Beim Aufwachen, das mir vorkommt wie das Aufsteigen aus einem tiefen schlammigen Sumpf, höre ich die gemurmelten Gesänge des Grossvaters.
Mit benebeltem Kopf schlüpfe ich in meine Kleider, checke aus lauter Gewohnheit das iPhone nach eingegangenen Meldungen, vergeblich natürlich, denn in dieser abgelegenen Gegend gibt es keinen Internetempfang. Sehr gut! Das nennt man – wenn auch unter erzwungenen Umständen – Digital Detox. Dann lassen wir uns heute und morgen also ein wenig entgiften. Mal sehen, ob die Kur hilft …
Das Gebäude, wie die meisten in Ladakh, sind mehrstöckig angelegt. Die einzelnen Etagen sind durch teilweise furchteinflössende Treppen erreichbar, so auch in diesem Fall. Mein Zimmer liegt ganz zuoberst auf dem Dach, neben drei anderen, die sich um einen kleinen Platz unter freiem Himmel gruppieren. In einer Ecke, gut versteckt, so dass ein nächtlicher Besuch ohne Taschenlampe zu einem Abenteuer wird, die Toilette, die gleichzeitig als eine Art Dusche dient. Das Wasser ist erfreulich warm, zumindest war es das gestern Abend, wie immer durch Solarstrom erwärmt.
Wie könnte es anders sein, befindet sich im Wohn-/Esszimmer nur noch die Familie. Die anderen Trekker sind längst auf dem Weg. Man empfängt mich aber trotzdem mit einem freundlichen (oder mitleidigen?) Grinsen, serviert ein wunderbares Frühstück, und während ich esse, schaffen wir es gemeinsam zu einem Gespräch. Zwar etwas holprig und möglicherweise mit vielen Missverständnissen, aber was soll’s. Die Mutter, designiertes Oberhaupt des Homestays, erzählt von ihrem Leben, von den Schwierigkeiten, der täglichen Mühsal, vom Wasser, das immer weniger von den Bergen kommt. Auch sie ist sich der Problematik des Klimawanderls bewusst.
Und immer, verdammt nochmal, müssen wir Westler einsehen, dass die wahren Opfer diejenigen sind, die am wenigsten etwas dafür können …
Der richtige Weg
Und so mache auch ich mich auf den Weg, verspätet zwar, aber um viele Erkenntnisse reicher.
Aber zum Wanderweg zurückzufinden, ist manchmal eine echte Herausforderung. Alles, was man weiss, ist die ungefähre Richtung. Der Wirt vom Homestay erklärt mir zwar des langen und breiten den richtigen Pfad, also irgendwie quer über das Feld, dann bei der Kuh links und nach der Brücke rechts, wo es dann ein weiteres Mal zuerst in eine Schlucht hinunter gehen soll.
Nach einigen ergebnislosen Versuchen und unterdrücktem Fluchen scheint Winnetou doch noch auf dem richtigen Weg zu sein. Es geht anfänglich steil bergab – die mitgebrachten Stöcke sind ein Segen – um dann einen munter sprudelnden, von Bäumen und Sträuchern gesäumten Fluss zu erreichen. Eine wunderbare Abwechslung nach all den öden Felsen. Es passt zu meiner Stimmung, der Schlaf war lang und tief, und ich fühle mich, als könnte auch der Everest keine echte Herausforderung sein.
Und bereits der erste Halt
Der Wirt hat mir auch erklärt, dass ich mich weiter oben bei einem Chörten links halten soll, was ich aber irgendwie vergessen habe, und so führt mich der Weg zwischen krumm gewachsenen Wachholderbäumen durch zu einem Restaurant, wo ich mir erst mal einen Kaffee genehmige und mit der Wirtin herumschäkere. Diese ladakhischen Damen haben es in sich: hier gilt noch wie im Tibet die Vielmännerei, also mit ein bisschen Glück und Charme könnte ich mich vielleicht in den Reigen der zahlreichen Ehemänner eingliedern. Naja, vielleicht im nächsten Leben …
Das Tal verengt sich nun wieder, der Weg ist (eigentlich) nicht mehr zu verfehlen.
Aber weiter oben – nachdem ich die Chörten-Kreuzung doch noch gefunden habe – geht’s wieder steil nach oben (what comes up, must come down oder umgekehrt). Ich höre Stimmen und treffe auf zwei junge Israelis, die trotz Google Maps Mühe haben, den Weg zu finden. Es wird einmal mehr klar, wie sehr die modernen Gadgets unsere Sinne (und offenbar auch den gesunden Menschenverstand) zum Versiegen bringen. Man muss einfach dem Weg folgen, es gibt keinen anderen … Mein Gott!
Ein paar Minuten später stösst auch Yoko zu uns (das japanische Girl, das mich gestern Abend von einem unnötigen Abstieg rettete) und gemeinsam lösen wir das Problem (das keines ist) Die beiden Jungen hetzen anschliessend wie vom Teufel gehetzt den Berg hinauf, während Yoko zurückbleibt (I have my own pace).
Ich habe auch mein eigenes Tempo, heute wirklich ganz ganz langsam. Der gestrige Durchschnittspuls von 132 Schlägen pro Minute war eindeutig zu hoch, also muss ich mich heute am Riemen reissen. Meine Polar-Pulsuhr ist ein echter Glücksfall: sie zeigt mir nicht nur den Puls an, sondern speichert via GPS-Signal den ganzen Weg (sodass ich ihn später auf dem PC ansehen kann), berechnet Auf- und Abstieg, den höchsten Punkt, die HF-Zonen, den Kalorienverbrauch.
Es wird wieder heiss
Die frühmorgentlichen Wolken haben sich verzogen, die Sonne brennt erbarmungslos Löcher in die Welt, es scheint, als würden sich die Felsen mit Hitze aufladen. Es könnte sich zu enem verbissenen Kampf mit der Natur entwickeln, was es aber nicht tut, denn das sind genau die Bedingungen, die ich liebe. Ich folge also dem nun gut sichtbaren Pfad aufwärts, nur manchmal von ein paar kümmerlichen Büschen gesäumt, deren Namen ich gerne wüsste, aber wieder mal keine Ahnung habe. Ich bin ja mit dem absoluten Minimum an Gepäck unterwegs, also keine Möglichkeit, in einem entsprechenden Buch nachzusehen (in einem ladakhischen „Was blüht denn da?“) und da wie erwähnt auch kein Internet Empfang existiert, ist man hinsichtlich Informationsversorgung ziemlich am Arsch …
Trekking Indian Style
Irgendwo auf dem Weg soll’s einen Tea-Shop geben, allerdings ist heute Wirtesonntag, also niemand da.
Die einzige Menschenseele weitherum ist ein ladakhischer Fahrer, der auf seine indische Kundschaft wartet; er hat den Lunch zu diesem Treffpunkt hochgefahren, damit niemand zuviel tragen muss (dass überhaupt Inder einen einzigen Schritt zuviel machen, wundert mich doch etwas; im Allgemeinen sind eher motorisiert unterwegs). Er teilt mit mir seinen Apfel, während ich mich darüber wundere, dass es auch hier in dieser menschenleeren Einöde eine weitere Abfall-Trennanlage gibt (Paper – Plastic – Metal; please use me!). Das kennen wir bereits mit Hochachtung.
Und tatsächlich, nach ein paar Minuten tauchen ein paar schwer atmende und schwitzende Gestalten auf, in die allerneuesten und modernsten Outdoorkleider gehüllt, was bei diesen Temperaturen bestenfalls als modischen Eigensinn bezeichnet werden kann ), und lassen sich stöhnend zu Boden sinken, als hätten sie soeben den Gipfel des Mount Everest erklommen. Es dauert eine Weile, bis sie sich erholt haben, aber dann muss es zackig gehen. Ich bewundere den Ladakhi, der das arrogante Benehmen seiner Kundschaft mit stoischer Miene (und einem gelegentlichen Grinsen in meine Richtung) über sich ergehen lässt. Tja, die Inder aus dem Süden, sie sind, wie mir gesagt wird, die mit Abstand verhassteste Kundschaft in Ladakh. Was ich aus heutiger Sicht durchaus verstehen kann …
Teekochen auf dem La
Der heutige La führt ziemlich hoch auf eine windige Passhöhe, wo man durch die üblichen Gebetsfahnen begrüsst wird. Im Hintergrund ist bereits das nächste Tagesziel zu erkennen. Ab hier wird die Tour eine einzige Freude sein. Doch der Rundblick in die marsähnliche Berglandschaft ist phantastisch.
Die beiden Israelis sind am Picknicken, der eine – Ro oder Or, ich kann mich nicht erinnern – ist bereits daran, Tee zu kochen. Na dann, Shalom! Der andere, Arthur, offenbar mit dem ADHS-Syndrom geschlagen, kann keine Sekunde ruhig sitzen, rennt den Hügel hinauf und hinunter, will unbedingt ein Selfie mit mir zusammen machen. Er verabschiedet sich schon bald. Ro/Or bleibt zurück, hat Schmerzen und Verdaungsprobleme, spricht kaum englisch, also nicht unbedingt der perfekte Begleiter, aber was soll’s, dann komm halt mit!
Eine braune, gelbe, graue Wüste
Wenn ich mich umsehe, erkenne ich lediglich graue, braune Wüsten. Kein Leben. Manchmal zu meinem Erstaunen einen grünen Fleck im Tal, einen Baum, einen Strauch, eine Wiese. Die Luft scheint zu flimmern, ein leichter Dunst hängt wie Leichentücher über den weit entfernten Gipfeln. Man fragt sich nach dem Sinn des Hierseins und bekommt keine Antwort. Auf der anderen Seite weiss man sehr genau, was den Ansporn ausmacht. Es sind genau diese Momente, wo die eigenen Grenzen überschritten werden, wo sich eine Welt auftut, die ausserhalb unseres normalen Erlebnishorizonts liegt. Im übrigen ist es normal, an solchen Orten von philosophischen Attacken überfallen zu werden. Das gibt sich jeweils schnell wieder. Spätestens beim nächsten schweisstreibenden Aufstieg …
Hemis Schukpachen entgegen
Es geht nun ziemlich gemütlich das Tal hinunter dem nächsten Dorf, Hemis Schukpachen, zu, doch Ro/Or gerät nun in echte Troubles, denn das, was ihm in seinem Verdauungstrakt Probleme bereitet, will unbedingt an die frische Luft. Ich rate ihm, einen grossen Felsen zu suchen, hinter dem er sich zwecks Darmentleerung zurückziehen kann. Eine gute Idee, findet er und sucht sich einen entsprechenden Felsen. Es gibt eine ganze Menge davon, gross und breit genug, doch der von ihm ausgesuchte Stein ist gerade mal etwa 30 Zentimeter hoch. Wirklich? HInter diesem Stein? Ro/Or hat offenbar eine eigene Vorstellung von Diskretion, auf jeden Fall verziehe ich mich ziemlich schnellen Schrittes ins Dorf hinunter …
Das Dorf, das Hotel
Dort werde ich bereits von einer Ladakhin erwartet. Sie schwärmt in den höchsten Tönen von ihrem sozusagen neuen Guesthouse, von Hot Shower und dergleichen. Deal! Und sie hat nicht zuviel versprochen. die Zimmer sind gross, die Badezimmer neu und sauber, das Wohn- und Esszimmer einladend.
Und wie immer, nach einer gewissen Zeit trifft man auf alte Bekannte, diesmal die grosse Gruppe Israelis, eine lärmige lustige Truppe (der Wirt erklärt allerdings später, dass sie die halbe Nacht durchgefeiert, gesungen, getanzt, gesoffen und geraucht haben, was nicht dem allgemein üblichen Verhalten in Ladakh entspricht). Anyway, die Girls sind hübsch, und ich bin etwas enttäuscht, als sie eine halbe Stunde später vom Bus abgeholt werden (zusammen mit Ro/Or übrigens, der sich zwecks Besserung seiner Beschwerden zu einem Rückzug entschlossen hat).
Und wieder ein Buddha
Auf einem Hügel thront über der Stadt eine riesige Buddha-Statue, einmal mehr vom zukünftigen Buddha Metreya. Das Dorf ist im Gegensatz zum letzten eine Offenbarung. Viel Grün, sprudelnde Bäche, nette Leute,
„Julee“ hier und „Julee“ da. „Julee“ ist der wichtigste Ausdruck überhaupt, er bedeutet, Grüezi, Adieu, Danke, alles zusammen.
I’m the luckiest person in the World
Auf einem Feld arbeitet ein älterer Mann, er winkt mir zu (let’s talk a bit). Der erste Satz: I’m the luckiest person in the World. Und dann erzählt er mir von seiner Reise nach Europa, von seinen Freunden in Frankreich und Holland, er hört nicht mehr auf, und schliesslich finde ich mich als kurzfristig angeheuerte Hilfskraft beim Zusammenfalten riesiger Plastiktücher wieder, auf denen die geernteten Gerstenähren ausgebreitet und getrocknet werden.
Eine erstaunliche Begegnung. Da findet man doch im hintersten Winkel dieses Landes, wo sich ausser ein paar Trekker niemand einfindet, einen Mann, der offenbar ein spannendes Leben gehabt hat. Seine Geschichten wären es wert, aufgeschrieben zu werden. Während wir arbeiten, stehen und sitzen andere Leute herum, deren Rolle mir unklar bleibt. Aber man lacht und tratscht und findet es offenbar sehr lustig, einen Ausländer beim Arbeiten zuzusehen, während zur Abwechslung sie mal nichts tun …
Neue Gäste
In der Zwischenzeit sind neue Gäste eingetroffen, Mike und Matt aus New York, Andreas und Thomas aus dem Ruhrgebiet.
Ausserdem sitzt ganz still und in sich gekehrt eine ältere Dame auf ihrem Stuhl, stellt sich irgendwann als Anna aus England vor und hat (später) eine Menge unglaublicher Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen. Es wird ein langer lustiger Abend mit neuen Freunden (nur die Frage an die beiden Amis nach dem nächsten November (Trump/Clinton) führt zu sekundenlangem eisigem Schweigen). Wen wundert’s …
PS Song zum Thema: Ike & Tina Turner – River deep, Mountain high
Und hier geht die Reise weiter … zur 3. Etappe