Man ist gut beraten, bei der Planung kürzere Etappen vorzusehen. Der Körper braucht Intervalle, in denen er nicht ans Limit gehen muss (was ich eh nicht mache), wo er sich erholen kann, den Akku aufladen darf. Wer diese einfache Wahrheit vergisst, wird es bereuen.
Heute ist eine dieser Etappen. Auf- und Abstieg sind harmlos, die Distanz genau richtig.
Das findet auch der Travelguide:
Gemächlich geht es über die sanften Hügelzüge des Freiburger Mittellandes. Schattige Abschnitte im Wald und offene asphaltierte Abschnitte in Dörfern lösen sich ab. Ein Naturerlebnis ist der Zusammenfluss von Saane und Sense.
Länge 15 km; Aufstieg | Abstieg 280 m | 240 m; Wanderzeit 3 h 45 min
Allerdings wage ich die angegebene Dauer in meinem Fall zu bezweifeln. Ich rechne mit 6 oder mehr Stunden. Mal sehen …
Multi-Options-Welt
Wie auch immer, das Hotel Bahnhof bleibt zurück in Murten, ein letzter Blick auf das Städtchen, ich werde irgendwann zurückkommen, mit mehr Zeit und Musse. Aber werde ich das?
Es passt doch alles – wir leben in einer Multioptionszeit. Es sind immer und überall und natürlich gleichzeitig eine unendliche Anzahl von Optionen da. Ich könnte anstelle Murtens auch wieder mal ins Engadin oder nach Basel oder wohin auch immer reisen. Ich könnte auch etwas komplett Anderes unternehmen. Reisen. Musik hören (aber was?). Lesen (aber was?).
Vieles bleibt ein frommer Wunsch.
Wir sind Kinder im Spielzimmer, die vor lauter Spielsachen nicht mehr imstande sind, eine Wahl zu treffen. Die Eisenbahn oder doch lieber das angefangene Puzzle? Mit Barbie und Ken spielen oder das neue Hallowin-Kostüm anprobieren?
Wie aiuch immer, der Turm winkt mir zu (vielleicht hat er meine Zweifel erkannt), ich winke zurück. Dahinter der Jura, der Mont Vully, auch sie grüsse ich ein letztes Mal, es war schön bei euch.
Aber dann führt der Weg hügelaufwärts, entlang saftiger Wiesen. Mit wenig Mühe und leichtem Kopf schreite ich voran, vorbei an hässlichen Industriegebäuden, dann wieder am Rand eines dunkelgrünen Abhangs.
Gelegentlich braust eine Gruppe e-Bike bewehrter Herren vorbei. Ihr Tenü sitzt tadellos, farbig und modisch, gar nicht dem eher fortgeschrittenen Alter entsprechend. Sie nicken mir zu, fast mitleidig wie mir scheint, soviel Überheblichkeit in einem einzigen Blick.
Etwas weiter vorne gewahren sie endlich doch noch die Schönheit der Landschaft, man springt wendig vom Rad, ein schnelles Bild oder zwei, dann muss es schnell weitergehen. Irgendein unbekanntes Ziel muss auf sie warten, vielleicht aber – und das wäre schön für sie – ist auch bei ihnen der Weg das Ziel.
So wie bei mir.
Nomaden-Gen
Manchmal, am Morgen vor dem Abmarsch, wenn ich voller Vorfreude auf die kommenden Stunden und Kilometer schaue, frage ich mich, was den Reiz ausmacht, den ich auch heute wieder verspüre. Dieses Verlangen, immer weiter zu gehen, Stunde um Stunde, Kilometer um Kilometer. während die Welt gelassen vorbeizieht. So stelle ich mir unsere Vorfahren vor, auf dem Weg nach irgendwo/nirgendwo, den Tieren hinterher, kein Heim, kein fester Ort, nur den endlose Weg vor sich, sonst nichts.
Vielleicht ist es etwas Uraltes, ein nomadisches Überbleibsel dieser Urahnen, das die Jahrtausende überlebt hat und nun bei mir etwas aktiviert hat, was still vor sich hingeschlummert hat.
Früher zogen Völker den Wildtieren hinterher, um sie jagen zu können oder wanderten von einem Ort zum nächsten, wenn das Essen knapp wurde. Der Nomadismus ist eine traditionelle Lebens- und Wirtschaftsform, in der Menschengruppen als Wandervölker zusammenleben. Sie sind nicht sesshaft und verweilen mindestens wenige Tage, aber höchstens 20 Jahre an einem Ort. (aus Study Smarter)
Gibt es sowas wie ein Nomaden-Gen?
Ich wäre dankbar dafür.
Ein Traktor wühlt die eh schon malträtierte Erde auf, der Staub wirbelt, der Motor dröhnt, der Fahrer zieht stoisch seine Geraden, ich bleibe stehen. Was wird hier dem Boden beigegeben? Man ist im Verlauf der letzten Jahre misstrauisch geworden. Sind es Pestizide oder andere giftige Zugaben?
Man fragt sich und will es eigentlich gar nicht wissen.
Die Natur kennt kein Erbarmen. Leben und Tod sind nahe beisammen. Der ewige Kreislauf. Werden und vergehen. So wie bei den Bäumen. Die einen überleben, andere, vielleicht die Nachbarn, sterben.
Man weiss es und ist trotzdem seltsam traurig, wenn man die verdorrten Überreste eines einstmalig stolzen Baumes sieht. Sie scheinen sich zuzuwinken, der tote Baum neigt sich dem noch lebenden zu, als wollte er er an sein zukünftiges Schicksal erinnern.
Unter dem Apfelbaum
Der Tag ist heiss und wolkenlos. Ich erreiche Liebisdorf, freue mich auf einen Kaffee im lokalen Restaurant, doch es ist geschlossen.
Die Architektur der Häuser und Ställe entspricht nun mehr und mehr dem bekannten Berner Stil. Sie strahlen etwas aus, etwas Gemütliches, Warmes, sowas wie ein Hauch Geborgenheit in dieser kalten Welt.
Beim Emmentaler-Haus überdeckt ein breites, aufgefächertes Dach den Wohnbereich, die Tenne und den Stall. Das weitausladene Vordach (Ründe) schützt zwar die Fassade, lässt aber im Obergeschoss kaum Licht zu den Zimmern. Der oft zentrale Eingang führt an zwei Stuben vorbei zur Küche. Diese Längsteilung ermöglicht es, von zwei Familien bewohnt zu werden. Der Haustyp im Emmental ist ein Ständerbau, der vorwiegend aus Holz gebaut wird. Das Haus ist ein Vielzweckbau. [aus „Regionaltypische Gebäude in der Schweiz“]
Das Dorf scheint ausgestorben zu sein, niemand weit und breit, ein Geisterdorf.
Wo sind die Einwohner? Handelt es sich um ein typisches Schlafdorf, wo man eben nur schläft und den Rest des Tages auswärts verbringt? Es macht den Anschein. Diese Dörfer gehören definitiv nicht zu meinen Lieblingen. Alles, was ein Dorf lebenswert macht, fehlt hier, und seien es nur Kinderstimmen, Teenager auf getunten Mofas, Läden oder Restaurants und Spaziergänger auf der Strasse. Schwatzende Frauen an der Haustür.
So stelle ich mir eine leblose Geisterstadt vor, wie Consonno in der Lombardei.
Kein Mäuerchen, keine Sitzbank am Strassenrand, kein Brunnen zu sehen, ich bin aber trotzdem hungrig und möchte irgendwo im Schatten mein wohlverdientes Mittagessen einnehmen. Ein Apfelbaum, noch voll von reifen Früchten, erregt meine Aufmerksamkeit. Ich räume ein Stück Boden frei von verfaulenden Früchten und setze mich ins Gras.
Immerhin bin ich nicht ganz allein unter meinem Apfelbaum, in der Nähe haben sich ein paar Kühe in den Schatten gelegt, während sie gelassen und entspannt zum x-ten Mal ihr Gras wiederkauen. Ich fühle mich ihnen nahe, schon beinahe verwandt, und sei es nur durch das gemeinsame Ziel, in aller Ruhe im Schatten zu sitzen oder zu liegen und etwas zu essen.
Das Naturschutzgebiet Auried
Manchmal erlebt man Überraschungen. Eine davon ist das berühmte Naturschutzgebiet Auried.
Auf dem Weg nach Laupen, das schnell näher kommt, stehe ich unvermittelt an einer Hecke, die ein besonderes Bijou verdeckt. Es muss sich um ein Schutzgebiet handeln, doch erst die Recherche im Internet gibt Auskunft.
Immer wenn ich sowas sehe, bin ich seltsam gerührt. Allein die Tatsache, dass die Kommunen oder der Kanton oder der Staat Geld ausgibt, viel Geld, um ein Stück Natur zu erhalten, produziert Glücksgefühle und für einen Augenblick die Überzeugung, dass vielleicht doch noch nicht alles verloren ist. Solange sich jemand verantwortlich dafür fühlt, Fröschen und anderem Getier eine Heimat zu verschaffen, kann es Hoffnung geben.
Mit Einbruch der Dämmerung versammeln sich an den Weihern des Aurieds ganze Horden kleiner, grüner Quaker. Es sind Laubfrosch-Männchen, die im Frühling – bis gegen Mitternacht – mit geblähter Schallblase lauthals nach paarungswilligen Weibchen rufen.
Eine der grössten Laubfrosch-Populationen der Schweiz hat im Auried sein Zuhause. Die heute sehr selten gewordene Froschart schätzt die gut besonnten Gewässer im ehemaligen Kiesabbaugebiet als Laichplätze. Die Feuchtwiesen mit Einzelbäumen dienen ihnen als Sommerlebensraum. Aber auch andere Amphibien, Watvögel, Libellen und weitere Wirbellose fühlen sich in der strukturreichen Landschaft rundum wohl. Damit dies in Zukunft so bleibt, lässt Pro Natura gegen die Verbuschung Schottische Hochlandrinder weiden. Zudem werden die Flächen mit zusätzlichen Pflegemassnahmen offen gehalten.
Unweit des Aurieds, bereits in der Nähe von Laupen, vereinigen sich Saane und Sense, die arme Sense hört auf zu existieren. Beim Zusammenfluss spielen Kinder, geniessen das heisse Spätsommerwetter.
Der Gasthof Bären in Laupen scheint aus einer anderen Epoche zu stammen, einer längst vergangenen, und wenn es einen Beweis dazu braucht, genügt ein Blick auf mein Zimmer. Es könnte durchaus im letzten oder vorletzten Jahrhundert gewesen sein, draussen fahren Pferdekutschen vorbei, die Männer tragen steife Hüte, die Frauen lange Röcke. Es ist winzig, besitzt weder Toilette noch Dusche noch Lavabo. Egal.
Aber was soll’s – es gefällt mir trotzdem.
Am Stammtisch
Vor dem Nachtessen genehmige ich mir das übliche hochverdiente Bier. Die Dame des Hauses setzt mich an einen runden Tisch im Gartenrestaurant, doch kaum habe ich den ersten Schluck genommen, steht eine Dame in den besten Jahren vor dem Tisch und fragt, ob sie sich setzen darf.
Es ergibt sich in kurzer Zeit eine herzliche Unterhaltung, die lediglich unterbrochen wird durch weitere ältere Herrschaften, die sich ebenfalls zu uns setzen. Upps, bin ich hier an einem Stammtisch gelandet? Meine diskrete Frage danach wird positiv beantwortet. Es handelt sich tatsächlich um den Stammtisch dieser Leute, die sich jeden Donnerstag hier treffen. Meine schüchterne Frage, ob ich den Platz räumen soll, wird lachend abgelehnt. Vielleicht bringt der komische fremde Kerl etwas Abwechslung in die Runde.
Und so wird der Abend erstens lustig und zweitens mit mehr Alkohol unterstützt, als mir lieb ist. Morgen steht eine lange Etappe bevor, ein Kater ist das letzte, was mir fehlt.
Aber wie gesagt, Abwechslung tut not, ich werde bereitwillig in den trauten Kreis aufgenommen und nach knapp einer Stunde mit dem ersten Kupplungsversuch konfrontiert. Ausserdem überlegt man sich, ob man die letzte Etappe im Tessin nicht gemeinsam absolvieren könnte.
Na denn, was kann mir da noch passieren?
Auf jeden Fall ist es stockdunkel, als ich endlich zu meinem Dinner komme, und es fällt, der Dunkelheit oder meiner Betrunkenheit geschuldet, ziemlich schwer, das Essen zu erkennen. Aber es mundet auf jeden Fall, was immer es gewesen sein könnte …
Passender Song: Inspiral Carpets – Two Worlds collide
Und hier geht der Trail weiter … nach Bern, in die Bunderhauptstadt