Der Hotelmanager verliert in Sekundenschnelle seine überfreundliche Contenance, als ich ihn beim Check-out auf die nicht-vorhandene Wifi-Unterstützung in den Hotelzimmern anspreche. Er stottert was von technischen Problemen, von Aufwand und Kosten. Ich weise ihn auf mögliche Repeater hin, aber davon scheint er noch nie was gehört zu haben.

Wieder mal ein Beispiel, wie Dummheit und Profitgier den Ruf unserer hochgelobten Hotellerie und Gastronomie ad absurdum führen. Wifi in einem Kongresshotel? Wofür auch!

Ich schenke ihm zum Abschied einen mitleidigen Blick, den er mit grimmig verzogenen Mundwinkeln quittiert.

 

Die längste Sitzbank der Welt

Ist mir gestern vor lauter Halbzeit-Feierlaune gar nicht aufgefallen – hier steht mit 38,03 Meter doch tatsächlich die die längste, aus einem Stück gefertigte Sitzbank der Welt.

 

The longesr bench of the world, cut from one single tree

Der Sinn und Zweck entgeht mir zwar wie meistens in solchen Angelegenheiten, aber der Eintrag im Guiness Buch der Rekorde hat sicher eine Rolle gespielt. Wenn ich ehrlich bin, finde ich dieses komische Streben nach den absurdesten Weltrekorden einfach nur… absurd.

„Die grösste Pizza der Welt. Der längste Bart der Welt. Die meisten Menschen in einem Auto.“

Da passt doch die längste Sitzbank der Welt perfekt hinein. Seltsamerweise (oder nein, eigentlich klar) sind die Schweizer überdurchschnittlich oft vertreten in diesem Buch der Rekorde.

Na ja, auf jeden Fall soll hier jeweils Anfang August die weit herum bekannte Lüdern-Chilbi stattfinden, da gibt es zumindest genügend Leute, die eine Sitzgelegenheit suchen.

Klinge ich heute etwas zynisch?

Kann sein, denn ausgerechnet zur Halbzeit schmerzt heute Morgen so ziemlich alles. Es gibt offenbar Muskeln und Sehnen und allerlei anderes, was mir bis jetzt unbekannt war. Und schmerzen kann. Aber das gibt sich. Eine halbe Stunde marschieren, und alles ist gut.

 

Tatsächlich ein bedeckter Himmel?

Ich traue kaum meinen Augen, als mir der Blick aus dem Fenster doch tatsächlich einen bedeckten Himmel zeigt. Wo zur Hölle ist das strahlende Blau geblieben, die kleinen verspielten Wölkchen, die brennende Sonne?

Und sind das tatsächlich ein paar düstere Schleier, die langsam und stetig am Himmel vorüberziehen?

 

Clouded sky - change of weather?

Anyway, auch heute steht ein überaus angenehmer Weg vor mir, auch wenn ich einmal mehr eine alternative Route nehmen muss. Das Hotel auf der Moosegg war ausgebucht, und weit und breit kein Ersatz zu finden. Die Lösung liegt in Signau im Roten Thurm. Auch gut.

Im Herzen des Emmentals führt die Route über einen langen Bergrücken mit verstreuten Bauernhöfen und viel Aussicht hinunter ins breite Tal der Grossen Emme, dann hinauf zur ebenfalls aussichtsreichen Moosegg.

Alternative:  Länge: 17 km, Aufstieg | Abstieg: 740 m | 1165 m, Wanderzeit: 7 h

 

From Lüdernalp to Signau

Ehrlich gesagt, ist mir das Wetter schnuppe, ich nehme, was kommt. Immerhin ist es mir in den letzten Tagen ja weiss Gott wohlgesonnen gewesen.

 

Lüdernalp disappers in the maze

Die Lüdernalp samt inkompetentem Manager bleibt im knappen Morgenlicht zurück, für einmal bedauere ich den Abschied nicht. Die Blumenpracht rechts und links des Weges muntert die Stimmung im Nu auf, und die positiven Gedanken sind zurück.

Die Natur spiegelt, man kann sich der Schönheit nicht entziehen. Wer durch diese Pracht geht und dabei negative Gedanken zulässt, sollte zuhause bleiben. Wenn schon, dann sind am besten gar keine Gedanken empfehlenswert.

 

My constant companions

 

Ein weiser Mann

Fernando Pessoa, einer der wichtigsten Dichter in portugiesischer Sprache und zu den bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts gehörend, war zu Lebzeiten beinahe unbekannt geschweige denn anerkannt.

Man kann in seinem wichtigsten Werk „Das Buch der Unruhe“ gelegentlich blättern (niemand liest es von vorne nach hinten), in den zufällig ausgesuchten Kapiteln versinken und sich zum hundertsten Mal fragen, warum ein derart weiser Mensch unbekannt und unbeachtet blieb.

Er schrieb am 21.6.1934: Sobald wir die Welt als eine Illusion und ein Trugbild betrachten, können wir alles, was uns widerfährt, als einen Traum ansehen, als etwas, was zu sein vortäuschte, weil wir gerade schliefen.

Nun, wenn das, was mich auch heute umgibt, lediglich eine Illusion, ein Trugbild, ist, dann hat der Illusionist gut gearbeitet. Ich komme mir zwar alles andere als schlafend vor, aber vielleicht gehört das gelegentliche Schnaufen bei steilen Aufstiegen zu einem Alptraum.

Aber es erinnert an Buddhas Weisheiten:

Verblendung oder Täuschung oder Illusion, die uns die Welt nicht so sehen lässt, wie sie ist, sondern wie wir sie sehen wollen oder fälschlich gelernt haben, sie zu sehen. Einige Gelehrte behaupten, das ganze Leben sei eine große Illusion.

Passt doch, nicht wahr?

 

cross by the wayside

 

Kreuze und fromme Sitzbänke

Wieder erinnern Kreuze am Weg an Verstorbene, man schweift einen Augenblick lang weg vom Leben, doch dann geht der Schritt vorwärts, die Gedanken ändern sich, verweilen bei einer Sitzbank, in deren Lehne ein frommer Spruch eingebrannt ist.

Man merkt den religiösen Hintergrund der Gegend.

 

Bench with religious saying

 

Ein Baum und ein Landeplatz

Aber dann taucht ein riesiger Baum auf, alles nur noch reinste Natur in all seiner Kraft und Schönheit.

Das wäre doch ein Baum, wo Tiburon nach seinem Sturzflug hätte landen können.

Viel später, als das Erinnerungsvermögen langsam und bruchstückhaft zurückkehrte, erinnerte er sich an diese plötzliche Stille, das Ächzen der Stangen und an den Boden, der mit erschreckender Geschwindigkeit auf ihn zugerast kam. Sein Jungfernflug war zu einem bizarren Totentanz geworden. Der Gleiter taumelte auf eine Gruppe Bäume zu, und im letzten Moment gelang es ihm, die Beine hochzuziehen, bevor er mitten ins ausladende Geäst eines riesigen Ahorns geschleudert wurde.

Der alte Baum schüttelte sich wie ein nasser Hund, dann war es still.

(Ausschnitt aus „Eine Schlange in der Dunkelheit„)

 

huge tree

 

Der Mensch und seine Haustiere

Immer mal wieder tuckert ein Lastwagen vorbei, „Lebende Tiere“ steht angeschrieben. Er ist vollbeladen mit Schafen, ein anderes Mal mit quiekenden Schweinen (die meistens instinktiv merken, dass etwas Ungutes im Gange ist).

Es fällt mir immer schwerer, diese Anblicke zu ertragen. Wird man im Alter dünnhäutiger? Erträgt man das Elend weniger?

Dass man sich im Alter eine dicke Haut zulegt, so quasi automatisch, ist dummes Zeug, im Gegenteil. Man wird durchlässiger, verletzlicher, weicher, vielleicht als Ergebnis der eigenen Lebenserfahrungen. Man schaut genauer hin, reflektiert, blickt unter Oberfläche, erkennt.

Der Mensch hat sich schon immer mit Schuld beladen. Rücksichtslosigkeit, Dummheit, Misshandlung, Gedankenlosigkeit, Kaltherzigkeit. Massentierhaltung. Tiermisshandlungen. Waisenhäuser. Verdingkinder … Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.

Wenn ich an die Strassenkinder in Kathmandu denke, kommen mir wieder die Tränen, und ich spüre einmal mehr die schmerzhafte Hilflosigkeit.

Ist der Mensch tatsächlich so, wie er manchmal scheint? Kaltherzig, auf den eigenen Vorteil bedacht, rücksichtslos, grausam und brutal?

Da kommt doch die alte Bauernfrau, die schweres Holz auf einen Anhänger lädt, gerade recht. Ich plaudere mit ihr und erhalte ein paar Minuten mehr über die wirkliche Natur des Menschen zu hören, als in jedem Lehrbuch zu finden ist. Sie ist längst pensioniert, allerdings, wie sie lachend verkündet, nur theoretisch, denn sie und ihr Mann müssen auch im hohen Alter zusehen, wie sie finanziell über die Runden kommen.

Sie erzählt das mit heiterer Gelassenheit, und kein einziges Mal ist so etwas wie Bitterkeit auf ihrem runzligen, wunderbar alten Gesicht zu erkennen, auch wenn sie die Ungerechtigkeit ihrer Situation sehr wohl beurteilen kann.

Also, der Mensch ist auch gutherzig, hilfsbereit, freundlich und viele anderes auch. Nicht, dass ich es nicht gewusst hätte, aber es rettet doch gleich meinen Tag …

 

Die höchste Weisstanne der Schweiz

Der Weg führt nun wieder durch einen dichten Wald, den Dürsrütiwald, der sich auf über 900 m ü. M. befindet. Und in diesem Wald wächst seit über 350 Jahren die mächtigste Weisstanne der Schweiz. Rund 57 Meter hoch war sie, bevor ihr der Sturm Lothar 1999 die Krone geraubt hat.

Man muss sich das vorstellen: Höhe 57 Meter, Umfang 4.90, Durchmesser 1.56 Meter, Alter 350 Jahre.

350 Jahre! Was muss die gute Tanne schon alles erlebt haben. Noch vor der Französischen Revolution, vor Napoleon, vor all den Ereignissen nachher erblickte der kleine Schössling das Licht des Waldes. Verrückt! Natürlich gibt es Bäume, die noch viel älter sind, so beispielsweise Methusaleh, eine 4700 Jahre alte Kiefer im Inyo National Forest in Nevada.

Doch ich kann mir vorstellen, dass sich der Wald um ihn herum nicht gross verändert hat. Zahlreiche Tannen und Buchen und Ahorn wuchsen ringsherum und verschwanden wieder. Manchmal tauchte ein Mensch auf, vielleicht spielende Kinder, Holzfäller oder Wildhüter, Füchse und Rehe und Eichhörnchen, später Spaziergänger und Wanderer.

Das alles hat den Baum nicht gekümmert. Nur dann, wenn ein Sturm kam oder schwerer Schnee, dann spürte er die Gefahr, doch erst in Lothar, diesem grausamen Kerl, fand er einen Widersacher, dem er nicht gewachsen war, der seine Krone wollte und bekam.

Man bleibt staunend und bewundernd und gerührt stehen.

 

Across the Dursrütiwald

the tallest white fir in Switzerland a very old story

you cannot see the broken top

sad looking top, broken by a storm

 

Kunstvoll gestapelte Holzbeigen

Und noch eine Merkwürdigkeit (ich wundere mich immer wieder über die unerwarteten Entdeckungen am Wegrand): diese Gegend ist offenbar auch berühmt für ihre Holzbeigen. Keine Ahnung, wer sich soviel Mühe macht, die Holzscheiter in eine Art Kunstwerk zu verwandeln.

Der Wagen mit den beiden Rädern steht nicht etwa vor der Beige, sondern ist ein dreidimensionaler Teil davon. Ich stelle mir die Leute vor, die sich vielleicht lange überlegen, welche Abbildung der zukünftige Holzstoss zeigen soll. Erstaunlich! Manchmal machen mich meine Landsleute hässig, aber immer wieder überraschen sie mich.

Genau dafür sind solche Wanderungen gemacht.

 

the art of stacked firewood

The art of stacked firewood in the Emmental

 

Im Tal der Emme

Und dann erreiche ich den Talboden, das Emmental, mache ein paar Meter durch Emmenmatt und zweige ab. Jetzt würde der Panoramaweg in Richtung Moosegg führen, doch ich wandere nun der Emme entlang nach Signau.

Der Fluss macht hier noch einen harmlosen Eindruck, so wie viele dieser Art. Doch wenn ein Starkgewitter losbricht, entwickelt sich der Fluss in Minutenschnelle zu einem reissenden Monstrum.

 

Emme Emme 2

Emme 3 Emme 4

Ich wandere also frohgemut dem Fluss entlang, Bäume entlang dem Ufer schenken mir gnädig etwas Schatten. Es scheint ein Hündelerparadies zu sein, alle paar Meter kreuzen mich Herr und Hund oder Frau und Hund, und immer werde ich andächtig beschnüffelt und in manchen Fällen als Zeichen beginnender Freundschaft abgeleckt (von den Hunden natürlich, weder von Herr noch Frau).

 

Old bridge over troubled water

Dann dreht der Weg ab auf die andere Seite der Emme, der Übergang ist nicht einfach eine Brücke, sondern ein hölzernes Kunstwerk aus alten Zeiten. Ich nehme an, dass dieser Übergang früher eine  grössere Rolle gespielt hat als heutzutage, aber um dem Kunstwerk die nötige Bedeutung zu geben, gehe ich ganz langsam und andächtig darüber.

Der Rest ist schnell erzählt, via Schüpbach und einen unnötigen Umweg über Wiesen und an Bauernhöfen vorbei, erlebe ich wieder mal den Einmarsch der Gladiatoren. Das Dorf scheint verlassen, oder ist es nur die Sommerhitze des Nachmittags?

Das Hotel ist schnell gefunden, hat allerdings geschlossen, also muss ich dem Herrn des Hauses wieder mal telefonieren (das kennen wir in der Zwischenzeit). Das Haus ist gross und scheint unter einem erheblichen Mangel an Gästen zu leiden.

Der Hausherr, ein junger Herr in den besten Jahren, entpuppt sich schon beim Willkommensgespräch als fanatischer Anhänger der Kryptowährungen, und ist überzeugt, dass sich damit alle Probleme der Welt lösen lassen.

Ich bin zwar skeptisch, kann aber soviel Euphorie nicht viel entgegensetzen. Ausserdem bin ich viel zu müde dazu …

 

Song für einmal nicht zum Thema passend (aber ich bin in Rimini-Stimmung): Fabrizio De André – Andrea

Und hier geht der Pfad weiter … nach Münsingen, wo ich meine Wanderkumpels treffen werde

 

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