Man sitzt gemeinsam an einem langen Tisch, man schwatzt mit Mutter und Tochter, die ebenfalls auf der Strada unterwegs sind, geniesst das üppige Frühstück, das alles enthält, was das Herz begehrt. So muss ein Wandertag beginnen, alles andere wäre eine Versündigung an diesem prachtvollen Tag, der sich auf den Berggipfeln ankündigt.
Das alte Haus, in dem sich das Gasthaus befindet, spricht mit uns. Manchmal mit einem Knarren in den alten Balken, manchmal ein leises Ächzen, wir kennen das. Alte Häuser mit viel Holz verbaut, da meldet sich schon mal die Vergangenheit.
Der Blick auf die aktuelle Karte zeigt, dass es heute einen ziemlichen Umweg zu bewältigen gibt. Forstarbeiten, die von August 2022 bis Mai 2023 dauern (!?), haben die Sperrung des Wanderwegs verursacht. Okay, wir nehmen es entspannt zur Kenntnis.
Der mittlere Teil der Strada alta gilt als der angenehmste und reizvollste: kaum Höhenunterschiede, grösstenteils auf Naturbelag, und die Gipfel der rechtsseitigen Leventina als ständige Begleiter. Für Besinnung und Kunstgenuss sorgen Kapellen und Kirchen.
Länge 12 km; Aufstieg | Abstieg 600 m | 740 m; Wanderzeit 4 h 00 min
Unsere eigenen Daten, nicht ganz überraschend durch den Umweg, unterscheiden sich: Länge 14.2 km; Aufstieg | Abstieg 1175 m | 1370 m; Wanderzeit 8 h 03 min
Langer Umweg
Mal sehen, ob Kapellen und Kirchen auf dem Pfad für Besinnung und Kunstgenuss sorgen. Ich bin da etwas skeptisch, aber lassen wir uns überraschen. Die Wege Gottes sind bekanntlich unergründlich (wie an anderer Stelle schon festgestellt wurde).
Zum Start (und zur Besinnung) wenden wir uns zuerst dem Friedhof zu, ein Einblick in die Geschichte eines Dorfes. Man erkennt die Namen, vielfach identisch, grosse Familien. Man liest die Jahreszahlen, die frommen Sprüche für die Verstorbenen, Grüsse ins Jenseits.
Das Dorf, obwohl sehr still und sehr verlassen, wird uns in Erinnerung bleiben, aber wir müssen weiter. Der Weg nach Anzonico ist nicht zu unterschätzen, vor allem der Umweg könnte schwierig sein.
Anyway, so stechen wir zwangsläufig und anfänglich ohne viel Euphorie ins Tal hinunter, im Wissen, dass es kurz darauf wieder aufwärts geht, zurück zur ursprünglichen Route. Der Abstieg ist steil, doch es kümmert uns nicht, denn der Tag ist von soviel guten Omen (Besinnung! Kunstgenuss!) erfüllt, dass uns nichts erschüttern kann.
Der Pfad würde eigentlich durch die wildromatische Sciresaschlucht führen, was uns allerdings entgeht, aber wir werden auch so durch allerhand ähnliche topographische Herausforderungen konfrontiert.
Immer wieder gilt es, Gräben und Schluchten zu durchqueren, Holzbrücken hängen über beinahe ausgetrockneten Bachbetten. Die Flora ändert sich nun, Tannen und Föhren mischen sich nun zunehmend mit Kastanien. Mit der Aussicht auf baldigen Maronigenuss im Herbst läuft schon beim Gedanken das Wasser im Mund zusammen.
Wir haben nun tatsächlich das Ende der mehrheitlich alpinen Bewaldung erreicht. Von nun an fühlen wir uns als mediterrane Wesen, das kalte nördliche Blut wird wärmer. Im Guide entnehme ich, dass die Bewohner von Osco bis Mitte des letzten Jahrhunderts ihr Mehl in der Mühle von Calpiogna holten. Immerhin ein Weg von mehreren Stunden hin und zurück.
Irgendwann erreichen wir, etwas keuchend zwar, wieder den ursprünglichen Pfad und wünschen den Forstarbeitern, die sich doch ziemlich viel Zeit nehmen für ihre Rodungen, bei ihrer nächsten Wanderung ähnlich anstrengende Umwege.
Kulturgenuss und Besinnung (ein bisschen)
Der Guide hat nicht übertrieben – diese Etappe ist wirklich etwas vom Reizvollsten des ganzen Trails.
Und auch der Kulturgenuss (oder je nach Optik die Besinnung) kommen nicht zu kurz: In Rosssura verpassen wir wie erwartet zwar die auf einem vorspringenden Hügel erbaute Kirche San Lorenzo (siehe unten), aber auch eine nachträgliche digitale statt analoge Sicht ist ganz okay. Und offenbar ist der Turm der stolzen Kirche von Canonico sogar von der Talsohle aus zu erkennen.
Wir sind nachträglich erstaunt, was wir vor lauter Wandern alles verpassen. Aber das ist ja nichts Neues.
Aber wer kann es uns verübeln: der Weg durch Wiesen und Gehölz ist nicht zu übertreffen.
Meine beiden Begleiter sind wie immer weit voraus, während ich wie immer der ewige Nachzügler bin. Das ergibt dafür Zeit, die Umgebung zu geniessen. Trockenes Laub knirscht unter den Füssen, ein zarter Wind streichelt die Bäume, die mir vorkommen wie uralte Begleiter. Die Bäume brechen das Licht, werfen Splitter von Schatten auf den Weg.
Wie auf dem Gotthardpass stellt sich automatisch die Frage ein, wer hier diesen Weg benutzt hat während der letzten Jahrhunderte.
Haben die Menschen in der Vergangenheit überhaupt Augen gehabt für die Schönheit der Umgebung? Haben auch sie das Rauschen der Bäume vernommen, das Singen der Vögel im Gebüsch? Wohl eher nicht. Ihre Gedanken waren bei ihrer harten Arbeit, beim stockenden Gang des übermüdeten Maultiers, beim Überleben ihrer Familie oder vielleicht beim wohlverdienten Bier oder Schnapps im nächsten Dorf. Falls es der hartherzige Boss zugelassen hat.
Eigentlich kann man es sich nicht vorstellen.
Berge und Schatten und Dörfer
Die Berge, der Campo Tencia, der Pizzo Campolungo oder der Pizzo Forno werfen ihre Schatten ins Tal. Doch der Himmel bleibt so blau wie er sein sollte, ein paar zierliche Wolken ziehen vorbei, grusslos und leise.
Doch immer wieder tritt der Weg aus dem Schatten der Wälder heraus. Schon von weitem grüssen Kirchtürme, Häuser, teilweise mit schweren Granitplatten auf den Dächern, heissen die Wanderer willkommen. Brunnen sprudeln, bekränzt mit Blumen, man fühlt sich am richtigen Ort und trinkt am Dorfplatz einen Kaffee.
Doch der Platz ist leer. Man könnte sich alte Frauen vorstellen, die es sich auf der Bank vor dem sonnenbeschienen Haus bequem gemacht haben, den neuesten Tratsch in ihrem wunderbaren, kaum verständlichen Dialekt austauschen, heiser kichernd in ihren Schals und Kopftüchern und Kittelschürzen, an den Füssen Holzschuhe oder Hauspantoffeln.
Vielleicht warten sie auf etwas, vielleicht auf die Post, aber wahrscheinlich nur, dass die Zeit vergeht.
So stellt man sich das vor. Aber so ist es nicht mehr.
Aber der Weg führt weiter, die Schatten werden länger, die Beine müder. Und noch einmal treten wir in die Stille des Waldes ein, manchmal stolpert man auf steilen Stufen hinunter, ein paar Meter später wieder hinauf.
Es wird nun automatisch stiller, man konzentriert sich auf den nächsten Schritt, die nächsten Stufen, den nächsten Abhang. In diesen letzten Abschnitten, kurz bevor das Ziel erreicht wird, ist man ganz bei sich (und den schmerzenden Füssen und Beinen). Über sieben Stunden sind hinter uns, doch immer noch führt der Weg durch den Wald.
Anzonico unter blauestem Himmel
Anzonico befindet sich am linken Hang des Valle Leventina auf fast 1000 m.ü.M. 1667 zerstörte eine Lawine Teile des Dorfes, darunter die Kirche. 88 Menschen kamen zu Tode. Der Wiederaufbau erfolgte an einem geschützteren Ort. Ab 1850 entvölkerte sich Anzonico zunehmend. Heute hat es nur noch ungefähr 100 Bewohner, diverse Rustici wurden zu Ferienhäusern umgebaut. Am Ende des Dorfes thront die Kirche über dem Tal. Fantastisch ist die Sicht auf die Bassa Leventina und die gegenüberliegenden Berge wie Madom Gröss (2741) oder Cima Bianca (2612).
Auch die längste und anstrengenste Etappe geht irgendwann zu Ende, so auch heute. Die letzten Meter auf der Teerstrasse bis ins Dorf sind mühsam, nicht mal dieser fleckenlose blaue Himmel kann uns noch aufmuntern. Alles, was unsere Bestimmung an diesem Abend ist, kann in Form von einer Dusche, ein paar kühlen Bieren und einem Festmahl im Restaurant erfüllt werden.
Und das wird ziemlich schnell in die Realität umgesetzt.
Passender Song: The Fleshtones – Way Down South
Und morgen geht die Strada Alta dem Ende zu … in Biasca