Alles wiederholt sich, je älter man wird.
Irgendeine gescheite Seele hat diese Weisheit in die Welt gesetzt, nachvollziehbar, aber auch ziemlich trivial. Sie ähnelt dem berühmten Ausspruch von Bette Davis (oder je nachdem Mae West): Altwerden ist nichts für Feiglinge.
Natürlich könnte man nun behaupten, dass auch Wandern eine Wiederholung des ewig Gleichen ist.
Die Berge ähneln sich, mal hoch, mal niedrig, mal schneebedeckt, mal grün bewachsen. Die Wege sind entweder schmal oder breit oder steil oder flach, voller Steine oder Kies oder asphaltiert. Die Wiesen grün oder braun, von der Sonne verdorrt oder mit hüfthohem Gras bedeckt, mit Kühen oder Schafen oder Ziegen oder Esel. Man geht entspannt oder keucht und flucht und sehnt sich nach einer Pause.
Aber – auch wenn die Steine auf dem Weg, der Dreck unter den Schuhen, die Hügel am Horizont, ja sogar der blaue oder graue oder schwarze Himmel die gleichen sind wie tausend vorher, ist jeder Tag, jede Stunde, jede Minute auf dem Weg eine neue Erfahrung.
Und so ist es auch heute, so hoffen wir.
Im Führer finden sich ein paar schöne Worte zur heutigen Etappe:
Vom lieblichen Schwarzsee zum Breccaschlund und in die spitze Kalklandschaft der Greyerzer Alpen, über den flachen, von Gletschern ausgehobelten Euschelspass nach Jaun ins einzige deutschsprachige Dorf des Bezirks Gruyères.
Länge: 12 km, Aufstieg | Abstieg: 720 m | 760 m, Wanderzeit: 4 h 10 min
Nach der Flut
Das Unwetter hat sich verzogen, der Schwarzsee ist zwar immer noch düster und bedrohlich, aber nicht mehr so schwarz wie gestern Abend, der Himmel ist blau, wie er sein sollte, die paar Wolken sind schlimmstenfalls ein wenig Dekoration.
Der Weg führt eine Weile dem See entlang, man hört das Kreischen und Quaken von Vögeln, die sich den Futterplatz streitig machen, aber sonst hat sich das eh schon stille Dorf mit einer zusätzlichen Schweigestunde bestraft.
Die Berge vor uns sind mit einer weissen Nebelkappe verhüllt, wir hoffen, dass sie keine Vorboten zukünftiger Wetterkapriolen sind. Aber natürlich wissen wir als gebrannte Kinder, dass sich die nicht gerade positive Prognose für heute Nachmittag mit Sicherheit einstellen wird.
Und wieder zerfetzte Pflanzen auf dem Weg
Wir haben etwas Höhe erreicht, der See bleibt unter uns zurück. Unter den Augen von neugierigen Kühen führt der Weg nun stetig aufwärts, mehrheitlich durch dichten Wald. Die Karte zeigt, dass es weiter oben gilt, eine komische Kurve zu nehmen, die wieder in Richtung des Sees geht, bevor der Weg dann endgültig nach Süden, Jaun, abzweigt.
Und wieder bedecken die kläglichen Überreste des abendlichen Gewitters den Pfad, nicht ganz so schlimm wie am Tag zuvor, aber trotzdem beeindruckend.
Es ist genau die Art Weg, die Spass macht: er führt entlang von Bächen, die immer noch etwas aufgewühlt durch die gestrigen Niederschläge vorbei rauschen. Dann wieder durch dichten Wald, flankiert von weisen alten und knorrigen Fichten und Birken und Buchen und Ahorn.
Unser alter Gefährte, der 3-er Wegweiser, vertrauenerweckend und zuverlässig, zeigt die Richtung an.
Wer hätte das gedacht – eine Alpwirtschaft
Wie bereits angesprochen, die Vorzüge katholischen Brauchtums bzw. Kultur werden nach einer knappen Stunde in Form einer Alpwirtschaft sichtbar.
Den Verlockungen der Hubel Rippa, so heisst das Anwesen, können wir nicht widerstehen, und so genehmigen wir uns zwar kein Glas Weisswein wie ein paar andere, offenbar einheimische Gäste, aber zumindest einen Kaffee, während andere Wanderer, der Sprache nach aus dem Norden, uns begrüssen und ihre eigenen Wanderabenteuer zum Besten geben.
Und selbstverständlich, auch wenn die Hütte weit oben und ziemlich abgelegen liegt, führt eine Strasse direkt vor das Etablissement. Zu Fuss gehen? Warum auch, wenn man genauso gut auch fahren kann.
Über den Euschelpass
Die Wanderung führt in den von Gletschern geformten Breccaschlund. Die Kalkfelshänge sind von Dolinen durchzogen.
Das Tal, das von der Pointe de Balachaux im Westen, dem Schopfenspitz im Süden und dem Chörblispitz im Osten eingerahmt ist, bietet einen eindrucksvollen Blick auf Schwarzsee. Die Landschaft ist von alten Trockensteinmauern geprägt. Hier wachsen Bergahorne und mit etwas Glück kann man ein Adlerpärchen, Gämsen oder Murmeltiere beobachten.
Wir verlassen nun das Tal der Sense und erreichen das Greyerzerland. Wir nähern uns langsam dem Euschelpass, permanent verfolgt von neugierigen Kuhaugen. Der Himmel hat – wen wundert’s – wieder mal ein schwarzes Gewand überzogen, die Wetterpropheten dürften also recht behalten. Offenbar ein Wetterschicksal, das uns nun täglich verfolgt. Blauer Himmel am Morgen, Gewitter gegen Abend.
Doch dann, der Tiefpunkt des Tages, das laute Surren eines Helikopters durchbricht die Stille. An einem Seil hängt eine Kuh, merkwürdigerweise an einem Bein festgebunden. Man erkennt sofort, dass das Tier tot ist, denn niemals würde man ein lebendes Tier auf diese würdelose Weise transportieren.
Der Kadaver wird unweit des Wegs abgesetzt und auf einen Lastwagen verladen. Kurze Zeit später bringt der Heli eine zweite Kuh. Offenbar sind sie beide über eine Felswand abgestürzt, möglicherweise erschreckt durch das Gewitter.
Weiter oben begegnen wir weiteren Kühen auf der Weide und wünschen ihnen ein besseres Schicksal. Diesen sanften Augen kann man nur das Beste wünschen.
Abwärts
Natürlich bleibt die Hubel Rippa nicht die einzige Alpwirtschaft. Alle heissen irgendwie was mit Rippa, keine Ahnung, was das bedeutet. Der Verlockung können wir zwar meistens widerstehen, doch kurz nach der Passhöhe werden wir schwach.
Die Alpwirtschaften werden nun zu eigentlichen Restaurants mit allem, was dazu gehört. Die ausschliesslich französisch parlierende Bedienung deutet darauf hin, dass wir in absehbarer Zeit unser beste Französisch hervorklauben müssen (das Beste? Wahrscheinlich eher das noch vorhandene).
Aber dann, frisch gestärkt mit Kaffee und Kuchen, geht der Weg im Zickzack abwärts, unserem Tagesziel, Jaun, entgegen.
Manchmal hat man den Eindruck, durch eine Gartenlandschaft zu gehen. Beidseits des Weges stehen die Wiesen in voller Blüte, gelbe, violette, rote Blumen erheben sich aus dem kniehohen Gras, man bleibt stehen, schauend, bewundernd, sie scheinen sich extra für uns schön gemacht zu haben. Fehlt nur noch die Sonne als Perfektion des Bildes, aber diese hat sich einmal mehr schmollend hinter Wolken verzogen.
Jaun – das letzte deutschsprachige Dorf
Man muss in der Geschichte weit zurückblättern, um zu verstehen, dass dieses Dorf quasi die letzte Bastion der deutschen Sprache ist. Dass Jaun nicht französischsprachig ist, wie man vermuten könnte, hängt mit der Geschichte der Besiedlung zusammen.
Offenbar wurde das Gebiet um Jaun über den Jaunpass vom Simmental her besiedelt und nicht von Bulle her. Man spricht in diesem Zusammenhang von der mittelalterlichen Landnahme, als die Siedlungspioniere weit häufiger über offene Alpenpässe als durch Schluchten und enge Täler vorstiessen.
Das Dorf Jaun besitzt zwei Kirchen. Die ältere Kirche stammt ursprünglich aus dem 11. und 12. Jahrhundert, wurde später mehrfach um- und ausgebaut, das heutige Schiff stammt von 1808 bis 1811. Seit 1910 wird diese Kirche nicht mehr als Gotteshaus genutzt, sondern dient als „Cantorama“ (Haus des Gesangs) mit einem Konzertsaal. Die 1786 von Johann Dreher erbaute Orgel ist 2011 restauriert und wieder eingeweiht worden. (Wiki)
Ein sehr besonderer Friedhof
Jaun ist nicht nur für seine spezielle Rolle als letztes deutschsprachiges Dorf und seinen sprudelnden Wasserfall bekannt, sondern vor allem für den Friedhof mit Holzgrabkreuzen und Schnitzereien.
Wenn man vom Jauner Friedhof spricht, meint man damit einen eigentlichen Schatz. Sämtliche Grabdenkmäler sind handgeschnitzte Kreuze mit Basreliefs, die den Beruf oder das Hobby der Verstorbenen zeigen. Damit ist der Friedhof zu einem einzigartigen Kulturgut geworden, der auch Touristen anzieht.
Es waren schmerzliche Umstände, die zur Entdeckung des künstlerischen Talents von Walter Cottier, der die Tradition der holzgeschnitzten Grabdenkmäler begründete, führten. Es war der Tod seines Grossvaters im Jahr 1948. Auf Grund extremer Armut war die Familie damals nicht in der Lage, ein Kreuz beziehungsweise ein Grabdenkmal für den Grossvater zu bezahlen.
Der damals 27-jährige Walter Cottier schuf aus diesem Grund mit seinem Messer eine Holzskulptur: Ein Kreuz mit Christusfigur auf der Vorderseite, ein Basrelief auf der Rückseite. Eine Seite des Reliefs erinnerte an das Leben oder die Aktivitäten der verstorbenen Person, die andere zeigte ein symbolisches Element für eine Sache, die der Verstorbene besonders gern hatte. Das Grabdenkmal wird durch ein kleines Schindeldach geschützt.
So sieht man auf den Reliefs etwa einen musikliebenden Schuhmacher unter einem musizierenden Engel. Eine Lokomotive, Baustellenfahrzeuge, eine Dame mit Brille, die ihre Katze streichelt, ein Käser bei der Arbeit, ein Wanderer mit Steigfellen, oder eine Nähmaschine sowie die unterschiedlichsten Tiere und Pflanzen.
Wie oft in diesen kleinen Gemeinden tragen die Gräber die Namen der wenigen dominierenden Familien im Dorf. Es gibt die Schuweys, die Moosers, die Buchs, die Raubers …
Wir sind im Hotel La Cascade einquartiert, natürlich vis-à-vis Wasserfall, beziehen sehr befriedigt ein grosses 6-Bett Zimmer und dinieren im Hotelrestaurant. Und eine wirkliche Überraschung – die beiden Gäste am Nebentisch, ein Paar aus Wolhusen, befindet sich doch tatsächlich auf dem Alpenpanoramaweg. Zwar nur wenige Etappen bis Vevey, aber immerhin.
Song zum Thema: Traffic – Graveyard People
Und hier geht der Trip weiter … nach Broc