Ein Abenteuerroman

Für alle Leser, die spannende Geschichten lieben. In denen es um Mord und Totschlag, um Verrat und Liebe und die Kraft der Freundschaft geht. Um die Geschichte eines Aussenseiters in einer Welt, die ihm nur Ablehnung und Verachtung entgegenbringt.

Der Lachende Mann

The Laughing Man

[Der Roman ist als Taschenbuch oder als eBook bei Amazon.]

Klappentext

Jaco ist jung, attraktiv und ziemlich schlau, doch seine Herkunft und sein fremdartiges Aussehen machen ihn in der kleinen Stadt zu einem Außenseiter. Er stößt auf Verachtung und Ablehnung und ist ein beliebtes Opfer der einheimischen Jugend. Mit dem Eintreffen eines kleinen Wanderzirkus fangen seine Probleme allerdings erst richtig an, denn die Begegnung mit den Zirkusleuten löst eine Reihe von unerklärlichen Ereignissen aus.

Während sich das Rad der Geschehnisse immer schneller dreht, realisiert Jaco, dass er eine mysteriöse Verbindung zu diesem Zirkus hat. Ein altes Tagebuch seiner verstorbenen Mutter wirft Fragen auf. Wurde sein Vater umgebracht? Könnte es eine Verbindung zu den Zirkusleuten geben, zum streitbaren Zwerg Shi-Sha oder zu Caligari, dem geheimnisvollen Zauberer?

Während Jaco immer tiefer in die rätselhafte Vergangenheit seiner Eltern hineingezogen wird, geschieht ein Mord …

Leseprobe

Kapitel 1  – Affengesicht

Es kostete ihn zwar einige Überwindung, doch Jaco rang sich ein herausforderndes Lächeln ab. Der Junge, der mit verschränkten Armen vor ihm stand, warf ihm einen verächtlichen Blick zu. „Das Lachen wird dir gleich vergehen, Affengesicht“, sagte er. Seine beiden Begleiter, kaum verhohlene Streitlust in den Augen, grölten. Der größere mit einem flammendroten Schopf überragte Jaco um mehr als einen halben Kopf.

„Selber Affengesicht!“ Jacos Stimme war rau und zitterte ein wenig, aber das fiel niemandem auf. Sein Herz pochte unter seinen Rippen, das Atmen fiel ihm immer schwerer. Alles in allem, dachte er, schienen ihm die Chancen, heil aus dieser Situation herauszukommen, höchst zweifelhaft.

„Gib’s ihm, Olin!“, rief der Rotschopf. „Dieses Mal wird er uns nicht entwischen.“

„Nur Geduld! Genießen wir es“, höhnte Olin. Der Rotschopf grunzte zustimmend, während der dritte Junge Jaco verächtlich vor die Füße spuckte. Seine kräftige Gestalt ließ erahnen, dass auch er ein nicht zu unterschätzender Gegner war.

„Du riskierst eine große Klappe. Mein Vater sagt, Leute wie du gehören nicht hierher. Man sollte sie zum Teufel jagen.“

Mit Mühe unterdrückte Jaco ein wütendes Schnauben. Olin natürlich, wie immer. Er war weder größer noch kräftiger, und in einem fairen Zweikampf würde er ihn mühelos besiegen, aber als Sohn des Bürgermeisters konnte er auf eine erstaunliche Anzahl williger Helfer zurückgreifen, die nur darauf warteten, ihre Ergebenheit unter Beweis zu stellen. In seinem engelsgleichen Gesicht lagen große blaue Augen, umrahmt von blonden Wimpern. Wäre da nicht dieser kalte, unbarmherzige Blick gewesen, den Jaco zu fürchten gelernt hatte.

Während er angestrengt nachdachte, verstärkte sich das flaue Gefühl in seinem Magen. Er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Beim letzten Gefecht hatte er eine kleine Unaufmerksamkeit ausnutzen können, doch diesmal sah er weit und breit keine Lücke in ihrer Front. Sie hatten sich den richtigen Ort ausgesucht, einen Hinterhof, der zu einem verschlossenen Tor führte. Wenn er Glück hatte, würde er mit ein paar Kratzern davonkommen, aber er konnte an den Gesichtern seiner Gegner ablesen, dass er nicht mit Gnade rechnen durfte.

Olin sah ihn an, als wüsste er genau, was in Jaco vorging. „Jetzt bist du dran! Du bist allein, und so wie ich das sehe, hast du keine Chance.“ Er musterte Jaco mit sichtlichem Widerwillen, während er so tat, als würde er ein Gähnen unterdrücken. „Eigentlich ist es schade um die Zeit, aber wenn wir schon mal hier sind … Willst du dich wehren? Oder wegrennen wie letztes Mal?“

„So viele sind nötig, um gegen mich zu kämpfen?“, fragte Jaco kühl. Sein Blick wanderte immer wieder nach links und rechts, in der Hoffnung, einen Ausweg zu finden.

„Nein“, antwortete Olin, „aber es macht mehr Spaß.“

Wieder das Gebrüll.

„Wir warten.“

„Feiglinge“, sagte Jaco ruhiger, als er sich fühlte. „Du fühlst dich wohl ziemlich stark mit deinen Leibwächtern, was?“

„Klappe!“, blaffte der Rotschopf.

„Rattenarsch!“, knurrte der dritte. „Du wirst quieken wie eine Sau!“ Die Anstrengung, den Angriff abzuwarten, forderte offensichtlich seine ganze Selbstbeherrschung.

Nicht antworten. Ruhig bleiben.

Immerhin schien es Jaco, als hätte er sich in den bisherigen Auseinandersetzungen ganz gut geschlagen, und er hätte ihnen gern noch einmal gezeigt, dass er kein Feigling war.

Schlag zu, komm schon … schlag zu …

Sie machten einen Schritt, aber Jaco wich nicht zurück. „Ach, du willst kämpfen. Das ist noch besser. Nicht wahr, Jungs?“, rief Olin. Die Antwort war ein Lachen, ein zweistimmiges, schrilles, überdrehtes Lachen. Er stieß Jaco mit dem Zeigefinger in die Rippen, giftig, schmerzhaft.

Das wird nicht gut ausgehen.

„Scheiße!“, brüllte der Rotschopf, „machen wir ihn fertig!“

„Schwachkopf!“, knurrte Jaco. Wut stieg in ihm auf. Er schob Olins Hand beiseite und machte sich mit geballten Fäusten zum ersten Schlag bereit. Seine Gedanken rasten … er konnte versuchen, ihre Phalanx zu durchbrechen, aber der Ring um ihn war geschlossen … oder als Erster angreifen und versuchen, ihre Überraschung für eine schnelle Flucht zu nutzen … oder … In diesem Moment kam ihm eine Idee, vielleicht nicht die beste, und sie barg ein großes Risiko in sich, aber es war die einzige. Ein Funke Hoffnung flammte auf. Er senkte die Fäuste.

„Du gibst auf? Das soll mir doch recht sein …“ Olin lächelte. „Zeit für ein letztes Gebet.“

Jaco sah das triumphierende Glitzern in seinen Augen, und während Olin noch überlegte, wohin er ihn zuerst schlagen sollte, beugte sich Jaco nach hinten, bis sein Hinterkopf die Wand berührte, schoss mit dem Gewicht seines ganzen Körpers nach vorne und rammte seinem Gegner die Stirn ins Gesicht.

Es knackte kurz und trocken, als Olins Nase brach. Er fiel mit einem Schrei auf die Knie. Es war totenstill geworden. Die anderen Jungen standen reglos da und starrten mit offenem Mund auf ihren Anführer, der am Boden kauerte, die Hände wimmernd auf sein Gesicht gedrückt. Ein dünnes rotes Rinnsal tropfte zwischen seinen Fingern hindurch in den Dreck.

Das war die Chance. Mit einem Sprung schnellte Jaco über Olin hinweg und rannte mit Riesenschritten die Gasse hinunter.

Er wusste, dass er höchstens ein paar Minuten Vorsprung hatte. Sein Puls hämmerte in seinen Schläfen, als er sich in einem Hauseingang eine Verschnaufpause gönnte. Die Hoffnung, dass die Überraschung über den unerwarteten Ausgang des Kampfes seine Gegner für eine Weile zum Schweigen bringen würde, wurde enttäuscht. Kaum eine halbe Minute war vergangen, da hörte er das empörte Geschrei der Bande, und schon tauchte der Rotschopf am oberen Ende der Gasse auf, hinter ihm der nicht minder agile Dritte im Bunde.

Wenn sie ihn erwischten, würde es ihm schlecht ergehen. Eine gebrochene Nase war mehr als eine übliche Rauferei, es war eine Kriegserklärung. Er horchte auf, als er aus der Ferne den Klang von Trommeln und Orgeln hörte und die Stimme eines Mannes, der seine Waren anpries. Der Jahrmarkt! Erst jetzt bemerkte er die Menschen, die in Scharen auf den Marktplatz strömten.

Schnell bahnte er sich einen Weg durch die gemächlich flanierenden Menschen. Er erwartete, in dem Gewühl leicht ein Versteck zu finden, einen Marktstand oder einen Vorhang, hinter dem er sich verstecken konnte, doch außer einem Stapel Kisten sprang ihm nichts ins Auge. Mit einem Satz hüpfte er dahinter, die Schreie seiner Verfolger bedrohlich nah, und zog den Kopf ein. Für einen bangen Augenblick glaubte er, ihre Schatten auf dem Versteck zu spüren, aber es waren nur zwei Männer, die sich über einen dritten lustig machten und sich mit einem meckernden Lachen davonmachten.

Nach einigen Minuten, als er sich endlich sicher fühlte, wagte er zu atmen. Und jetzt spürte er auch den stechenden Schmerz an seiner Stirn und die Beule, die sich dort abzeichnete. Vielleicht war der Kopfstoß, den er Olin verpasst hatte, doch nicht die beste Idee gewesen. Aber die tröstliche Erinnerung an das Knacken von Olins gebrochener Nase wärmte sein Herz.

„Was machst du da?“, fragte eine helle Stimme.

Jaco blickte verdutzt auf. Ein junges Mädchen sah ihn vorwurfsvoll an. Auf ihrer Schulter saß ein bunt gefiederter Vogel, der sich unruhig umsah. „Bei uns gibt es nichts zu stehlen.“

„Was?“

„Hörst du schlecht? Ich sagte, hier gibt es nichts zu stehlen.“

Jaco schnappte nach Luft. „Zu stehlen? Was …“

Mit einer herrischen Handbewegung unterbrach sie ihn. „Du solltest dich schämen!“

Jaco spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. „Das ist die Höhe! Ich habe mich hier nur…“

„Sei still! Du machst alles nur noch schlimmer.“

Bevor er zu einer scharfen Erwiderung ansetzen konnte, ertönte ein Krächzen. Der Vogel starrte ihn mit seinen kleinen, listigen Augen an. Das Gefieder zuckte.

Gauner! Spitzbube! krächzte er, Vagabund! Dieb!

Das Mädchen trat einen Schritt zurück und verschränkte spöttisch die Arme vor der Brust. Erst jetzt bemerkte er, dass ihr Gesicht weiß gepudert war und die Lippen einem schwachen Himbeerrot nachgezogen waren.

„Nur weil ich mich hier versteckt habe, bin ich noch lange kein Gauner.“

„Bist du aber!“

„Bin ich nicht!“

„Warum musst du dich verstecken? Hast du was ausgefressen?“

Jaco beschloss, die freche Göre zu ignorieren, klopfte sich den Staub von der Hose und wandte sich zum Gehen.

„Nicht so schnell!“, befahl sie und griff nach seinem Arm.

„Jetzt reicht’s! Lass mich sofort los, sonst werde ich wirklich…“

Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter und zog ihn herum. Vor ihm stand ein ungewöhnlich aussehender, wettergegerbter Mann. Sein Körperbau verriet nicht nur geballte Kraft, er schien aus Granit zu sein. Trotz seiner durchschnittlichen Größe wirkte er riesig, mit kantigen Schultern und mächtigen Oberarmen.

„Gorgon!“, rief das Mädchen. „Du kommst gerade recht. Ich glaube, der Kerl wollte uns bestehlen.“

„Das stimmt nicht!“, rief Jaco, „ich wollte mich nur verstecken. Lass mich in Ruhe!“ Er starrte noch einen Moment in das narbenübersäte Gesicht des Mannes, dann duckte er sich und wollte mit einem Sprung das Weite suchen. Er hatte keine Chance. Ehe er sich versah, baumelte er in der Faust des Mannes, der ihn wie einen Mehlsack hochhielt.

„Geschieht dir recht“, lachte das Mädchen. „Jetzt hast du den Salat!“

Gauner! Landstreicher! Dieb!

„Lass mich los! Ich habe nichts getan“, keuchte Jaco und versuchte sich mit aller Kraft aus dem stählernen Griff zu befreien. Je mehr er sich bemühte, desto breiter wurde das Grinsen des Mannes.

„Falls du es noch nicht gemerkt hast, das ist unser Kraftmensch“, sagte das Mädchen stolz. „Er kann sogar ein Pferd hochheben.“

„Was ist denn hier los?“, fragte jemand, der sich unbemerkt genähert hatte. Jaco blieb stehen und blickte in die schwärzesten Augen, die er je gesehen hatte. Der Mann war groß, zumindest auf den ersten Blick, denn seine hagere Gestalt und seine Kleidung ließen ihn größer erscheinen, als er tatsächlich war. Er trug eine ausgebeulte schwarze Hose, die bis zu den Knöcheln seiner Stiefel reichte, einen dunkelblauen Kittel und auf dem Kopf einen hohen, spitz zulaufenden Hut.

„Ich habe ihn erwischt“, rief das Mädchen stolz. „Einen Dieb! Bestimmt einer von den Dorflümmeln.“

„Na, na“, sagte der Mann mit einem spöttischen Lächeln um den Mund. „Ein Dorflümmel also. Bist du das wirklich? Oder übertreibt die gute Serafina wieder einmal?“ Er sprach langsam und gedehnt, als müsse er jedes Wort sorgfältig abwägen. „Besonders gefährlich sieht der Junge nicht aus. Lass ihn runter!“

Gorgon, der Jaco immer noch wie eine räudige Katze in seinem ausgestreckten Arm hielt, öffnete die Faust und verschwand leise lachend um die Ecke. Jaco stolperte auf die Beine. „Wie heißt du, mein Junge?“ Die Stimme des Mannes war wohlklingend, wenn auch dunkel und voll unterdrückter Kraft. „Ich bin Caligari, der Zauberer, und dieses hübsche Mädchen hier ist Serafina. Und wie heißt du?“

„Jaco. Und ich bin nicht Ihr Junge!“

„Na, na, reg dich nicht auf! Was willst du denn hier?“

„Ist doch klar!“, rief das Mädchen. „Er will …“

Caligaris vorwurfsvoller Blick ließ sie verstummen. „Und?“

„Ich musste mich verstecken. Jemand war hinter mir her.“

„Jemand?“

„Ein paar Kerle. Sie wollten mich verprügeln.“

„Und wofür?“ Caligari grinste. Die Sache machte ihm sichtlich Spaß.

Jaco zögerte mit einer Antwort. „Man nennt mich Affengesicht. Oder Zigeuner. Und wenn sie mich sehen, fallen sie über mich her. Aber heute habe ich mich gewehrt“, fügte er stolz hinzu.

„Zigeuner? Das verstehe ich nicht.“

„Ist doch egal“, knurrte Jaco. Seine Wangen waren rot angelaufen.

Caligari strich sich nachdenklich über den Schnurrbart. „Ich verstehe. Darf ich dir einen Rat geben? Wenn du sie wirklich ein für alle Mal loswerden willst, dann musst du ihnen zeigen, dass du keine Angst hast und dass es jedem, der sich mit dir einlässt, schlecht ergeht. Wie du das machst, überlasse ich deiner Fantasie. Verstanden? Einmal zuschlagen, aber richtig.“ Er lächelte süffisant und klopfte ihm auf die Schulter. „Und jetzt erzähl uns mehr von dir. Wo wohnst du? Gehst du zur Schule?“

Während Jaco zögernd die Fragen des Zauberers beantwortete, kam das Mädchen auf ihn zu. Ein kaum wahrnehmbarer Vanilleduft lag in der Luft. Doch so schnell wollte sie offenbar nicht aufgeben. „Er wollte uns bestehlen und erzählt uns jetzt eine erfundene Geschichte, also was -“

„Du musst Serafina entschuldigen, sie übertreibt manchmal“, sagte der Zauberer und sah sie streng an. „Das kommt davon, wenn man die Tochter des Direktors ist. Aber eigentlich ist sie ein liebes Kind, das kannst du mir glauben … Du lebst also allein. Und wovon lebst du?“

„Ich arbeite in einem Gasthaus.“

„Dann brauchst du nicht zu stehlen!“, spitzte Serafina zu.

„Ich habe nicht gestohlen!“, schnaubte Jaco. „Wann kapierst du das endlich?“ Sie verschränkte die Arme. „Was habe ich gestohlen? Komm schon, zeig es mir!“

„Sachte!“, sagte Caligari, „Serafina, dein Gerechtigkeitssinn in allen Ehren, aber hier haben wir es offenbar mit einem Sonderfall zu tun.“

„Ein Sonderfall?“, rief das Mädchen empört.

„Ich denke schon. Nun, mein junger Freund, ich glaube dir. Und um dich für unser anfängliches Misstrauen zu entschädigen, laden wir dich zur nächsten Vorstellung ein. Aber ich bitte dich um einen Gefallen. Du stellst dich ganz nach vorne, direkt vor den Vorhang, und was auch immer passiert, lass es geschehen, verstanden?“

Wenige Sekunden nachdem die Uhr auf dem nahen Kirchturm zwei geschlagen hatte, brach ein Höllenlärm aus Trompeten und Trommeln über den Jahrmarkt herein. Im Nu drängten sich die Zuschauer in dichten Reihen in der Mitte des Marktplatzes. Bunte Wimpel flatterten im Wind, an einer rot bemalten Stange hing eine Fahne, auf der in großen Lettern Circus Magie geschrieben stand. Das erwartungsvolle Gemurmel verstummte, als die Vorhänge zur Seite glitten.

Auf der linken Seite stand ein halbnackter Mann, auf seinem Schädel trug er einen weißen Turban mit kleinen Vögeln. Ihm gegenüber stand ein Zwerg, der auf einer Kindertrompete falsche Töne blies und gleichzeitig eifrig auf eine verbeulte Trommel hämmerte. Er trug eine unförmige rote Nase, und seine Schuhe, die unter einer scheußlich karierten gelben Hose hervorlugten, wären selbst einem Riesen ein paar Nummern zu groß gewesen. Beim letzten Ton sprang ein kleiner, dicklicher Mann hervor. Mit einer eleganten Bewegung zog er den schief sitzenden Zylinder vom Kopf und enthüllte volles weißes Haar, das er glattgekämmt und mit einem sauberen Scheitel trug.

„Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebes Publikum, liebe Kinder“, begann er, „ich möchte Sie im Namen der Künstlerinnen und Künstler begrüßen und Sie zu unserem absolut einmaligen Programm einladen. Es ist mir eine große Freude, Ihnen unsere Attraktionen vorzustellen. Niemals zuvor in der Welt des Zirkus hat man eine solche Kombination von Geschicklichkeit, Anmut und Eleganz gesehen.“ Das Publikum lachte über den kleinen Mann, der seine Begeisterung so offen zeigte. „Aber keine langen Reden mehr“, sagte er, „fangen wir an!“

Der Zwerg legte das Instrument weg und sagte die erste Nummer an. Die Zuschauer zuckten zusammen. Die Stimme war nicht nur laut, sie klang tief und disharmonisch, wie das Timbre eines schlecht gestimmten Blasinstruments.

Da erwachte der halbnackte Mann zum Leben und griff nach einer Fackel. Sekunden später tropfte Harz auf den Boden, eine gelb-schwarze Rauchfahne stieg in den Himmel, verfolgt von unzähligen Augenpaaren. Im nächsten Augenblick schoss eine Flamme aus seinem Mund, begeisterter Applaus begleitete sie auf ihrem Weg in die Wolken.

In der folgenden Stunde wurde dem Publikum ein Leckerbissen nach dem anderen präsentiert. Die Zuschauer waren hingerissen und der Applaus am Ende der einzelnen Nummern schwoll zu einem Orkan an. Jaco ließ sich von der Begeisterung mitreißen, blieb aber wachsam und warf immer wieder einen Blick über die Schulter. Es war nicht auszuschließen, dass ihm seine Verfolger noch immer auf den Fersen waren.

Der Direktor kündigte die nächste Nummer an. „Meine Damen und Herren“, sagte er leise, „wir werden jetzt das besondere Vergnügen haben, die unnachahmlichen Fähigkeiten von Madame Olga zu genießen. Doch bevor wir beginnen, ein paar Worte über die außergewöhnliche Künstlerin, deren Anwesenheit Sie in wenigen Minuten verzaubern wird.”

Er unterbrach sich und blickte ernst zum Himmel. „Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte, ist leider wahr. Die kleine Olga litt in ihrer Kindheit unter Albträumen, die sie manchmal tagelang nicht schlafen ließen. Ihre Mutter pflegte an ihrem Bett zu wachen, wenn es besonders schlimm war, aber stellen Sie sich ihr Entsetzen vor, als das Kind eines Tages in schläfriger Trance plötzlich zu sprechen begann und sie vor einer gefährlichen Reise warnte … Madame wusste, was zu tun war. Sie sagte die Reise gegen den Willen ihres Mannes ab und war glücklich und traurig zugleich, als man ihr nach einigen Wochen von einem schrecklichen Unglück berichtete, das mehreren Reisenden den Tod gebracht hatte.” Wieder machte der Direktor eine bedeutungsschwangere Pause. „Bitte, meine Damen und Herren, begrüßen Sie sie mit einem herzlichen Applaus!“

Jaco runzelte überrascht die Stirn, als er abseits der anderen Zirkusleute eine Frau bemerkte, die mit gesenktem Kopf auf einem Stuhl saß, umgeben von einer Aura, die sie wie ein unsichtbarer Mantel aus etwas Dunklem, Zerbrechlichem umhüllte. Sie war um die vierzig, klein und zierlich, in schwarzen Samt gekleidet. Ihr Haar fiel ihr ins Gesicht, auf dem eine leichenhafte Blässe lag. Unter den gemurmelten „Oh!“ und „Ah!“ des Publikums trat sie langsam vor und machte es sich in einem mit bordeauxrotem Plüsch bezogenen Sessel bequem.

„Meine Damen und Herren, den nächsten Herrn brauche ich Ihnen nicht vorzustellen. Hier kommt Caligari!“

Grabesstille breitete sich aus. Eine Gestalt löste sich von der Seitenwand. Unwillkürlich hielt Jaco den Atem an. Bisher hatte er sich über die Vorstellung amüsiert, aber jetzt überkam ihn ein seltsames Gefühl des Unbehagens.

Die Worte des Zauberers durchschnitten melodisch und scharf zugleich die Grabesstille, die mit einem Mal wie eine dunkle Wolke über den Zuschauerreihen lag. „Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie und schlage Ihnen vor, uns in das Labyrinth der verschlungenen Wege zu begleiten, in die geheimnisvolle Welt des Okkulten, in die mystische Sphäre des Übersinnlichen!“

Mit einer leichten Verbeugung vor der Hellseherin hob er die Kerze auf Augenhöhe und begann in einer fremden Sprache zu murmeln, bis ihr Kopf auf ihre Brust sank.

„Gut, fangen wir an … Olga, bist du bereit, meine Fragen zu beantworten?“

Sie nickte langsam. „Olga, sag mir bitte den Vornamen des Herrn ganz links in der ersten Reihe.“

“Er heißt Albert.“

Ihre Antworten klangen teilnahmslos, sehr leise, fast ein Flüstern. Während der Zauberer weitere Fragen stellte und Olgas Antworten anfangs zögernden, dann immer heftigeren Applaus auslösten, stellte sich Jaco auf die Zehenspitzen, um einen Blick hinter die Vorhänge zu werfen. Eine Dame formulierte stockend eine Frage nach ihrem verstorbenen Gatten, doch er hörte nicht mehr hin, denn zwischen den Tüchern hindurch zeigte sich ein Mädchen. Ihre Augen huschten aufmerksam über das Publikum.

Entdecke mehr von Travelbridge

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen