die Höhe. Mitten im riesigen ummauerten Hof liegt ein Teich, offenbar der Versammlungspunkt der Sonnenanbeter. Langsam kriecht die Dämmerung heran, die Welt erhält Form und Farben, und jetzt erkennt man die Brüder im Geiste, die sich, Smartphones, Kamera, iPads gezückt, am Teich versammelt haben.
Doch der Magen ist leer, der Geist ebenso, und so entschliesst man sich, Sitzplätze am Teich hin oder her, einen Kaffee zu trinken. Wieder einer dieser merkwürdigen Anlässe am frühen Morgen, und wieder taucht eine Erinnerung auf, die sich – wie könnte es anders sein – in Indien abgespielt hat, genauer gesagt in Udupi, ein paar Stunden südlich von Goa (oh Indien, du Quelle wunderbarster Episoden, du zum Leben erwecktes Monty Python Sketch).
Kaffee mit Zusätzen
Der Kaffee ist gut (mit Kondensmilch!) und könnte im Notfall Lazarus zum Leben erwecken, der dazu bestellte Banana-Pancake entspricht allerdings weder in Form noch Inhalt den Erwartungen, aber einmal mehr, was soll’s.
Dass innerhalb von wenigen Minuten etwa zwanzig winzige, weisse Mücken (Fliegen? Motten?) leblos im Kaffee schwimmen und diesem einen milchigen Teint verpassen, finde ich dann doch etwas too much, und so entsteht ein Rennen auf Zeit, indem ich versuchen muss, mehr Mücken aus dem Kaffee zu fischen als sich neue in den Tod stürzen …
Eine Million Klicks …
Irgendwann – in der Zwischenzeit hat sich der Platz vor dem Teich gefüllt – schleicht sich eine anfangs unmerkliche Röte hinter den majestätischen Tempelanlagen heran, Unruhe entsteht, ein mehrsprachiges, nervöses Gemurmel liegt erwartungsvoll über der unwirklichen Umgebung, und da, wie ein plötzlicher Farbklecks am Himmel, genau hinter den Türmen, orange und rund und leuchtend, die Sonne … Und eine Million Klicks, alle im genau gleichen Augenblick …
Alles in allem, ja, es hat sich gelohnt, obwohl es wahrscheinlich Millionen besserer Fotos gibt, doch es sind die eigenen, die zählen. Wenn man genau den richtigen Platz gewählt hat, dort, wo sich die Tempelanlage im Wasser des Teiches spiegelt, den richtigen Augenblick erwischt, die richtige Position der Türme, dann ist das pure Magie …
Und jetzt erst sind sie alle sichtbar, die hunderten von Zuschauern, alle berührt durch das wunderbare Spektakel, das sich alle Tage in grandioser Regelmässigkeit wiederholt …
Von einem Steinhaufen zum nächsten
Doch Tag hat erst begonnen, und er verspricht lang und heiss und – da vieles schon gesehen – etwas mühsam zu werden. Doch der Tuk-Tuk-Fahrer spult sein Programm ab, lädt mich da ab und dort, und während er den nächsten gemütlichen Schwatz mit einem Kollegen abhält, stolpere ich zum nächsten Steinhaufen, bin immer noch begeistert, doch immer weniger motiviert und ärgere mich in zunehmendem Mass über die vielen Reisegruppen, die weder sehen noch staunen, sondern ausschliesslich knipsen und zwar vornehmlich sich selber oder die anderen Teilnehmer …
Langsam kenne ich mich aus. Ich folge nicht den Menschenmassen, die sich träge von einem Tempel zu anderen schleppen, ich suche meine eigenen Wege. Manchmal sind sie abseits des Trubels, inmitten überwachsener Hügel, die mit grosser Wahrscheinlichkeit ebenfalls etwas verbergen, manchmal hinter einer Abzweigung.
Es ist ein Wunder. Ein menschengemachtes Wunder. Dem Urwald entrissen, vielleicht im letzten Moment.
Und so geht ein weiterer Tag dahin, beinahe der letzte, es wird nun eng, richtig eng …
Abend in Siem Reap
Siem Reap, obwohl ein Touristenort erster Klasse, mit zahlreichen Restaurants, die jedes Menü anbieten, mit Musik, Ausstellungen und dem unausweichlichen Verkehrsaufkommen, gefällt mir gut. Die Stadt selbst bietet nicht allzu viel, das braucht es auch nicht, denn jeder kommt wegen Angkor Wat.
Trotzdem fühle ich mich wohl. Genauso wie am Tag zuvor esse ich in meinem Restaurant, und während ich genussvoll esse, beobachte ich das Treiben auf den Strassen und Gassen. Leise Wehmut kommt auf, den morgen geht’s zurück nach Phnom Penh …
PS Song zum Thema: The Marbles – The Walls fell down
Und hier geht die Reise weiter …