Angezeigt: 1 - 4 von 4 ERGEBNISSEN
Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Geradeaus dem Ticino entlang

Nun, nach der gestrigen anstrengenden Etappe dürfen wir uns auf eine lange, aber zumindest ebene Strecke entlang dem Ticino freuen.

Und unser kleines Grüppchen hat temporären Zuwachs erhalten. Silvia, meine Ex-Gemahlin, möchte herausfinden, wie es um ihre Fitness steht und begleitet uns bis Bellinzona.

In Biasca, wo die Etappe startet, vereinen sich das Bleniotal vom Lukmanier und die Leventina vom Gotthard her. Etwas oberhalb des Bahnhofs befinden sich die Wasserfälle der Heiligen Petronilla. Schäumend stürzen sie über die Felswände. Nach einigen Minuten durch Biasca erreicht man den Ticino.

Bei Biasca öffnet sich das Tal zu einer breiten, langgestreckten Ebene: der Riviera. Hier lässt sich prächtig an den Ufern des Ticino wandern, meistens durch Auenwald, oft auch auf einem Flussdamm. Am Ende wartet Bellinzona mit seinen drei Burgen.

Unsere Daten: Länge 25 km; Aufstieg | Abstieg 680 m | 710 m; Wanderzeit 7 h 30 min

 

From Biasca to Bellinzona
Von Biasca nach Bellinzona

 

Entlang der Riviera

Seltsamerweise trägt die langgestreckte Ebene, die sich bis kurz vor Bellinzona hinzieht, den vielversprechenden Namen Riviera. Auf jeden Fall bietet die heutige Etappe 25 Kilometer reinstes Wandervergnügen dem Ticino entlang.

Der Weg führt mehrheitlich durch schattigen, duftenden Auenwald. Wie nehmen es gemütlich, die letzten Tage haben trotz phantastischer Etappen ihre Spuren hinterlassen. Aber das Wandern an diesem sonnigen Tag bringt soviel Abwechslung, dass die müden Beine schon bald vergessen sind. So könnte man sich das vorstellen, flach, abwechslungsreich, schattig. Aber das würde vermutlich schon bald wieder in eine gewisse Langweile kippen.

Wie auch immer, der Weg ist weit und alles andere als langweilig.

 

The path along the Ticino

Manchmal, vielleicht auch nur eingebildet, hat man den Eindruck, dass die Lichtfülle der Sommerstunden abgenommen hat.

Es ist zwar immer noch warm, gelegentlich ziemlich heiss, aber der Herbst kündigt sich auf leisen Sohlen an. Auch dieser gefühlt ewig dauernde Sommer wird enden, vielleicht sind wir froh um das, was hinter der Tür wartet. Im günstigsten Fall werden wir uns wieder an Dunkelheit, an Kälte  und frostige Winde gewöhnen, vielleicht sogar erfreuen.

Allerdings sind diese Vorstellungen an diesem warmen Spätsommertag weit weg.

Und so wandern wir schwatzend, lachend, kaum einmal ausser Atem kommend, dem Ufer entlang, gelegentlich auch auf Dämmen entlang des Flusses. Sie erinnern daran, dass hier immer latente Überschwemmungsgefahr herrscht.

 

The Ticino, sometimes smooth, then again a wild monster  through riverside forests along the Ticino

That's the way it ought to be - shady trees, pleasant paths  The Ticino - water and rocks and trees

 

Versteckte Schönheiten

Nach knapp zwei Stunden überqueren wir den Fluss bei Lodrino, von nun an führt die Wanderung auf der anderen Uferseite weiter.

Das gibt uns Gelegenheit, bei Castione-Arbedo einen ausgedehnten Break mit Fototermin einzulegen, während hinter uns die Moësa gurgelt und rauscht, bevor sie kurz danach vom Ticino verschluckt wird.

Der Travelguide ist wieder einmal unzufrieden mit unserem achtlosen Vor-sich-her-wandern, denn eigentlich würde man in den Dörfern entlang des Weges zahlreiche versteckte Schönheiten finden. Aber eben, sie sind versteckt und somit unbekannt, und so erfahren wir wieder einmal erst im Nachhinein, was wir alles verpassen.

Beispiele gefällig: etwa in Osogno die Kapelle Santa Maria del Castello oder in Claro das Bergkloster Santa Maria Assunta.

Allerdings muss ich zu unserer Verteidigung hinweisen, dass wir seit Airolo soviele Kapellen und Kirchen gesehen haben, dass wir uns mindestens ein Freiticket in den Himmel erworben haben.

 

Santa Maria del Castello in Osogno  Santa Maria Assunta in Claro

Die Klöster Santa Maria del Castello in Osogno und Santa Maria Assunta in Claro

Eine zukünftige Energieversorgung

Im Unterschied zu den versteckten Schönheiten, die wenig Interesse finden (leider), sticht uns ein seltsames Gebäude in der Nähe des Wegs, ein Art Kran mit sechs Armen, ins Auge. Dass es sich dabei um ein futuristisches Projekt, initiiert von einem Amerikaner, handelt, ist ziemlich einmalig in seiner utopischen Richtung.

Es handelt sich hierbei um ein Hubkraftwerk. Die Idee scheint trivial und genial zugleich: Bei geringem Strombedarf werden Betonblöcke mittels erneuerbarer Energie hochgezogen und bei hohem Strombedarf zur zusätzlichen Energiegewinnung wieder abgesenkt, ähnlich dem System von Wasserkraft mit Staudamm und Pumpwerk.

Mal sehen, ob sich daraus etwas ergibt und ob die Idee schlussendlich nicht eine Idee bleiben wird.

 

a lifting power plant

 

Die letzte Stunde

Bellinzona kommt näher, wir haben, ohne es gross zu merken, tatsächlich 25 Kilometer abgespult. Und einmal mehr gäbe es viel zu sehen und zu entdecken, Beispiele trutziger Wehrbereitschaft, Zeugen vergangener Auseinandersetzungen, wahrscheinlich genauso unnötig wie die heutigen.

Der Travelguide ist auf jeden Fall begeistert:

Ein kleiner Abstecher zu den Schlössern Castelgrande, Montebello und Sasso Corbaro lohnt sich. Sie gehören zu den eindrucksvollsten Exemplaren mittelalterlicher Wehrbauten des gesamten Alpenbogens. Mit ihren zinnenbewehrten Mauern, Türmen und Toren wurden die prächtigen Monumente im Jahr 2000 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Zweck der Festungen war es, den nördlichen Völkern den Zugang zum Tessiner Tal zu versperren und die Wegezölle sowie die Strasse in Richtung Gotthard zu kontrollieren.

 

Santa Maria Assunta in Claro  The castle MOntebello above Bellinzona

                                                                                           Die Burgen Castelgrande und Montebello oberhalb Bellinzona

Bellinzona am südlichen Zugang zu den Alpenpässen Gotthard, San Bernardino und Lukmanier ist die wohl italienischste Stadt der Schweiz.

Die mächtige Festungsanlage der drei mittelalterlichen Burgen bilden sozusagen die Skyline der Tessiner Hauptstadt.

Man spricht von lombardischem Charakter der Stadt, hier scheint der Einfluss der norditalienischen Provinz am grössten gewesen zu sein. Nicht verwunderlich, dass Bellinzona ein von der UNESCO anerkanntes Weltkulturerbe darstellt.

Auf jeden Fall werden wir am Abend zumindest die kulinarischen Vorzüge der Stadt gebührend feiern. Was einmal mehr beweist, dass Kunst und alles andere in erster Linie durch den Magen geht.

 

Passender Song:  The New Colony Six – At the River’s Edge

Und hier geht der Trail weiter … nach Tesserete

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Tausend Stufen

Nie ist man mehr Herr über die eigene Zeit als beim Wandern.

Niemand und nichts zwingt dich zu etwas (ausser vielleicht die zu erwartende Distanz oder das bereits gebuchte Hotelzimmer). Kann es sein, dass man sich deswegen so befreit fühlt? Dass eine Art Abhängigkeit von diesem Zustand entsteht? Dass man etwas immer wieder tun will?

Wie immer bei diesen philosophischen Morgengedanken weiss ich keine Antwort (ein Muster, das sich im Verlauf des Älterwerdens verfestigt) oder bestenfalls eine halbe. Ich weiss nur, dass ich es sehr bedaure, nicht schon viel früher auf die Segnungen von Fernwanderungen gestossen zu sein.

Anyway, ob mit oder ohne Sucht geht es weiter, leider bereits dem Ende der Strada Alta entgegen. Aber anschliessend führt der Weg ja noch einige Tage weiter, bis ganz in den Süden, beinahe bis Italien.

Heute sind aber Stufen angesagt, viele viele Stufen hinunter ins Tal, etwas, was ganz und gar nicht meinen Vorstellungen entspricht. Immerhin spricht der Travelguide von romantischen Abschnitten, wir lassen uns überraschen:

Der romantischste, jedoch steilste Abschnitt der Strada alta. Über gewaltige Felskanzeln und durch einsame Kastanienwälder führt der alte Saumweg zur einzigartigen Freilufttreppe oberhalb Pollegio. Endspurt nach Biasca, in der Talsohle der Leventina.

Unsere Daten: Länge 19 km; Aufstieg | Abstieg 1095 m | 1690 m; Wanderzeit 8 h 27 min (vielleicht sollte ich mal meine Pulsuhr überprüfen lassen)

 

From Anzonico to Biasca
Von Anzonico nach Biasca

 

Schon beinahe kitschig

Die Strada scheint sich über uns lustig machen zu wollen, denn der Himmel ist im tiefsten Blau aller Zeiten gemalt. Als wollte sie uns mitteilen, dass man sie nicht einfach ohne Grund verlassen darf. Aber wir haben keine Wahl, blau hin oder her.

Während das Tal noch im Schatten liegt, ragen die Bergspitzen in das makellose Azur hinein, keine Wolke, nicht mal die kleinste, ist zu sehen, einfach nur ein Bild für Künstler. Schon beinahe kitschig müsste man sagen, aber wir lieben natürlich solchen Kitsch.

 

The bluest sky ever

 

Bilderbuchweg

Es ist nicht nur der blaue Himmel, der einen ausserordentlichen Tag verspricht, ich weiss es aus eigenen Erinnerungen (die letzte Treppe ins Tal hinunter ist eher unter weniger guten Erlebnissen abgebucht). Aber soweit sind wir noch nicht, wir nehmen den Weg unter die Füsse, nicht allzu schnell, Schönheit muss genossen werden.

Wir durchqueren also getunnelte Wege, überdeckt wie eine Pergola, geniessen das Gefühl, wieder einmal am richtigen Ort zu sein. Manchmal ein Stall am Weg, beflaggt und vielleicht längstens kein Stall mehr sondern eine umgebaute Ferienwohnung.

 

A tunnel of bushes  Sometimes a barn on the way, of couse with Swiss flag

Wie gesagt, schöner kann es nicht werden. Die Wege führen grösstenteils den grünen und gelben Hängen entlang, links Berge, rechts Berge, dazwischen wir auf himmlischen Wegen. Man erkennt aber die Hand des Menschen, gepflegte Wiesen, geordnete Steinmauern dem Weg entlang, hin und wieder ein Haus, ein Stall, eine Hütte.

Die Natur hat längst weichen müssen, sie ist zu dem degradiert worden, was ihr der Mensch zugesteht. Man würde sich öfter Wildnis wünschen, echte Wildnis, wo nur die Natur selbst bestimmt, was sein darf und was nicht.

Ich erinnere mich an Bilder aus anderen Ländern, wo der Mensch noch nicht eingegriffen hat. In Laos oder Burma oder Kambodscha. Aber auch dort nur eine Frage der Zeit, bis auf Teufel komm raus gerodet wird, um für die wachsende Bevölkerung Platz zu schaffen.

 

A path along beauty (without the beast) Just green and blue and nothing else

Sant'Ambrogio in SegnoEs dauert nicht lange, bis man eines der ältesten Kleinode des Tessins erreicht: die aus dem 13. Jahrhundert stammmende spätromanische Kleinkirche Sant’Ambrogio in Segno. Sie hat eine halbkreisförmige Apsis und Innen- und Aussenfresken aus dem 14. und 15. Jahrhundert.

Natürlich verpassen wir das Kleinod, mit Bedauern im Nachhinein.

Wie gesagt, Kunstgenuss ist auch eine Frage des Wollens. Dabei vereinen sich Natur und Mensch gelegentlich zu einer perfekten Symbiose.

Und noch ein Dorf mit Kirche

Nach knapp einer Stunde folgt Cavagnano. Nach dem kleinen Ort geht der Weg in einen schönen Pfad über. Wer ruhig ist, hört vielleicht Rehe im Laub rascheln. Gut getarnt bekommt man sie aber nur selten zu Gesicht.

Es folgt nun ein Dorf nach dem anderen, meistens dominiert von einer Kirche, dem alles andere überragenden Zentrum des katholischen Glaubens. Das Dorf weist zahlreiche Holzhäuser auf, hier scheint der alte Baustil noch präsent zu sein.

Der Travelguide erwähnt, dass in der Gegend von Cavagnano die Felder nur noch in Dorfnähe gepflegt werden. Dort, wo also der Weg zu den Feldern zu mühsam geworden ist, überwuchert der Jungwald bereits wieder das zuvor mühsam der Wildnis abgetrotzte Kulturland.

Eine klassische Rückeroberung.

 

Cavagnano - a typical village along the Strada alta

The old and the new mix perfectly  Steep steps to the upper houses

 

Durch Heidegras, Ginster und Farn

So setzen wir uns halt hin, eingelullt im Duft der Bäume und Sträucher. Es gibt keine Eile, einfach nur dasitzen, den Blick streifen lassen, etwas essen und trinken, keine Worte, nur Stille und vielleicht ein Vogel im Gebüsch.

 

Sometimes a resting break, surrounded by nothing except beauty  From light to darkness

Der Weg wird ruppiger, die mit schweren Steinplatten belegten Stufen sind die schlimmsten. Über unseren Köpfen thronen gewaltige, baumbewachsene Felstürme. Immer mächtiger werden die Kastanien. Unter ihren ausladenden Ästen führt der Pfad mal steil aufwärts, dann wieder mühsam hinunter, man weiss nicht wohin.

 

The steps get steeper  A kind of blackboard for hikers

 

Alte Bäume und Hobbit-Geister

Die alten Kastanienwälder sind nun die vorherrschende Baumart. Man scheint durch einen Märchenwald zu gehen, die Erinnerung an den Düsterwald aus der Hobbit-Saga meldet sich. Wo aber sind die dreizehn Zwerge, wo Thorin Eichenschild, wo Bilbo, der angeworbene Dieb?

Niemand zu sehen, aber vielleicht verstecken sie sich, wollen das bleiben, was sie sind – Geister, zum Leben erweckt durch den unsterblichen J. R. R. Tolkien. Doch sie sind spürbar, sie gehören längst zu unserer Welt. Wenn es sie nicht gäbe, müsste man sie erfinden.

 

Chestnut trees - monuments of nature  An old giant - old and wise

 

Die Saga von der Suche nach dem Herrn der Ringe Epos

Das erinnert mich an eine phantastische Geschichte (während des Wanderns hat man viel Zeit, sich zu erinnern).

Seit Mitte der 70-Jahre steht das Epos The Lord of the Rings ganz oben auf meinem persönlichen Literaturkanon. Die dazugehörige Geschichte meiner Suche nach den drei Bänden könnte aus einem kitschigen Roman stammen.

Der erste Band „The Fellowship of the Rings“ – ein zufälliger Fund in einem Hotel in Kathmandu, hinterlassen vermutlich von einem anderen Hippie. Die hektische Suche nach den beiden Folgebänden in Kathmandu – ergebnislos.

Und so beginnt meine eigene phantastische Saga der Suche nach dem Herrn der Ringe.

Die erste grosse Stadt auf dem Rückweg – New Delhi. Die Inder sind seit jeher grosse Leser, also müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn die beiden Bücher nicht aufgetrieben werden könnten. Doch die erwartungsvolle Frage in Buchhandlungen und Bibliotheken wird immer gleich beantwortet: „Sorry, Sir, no Hobbits!“

Doch manchmal winkt das Glück an seltsamen Orten. Denn in der Riesenstadt – schon damals mit vielen Millionen Einwohnern – sind die fliegenden Händler an den Strassen allgegenwärtig. Und tatsächlich, zuoberst auf einem Stapel ziemlich abgefuckter Buch-Antiquitäten sehen mir „The Two Towers“ in die Augen. Selten habe ich ein Buch in so jämmerlichem Zustand derart innig an die Brust gedrückt.

Dass die Suche nach dem dritten Band eine Fehlanzeige ist, scheint zum Spiel zu gehören, das in der Zwischenzeit zum täglichen Spass gehört.

Dann halt vielleicht mehr Glück in der nächsten grösseren Stadt – Kabul. Am Anfang, nicht ganz überraschend (man stelle sich das heute im Taliban-Afghanistan vor) kein Erfolg. Doch soll „The Return of the King“ ein Traum bleiben, der sich erst zuhause verwirklichen wird? Kurz vor der Abreise hat der Himmel ein Einsehen und macht mir ein ganz und gar unerwartetes Geschenk: „The Return of the King“. Natürlich in genauso bedauernswertem Zustand wie Band zwei, aber egal. Ich hätte den Verkäufer am liebsten umarmt.

Also zusammengefasst: Band 1 – in Kathmandu, Band 2 in New Delhi und Band 3 in Kabul erstanden. Immer noch die heiligsten Bücher in meiner Bibliothek.

Da behaupte noch jemand, das Schicksal oder der Zufall spiele keine Streiche.

 

Aber dann der endlose Abstieg

Wie erwartet folgt nach vielen Stunden der Abstieg ins Tal hinunter. Es bedeutet das Ende der Strada Alta, der wehmütige Abschied von einem liebgewonnenen Freund. Wir schauen noch einmal zurück, auf die im nachmittäglichen Sonnenlicht badenden Wiesen und Wälder. Wir werden sie vermissen, aber morgen folgt eine ganz andere Etappe. Sehr lang und sehr eben.

Nach knapp zwei Stunden wird mit Sobrio das nächste Bergdorf erreicht. Kurz darauf folgt die Schlucht Vallone, dann der lange Abstieg nach Pollegio. Über steinige Pfade und gewaltige Felskanzeln wird sanft und dann immer steiler abgestiegen. Durch einsame Kastanienwälder und über eine einzigartige Freilufttreppe kommt der alte Saumweg viereinhalb Stunden später in Pollegio an.

 

Downwards beneath a high wall  Endless steps down to the valley

Biasca heisst uns zwar willkommen (so hoffen wir), der Weg durch die Stadt ist alles andere als verheissungsvoll. Wir rümpfen innerlich die Nase ob soviel Zivilisation, aber so sei es dann halt. Dabei gibt es über das Dorf allerhand zu erfahren, wie immer wissen wir wenig davon:

Leicht oberhalb des Dorfzentrums thront majestätisch die Kirche der Heiligen Peter und Paul und gibt den Blick frei auf die Eingänge der drei sogenannten ambrosianischen Täler Blenio, Leventina und Riviera. Im 11. Jahrhundert erbaut, zählt sie zu den schönsten romanischen Baudenkmälern der Schweiz. Auch Biasca wurde 1513 nicht verschont von Naturkatastrophen. Im Mittelalter war der Ort Schauplatz einer der verheerendsten Bergstürze in der Geschichte der Schweiz: Als der Monte Crenone ins Tal donnerte, zerstörte er viele Häuser, tötete 600 Menschen und schuf eine Talsperre. Diese barst 1515 unter dem Druck des aufgestauten Sees und richtete schwerste Schäden bis in die Magadinoebene an.

Das Hotel Della Posta ist ganz okay, unsere Ansprüche sind ja nicht gross. Beim Nachtessen zeigt sich schnell, dass der Küchenchef nicht gerade Gault-Millau-mässig unterwegs ist. Lustigerweise muss  man die Betten selbst beziehen, eine doch eher sonderbare Überraschung.

Aber egal, wir sind angekommen, wieder einmal.

 

Passender Song: Lynyrd Skynyrd – Gimme three Steps

Und morgen geht der Trail weiter … dem Ticino entlang nach Bellinzona

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Zwischen Bergen und Wäldern

Man sitzt gemeinsam an einem langen Tisch, man schwatzt mit Mutter und Tochter, die ebenfalls auf der Strada unterwegs sind, geniesst das üppige Frühstück, das alles enthält, was das Herz begehrt. So muss ein Wandertag beginnen, alles andere wäre eine Versündigung an diesem prachtvollen Tag, der sich auf den Berggipfeln ankündigt.

Das alte Haus, in dem sich das Gasthaus befindet, spricht mit uns. Manchmal mit einem Knarren in den alten Balken, manchmal ein leises Ächzen, wir kennen das. Alte Häuser mit viel Holz verbaut, da meldet sich schon mal die Vergangenheit.

Der Blick auf die aktuelle Karte zeigt, dass es heute einen ziemlichen Umweg zu bewältigen gibt. Forstarbeiten, die von August 2022 bis Mai 2023 dauern (!?), haben die Sperrung des Wanderwegs verursacht. Okay, wir nehmen es entspannt zur Kenntnis.

Der mittlere Teil der Strada alta gilt als der angenehmste und reizvollste: kaum Höhenunterschiede, grösstenteils auf Naturbelag, und die Gipfel der rechtsseitigen Leventina als ständige Begleiter. Für Besinnung und Kunstgenuss sorgen Kapellen und Kirchen.

Unsere eigenen Daten, nicht ganz überraschend durch den Umweg, unterscheiden sich: Länge 14.2 km; Aufstieg | Abstieg 1175 m | 1370 m; Wanderzeit 8 h 03 min

 

From Osco to Anzonico
Von Osco nach Anzonico

 

Langer Umweg

Mal sehen, ob Kapellen und Kirchen auf dem Pfad für Besinnung und Kunstgenuss sorgen. Ich bin da etwas skeptisch, aber lassen wir uns überraschen. Die Wege Gottes sind bekanntlich unergründlich (wie an anderer Stelle schon festgestellt wurde).

Zum Start (und zur Besinnung) wenden wir uns zuerst dem Friedhof zu, ein Einblick in die Geschichte eines Dorfes. Man erkennt die Namen, vielfach identisch, grosse Familien. Man liest die Jahreszahlen, die frommen Sprüche für die Verstorbenen, Grüsse ins Jenseits.

Das Dorf, obwohl sehr still und sehr verlassen, wird uns in Erinnerung bleiben, aber wir müssen weiter. Der Weg nach Anzonico ist nicht zu unterschätzen, vor allem der Umweg könnte schwierig sein.

Anyway, so stechen wir zwangsläufig und anfänglich ohne viel Euphorie ins Tal hinunter, im Wissen, dass es kurz darauf wieder aufwärts geht, zurück zur ursprünglichen Route. Der Abstieg ist steil, doch es kümmert uns nicht, denn der Tag ist von soviel guten Omen (Besinnung! Kunstgenuss!) erfüllt, dass uns nichts erschüttern kann.

 

A long detour downwards Downwards ... and up again

Der Pfad würde eigentlich durch die wildromatische Sciresaschlucht führen, was uns allerdings entgeht, aber wir werden auch so durch allerhand ähnliche topographische Herausforderungen konfrontiert.

Immer wieder gilt es, Gräben und Schluchten zu durchqueren, Holzbrücken hängen über beinahe ausgetrockneten Bachbetten. Die Flora ändert sich nun, Tannen und Föhren mischen sich nun zunehmend mit Kastanien. Mit der Aussicht auf baldigen Maronigenuss im Herbst läuft schon beim Gedanken das Wasser im Mund zusammen.

 

Wir haben nun tatsächlich das Ende der mehrheitlich alpinen Bewaldung erreicht. Von nun an fühlen wir uns als mediterrane Wesen, das kalte nördliche Blut wird wärmer. Im Guide entnehme ich, dass die Bewohner von Osco bis Mitte des letzten Jahrhunderts ihr Mehl in der Mühle von Calpiogna holten. Immerhin ein Weg von mehreren Stunden hin und zurück.

Irgendwann erreichen wir, etwas keuchend zwar, wieder den ursprünglichen Pfad und wünschen den Forstarbeitern, die sich doch ziemlich viel Zeit nehmen für ihre Rodungen, bei ihrer nächsten Wanderung ähnlich anstrengende Umwege.

 

happy bubbling wells under a deep blue sky  happy bubbling wells

 

Kulturgenuss und Besinnung (ein bisschen)

Der Guide hat nicht übertrieben – diese Etappe ist wirklich etwas vom Reizvollsten des ganzen Trails.

Und auch der Kulturgenuss (oder je nach Optik die Besinnung) kommen nicht zu kurz: In Rosssura verpassen wir wie erwartet zwar die auf einem vorspringenden Hügel erbaute Kirche San Lorenzo (siehe unten), aber auch eine nachträgliche digitale statt analoge Sicht ist ganz okay. Und offenbar ist der Turm der stolzen Kirche von Canonico sogar von der Talsohle aus zu erkennen.

Wir sind nachträglich erstaunt, was wir vor lauter Wandern alles verpassen. Aber das ist ja nichts Neues.

 

The famous church of Rossura (cc Adrian Michael - Eigenes Werk)  And another church high up (cc Adrian Michael - Eigenes Werk)

Aber wer kann es uns verübeln: der Weg durch Wiesen und Gehölz ist nicht zu übertreffen.

Meine beiden Begleiter sind wie immer weit voraus, während ich wie immer der ewige Nachzügler bin. Das ergibt dafür Zeit, die Umgebung zu geniessen. Trockenes Laub knirscht unter den Füssen, ein zarter Wind streichelt die Bäume, die mir vorkommen wie uralte Begleiter. Die Bäume brechen das Licht, werfen Splitter von Schatten auf den Weg.

Wie auf dem Gotthardpass stellt sich automatisch die Frage ein, wer hier diesen Weg benutzt hat während der letzten Jahrhunderte.

Haben die Menschen in der Vergangenheit überhaupt Augen gehabt für die Schönheit der Umgebung? Haben auch sie das Rauschen der Bäume vernommen, das Singen der Vögel im Gebüsch? Wohl eher nicht. Ihre Gedanken waren bei ihrer harten Arbeit, beim stockenden Gang des übermüdeten Maultiers, beim Überleben ihrer Familie oder vielleicht beim wohlverdienten Bier oder Schnapps im nächsten Dorf. Falls es der hartherzige Boss zugelassen hat.

Eigentlich kann man es sich nicht vorstellen.

 

 

Berge und Schatten und Dörfer

Die Berge, der Campo Tencia, der Pizzo Campolungo oder der Pizzo Forno werfen ihre Schatten ins Tal. Doch der Himmel bleibt so blau wie er sein sollte, ein paar zierliche Wolken ziehen vorbei, grusslos und leise.

Doch immer wieder tritt der Weg aus dem Schatten der Wälder heraus. Schon von weitem grüssen Kirchtürme, Häuser, teilweise mit schweren Granitplatten auf den Dächern, heissen die Wanderer willkommen. Brunnen sprudeln, bekränzt mit Blumen, man fühlt sich am richtigen Ort und trinkt am Dorfplatz einen Kaffee.

Doch der Platz ist leer. Man könnte sich alte Frauen vorstellen, die es sich auf der Bank vor dem sonnenbeschienen Haus bequem gemacht haben, den neuesten Tratsch in ihrem wunderbaren, kaum verständlichen Dialekt austauschen, heiser kichernd in ihren Schals und Kopftüchern und Kittelschürzen, an den Füssen Holzschuhe oder Hauspantoffeln.

Vielleicht warten sie auf etwas, vielleicht auf die Post, aber wahrscheinlich nur, dass die Zeit vergeht.

So stellt man sich das vor. Aber so ist es nicht mehr.

 

The village Rossura, typical for this lind of villages
Rossura – ein typisches Bergdorf über der Leventina

Again and again a village  a decorated fountain

Aber der Weg führt weiter, die Schatten werden länger, die Beine müder. Und noch einmal treten wir in die Stille des Waldes ein, manchmal stolpert man auf steilen Stufen hinunter, ein paar Meter später wieder hinauf.

Es wird nun automatisch stiller, man konzentriert sich auf den nächsten Schritt, die nächsten Stufen, den nächsten Abhang. In diesen letzten Abschnitten, kurz bevor das Ziel erreicht wird, ist man ganz bei sich (und den schmerzenden Füssen und Beinen). Über sieben Stunden sind hinter uns, doch immer noch führt der Weg durch den Wald.

 

 

Anzonico unter blauestem Himmel

Anzonico befindet sich am linken Hang des Valle Leventina auf fast 1000 m.ü.M. 1667 zerstörte eine Lawine Teile des Dorfes, darunter die Kirche. 88 Menschen kamen zu Tode. Der Wiederaufbau erfolgte an einem geschützteren Ort. Ab 1850 entvölkerte sich Anzonico zunehmend. Heute hat es nur noch ungefähr 100 Bewohner, diverse Rustici wurden zu Ferienhäusern umgebaut. Am Ende des Dorfes thront die Kirche über dem Tal. Fantastisch ist die Sicht auf die Bassa Leventina und die gegenüberliegenden Berge wie Madom Gröss (2741) oder Cima Bianca (2612).

Auch die längste und anstrengenste Etappe geht irgendwann zu Ende, so auch heute. Die letzten Meter auf der Teerstrasse bis ins Dorf sind mühsam, nicht mal dieser fleckenlose blaue Himmel kann uns noch aufmuntern. Alles, was unsere Bestimmung an diesem Abend ist, kann in Form von einer Dusche, ein paar kühlen Bieren und einem Festmahl im Restaurant erfüllt werden.

Und das wird ziemlich schnell in die Realität umgesetzt.

 

Our hotel in Anzonico

 

Passender Song:  The Fleshtones – Way Down South

Und morgen geht die Strada Alta dem Ende zu … in Biasca

 

Trans Swiss Trail

Trans Swiss Trail – Unterwegs auf der Strada Alta

Nun denn, heute also der erste Tag in Begleitung, der Weg ist weit, aber, wenn ich mich recht erinnere, von ausgesuchter Schönheit.

Tief unten im Tal braust der Verkehr auf der Autobahn, während oben an der Strada Alta Ruhe herrscht. Prächtige Sicht auf die Bergketten der Leventina und des Val Bedretto. In Dörfern und Wiesen leuchten helle Kapellen. Osco war einst ein wichtiger Säumerort.

Unsere Werte: Länge 18 km; Aufstieg | Abstieg 980 m | 965 m; Wanderzeit 7 h 49 min

 

From Airolo to Osco
Von Airolo nach Osco – entlang der Strada Alta

 

Der Klassiker der Leventina

So viele grossartige Etappen liegen hinter mir. Die Flusswanderungen entlang des Doubs oder der Aare und der Emme bis an ihre Quelle. Oder die phantastischen Wanderungen entlang einiger der schönsten Seen der Welt.

Unvergessliche Tage voller Licht und Sonne und Luft.

Aber heute beginnt ein neuer Höhepunkt.

Die Strada Alta, ein Klassiker, einer der schönsten Wanderwege, die unser Land zu bieten hat. Sie führt von Airolo bis Biasca, immer hoch über der Leventina, ein dauerndes Auf und Ab, durch Wälder und Wiesen, durch Dörfer und Weiler.

Wir folgen während drei Tagen einem alten Säumerpfad, der die gefährlichen Schluchten im Talboden umging.

Die Route steigt von Airolo bis zum höchsten Punkt auf 1400 Metern, um nach rund 45 Kilometern mit einem 700-Meter Abstieg abrupt in die Talsohle zu stechen.

 

Die ersten Sonnenstrahlen

Es wäre vermessen zu behaupten, dass wir  bei den ersten Sonnenstrahlen aufbrechen. Natürlich sind wir wie gewohnt viel zu spät beim Start, aber das kennen wir ja in der Zwischenzeit. Also gehen wir die Sache altersbedingt sehr gemächlich an, durchqueren das langgezogene Dorf und seine zugehörigen Weiler, bis der Weg zu steigen beginnt. Alles gut.

Airolo bleibt hinter uns zurück, der Weg führt gemütlich aufwärts, kaum zu spüren. Wir durchqueren das Val Canaria (was ein paar schmerzhafte Erinnerungen an eine Wanderung vor langer Zeit wachruft) und erreichen schon bald ein erstes Dorf hoch über dem Tal – Madrano.

Manchmal sind es sonnenbeschienene Wiesen und Abhängen, die wir durchqueren, manchmal Wald und Bäume, die sich über den Weg beugen. Man taucht in eine andere Welt ein, in eine stille, einfache Welt, wäre da nicht das Röhren und Brummen des unzähmbaren Verkehrs im Tal unten. Trotzdem, man atmet automatisch durch, die Brust weitet sich, der Geist, dieser unstillbare Geselle, wird leiser.

 

Madrano - first village on the way  Looking back at the Gotthard

Der Blick zurück zeigt das Tal kurz vor Airolo, Autobahn und Bahnstrecke, Dörfer und Weiler und Abhänge und Wiesen und Wälder, ganz zuhinderst der Gotthard und die tiefen Einschnitte, die von der neuen Gotthardstrasse in den Berg geschnitten wurden. Soviele Sünden auf einen Blick.

Aber anyway, wir schauen vorwärts, lassen alles hinter uns, unsere Richtung ist Süden und nichts anderes mehr. Der Himmel ist zwar voller Wolken, aber die Sonnenstrahlen liebkosen die grün- und gelb gefleckten Hänge, wir fühlen uns willkommen.

Schritt für Schritt, manchmal schwatzend, dann wieder schweigend, wandern wir aufwärts. Die Wanderstöcke, klack, klack, geben den Takt vor. Dieser Sound wird uns bis Mendrisio begleiten. Nach einiger Zeit erreichen wir den höchsten Punkt auf gut 1400 Metern.

Auf dieser ersten Etappe führt der Wanderweg immer wieder auf Asphaltstrassen entlang, aber was soll’s, wir nehmen, was kommt. Ab morgen wird alles besser (so hoffen wir). Aber immerhin gibt es grossartige Abschnitte, unter laubbesetzten Bäumen hindurch, wo der Boden weich und angenehm zu gehen ist. So muss es sein.

 

On the Strada Alta towards south  The Strada Alta - forest, villages, clouds and a blue sky

 

Holzhäuser und Steinhäuser und alles andere

Eine Wanderung ist auch immer (oder meistens) eine Lektion in Geographie, in Geschichte, in Politik und Wirtschaft. Dazu braucht es allerdings einen offenen Blick und gespitzte Ohren (und später eine nachträgliche Recherche in den dazugehörenden Informationen). Ach, dieses vermaledeite Halbwissen.

Wer hätte schon gewusst, dass in der oberen Leventina der Urner Baustil die vorherrschende Architektur der Hangsiedlungen mit den dunkelbraunen Holzhäusern ist, während sie weiter südlich durch Steinhäuser dominiert werden. Oder dass der Bergwald nach und nach durch Föhren, Birken und allerlei Gebüsch abgelöst wird und schon bald die ersten Kastanienhaine auftauchen.

Manchmal watschelt man einfach vor sich hin, ohne Gedanken an die Umgebung und deren Geschenke. Wenn man denn bloss etwas aufmerksamer wäre.

Eine Lektion fürs Leben, so scheint mir.

 

Small villages, but always with a chapel or a church
Dunkelbraune Holzhäuser und immer eine Kirche oder zumindest eine Kapelle

 

Dörfer mit und ohne Leben

Es ist tatsächlich so, auch in den winzigsten Dörfern, die kaum das Attribut Dort verdienen, steht eine Kirche oder zumindest eine Kapelle. Ein Aufruf an die frommen Bürger, natürlich allesamt Katholiken in diesem strenggläubigen Kanton, sich gefälligst an die Ehre Gottes zu erinnern.

Allerdings – die Erkenntnis lässt sich nicht verdrängen – scheinen all diese Dörfer an einem grossen Mangel zu leiden, der sicht- und spürbar ist. Es fehlt an Leben, an Menschen, an Stimmen, an Kinderlachen. Vielleicht haben wir den falschen Augenblick erwischt. Die Kinder sind in der Schule, die Erwachsenen im Tal unten am Arbeiten. Vielleicht – es wäre zu hoffen – erwacht das Leben erst nach Feierabend.

Ich bleibe skeptisch.

Und natürlich gibt es die umgebauten Häuser, die ehemaligen Rustici, die zu Ferienchalets verwandelt wurden, selten bewohnt, vielleicht an den Wochenenden oder Ferien. Einerseits eine Möglichkeit, eine Art Ersatzleben aufrecht zu erhalten, auf der anderen Seite der Einfluss einer fremden Welt, einer anderen Kultur, die vor allem durch Geld geprägt ist.

Es erinnert mich an einen Roman, der das Gegenteil beschreibt, ein fiktives Tessinerdorf im Bleniotal – Tage mit Felice von Fabio Andino. Obwohl die Geschichte eines alten Mannes in der Gegenwart spielt, weist vieles an eine längst vergangene Epoche zurück.

Doch Andino beschreibt ein lebendiges Bergdorf im Tessin. Das frisch gestrichene Gemeindehaus, die Bar, wo der Alkohol fließt, der Schulbus aus Acquarossa, der Bauer Sosto, der letzte, der Kühe hat.

Es gibt einen Laden, eine Kneipe, viele alte, teilweise baufällige Häuser, und vor allem viele Bewohner. So wie man sich an die eigene Jugend erinnert – voller schräger Figuren, voller Leben, auch wenn häufig von grosser Armut geschlagen. Doch das Dorfleben funktioniert, es gibt eine starke Gemeinschaft, die Leben und Tod und den Einbruch des technischen Zeitalters ganz selbstverständlich teilt.

Nun gut, irgendwie habe ich mich beim Lesen gefragt, ob die Geschichte nicht aus der Zeit gefallen ist, ob nicht vieles der Phantasie des Schriftstellers entspricht, der sich mit seinem Roman eine eigene Utopie geschaffen hat. Unsere Erkenntnisse beim Wandern auf der Strada Alta sind anders.

Aber wer weiss, vielleicht gibt es im Bleniotal noch Erinnerungen an die Vergangenheit.

 

Sometimes along soft meadows, sometimes on paved roads  My buddies are in good shape

 

Abstieg durch den Bosco d’Öss

Tief unten im Tal braust der Verkehr auf der Autobahn, doch hier oben herrscht Stille, sieht man von den jubilierenden Gesängen unsichtbarer Vögel ab. Sie sind unsere ständigen Begleiter, denn ausser uns ist selten jemand zu sehen oder zu treffen. Die Wander-Hauptsaison ist vorbei, man hat sich wieder der Arbeit verschrieben, der Schule, anderen Leidenschaften.

Im Sommer hingegen wimmelt es hier von Ausflüglern, von leicht bis schwer beladenen Wanderern, manche für einen Kurztripp, andere wie wir für längere Etappen. Wir sind froh um die relative Einsamkeit, die Autos und Traktoren auf den jeweiligen Asphaltabschnitten genügen vollkommen.

Durch den sogenannten Bosco d’Öss, hoch über der Piottinoschlucht, überschreitet man auf einem strengen, steinigen Abstieg die Grenze zur mittleren Leventina (machen wir uns später schlau). Eine interessante Bezeichnung, weist sie doch auf die besonderen Dialekte hin, die hier gesprochen werden. Man kann nur vermuten, dass sich die Sprache alle paar Täler wieder ändert, so wie wir das aus unserer gemeinsamen Heimat kennen (wo ein schmaler Fluss zwischen zwei Dörfern nicht nur andere Ausdrücke, sondern auch andere Betonungen bedeutet).

 

Steep descent through the Bosco d'Öss  A village or just a few houses

Es ist ein ständiges Auf und Ab. Zuweilen glaubt man, am gegenüberliegenden Hang das Tagesziel Osco zu erkennen, aber es entpuppt sich als Schimäre, unserer langsam etwas müde gewordenen Phantasie entsprungen.

In der Zwischenzeit sind viele Stunden vergangen, wunderbare Stunden entlang (meistens) grossartigen Wegen mit einer Aussicht, die man eigentlich kostenpflichtig machen müsste (was der Krämermentalität der Schweizer durchaus entsprechen würde; man darf ihnen allerdings nicht allzu böse sein – es gibt in diesem kleinen Land weder Bodenschätze noch sonst was, was sich monetarisieren lässt, also hält man sich an das, was vorhanden ist, die grossartige Natur).

 

It's a sometimes funny path, you feel far from the world  And then you have to find your way

 

Osco – und eine verlassene Unterkunft

Schliesslich nähern wir uns doch dem malerischen Dorf Osco, im Mittelalter ein wichtiger Säumerort, wo die sogenannte Säumerordnung aus dem Jahr 1237 das älteste Dokument ist, das über die Nord-Süd Verbindung über den Gotthard berichtet.

Auch hier, wir sind gar nicht mal überrascht, keine Menschenseele zu sehen, einmal mehr weit weg von geschäftigem Leben. Wir sind einquartiert im mehr oder weniger einzigen Etablissement im Dorf, im Ostello pro Osco, einem stattlichen Gebäude, wo wir garantiert genug Platz haben werden. Nur ist leider auch hier niemand zu sehen, die Tür ist verschlossen, kein Laut zu hören.

Zumindest haben wir eine Telefonnummer, ein Kontakt wird hergestellt, und kurz darauf keucht eine ältere Dame vom Dorf herauf, die uns die Pforten zu unserem temporären Paradies öffnet. Unser Paradies entpuppt sich als Unterkunft für gut zwanzig Personen, man schläft in Reihenbetten, der Waschraum erinnert an die Zeiten in der Armee, aber was soll’s, wir sind gelandet.

Abendessen und Frühstück werden am zentralen Platz im entsprechenden Restaurant (dem einzigen im Dorf) eingenommen, die Dame, die uns das Haus geöffnet hat, ist gleichzeitig auch die Wirtin des Restaurants. Draussen stehen lange Tische und Bänke bereit für viele Gäste, doch neben ein paar anderen Wanderern oder was immer diese Leute sind, ist der Platz verwaist.

Das Abendessen, soviel muss gesagt werden, ist von ausgesuchter Qualität, ein echtes Tessinergericht, wie man es in den teuersten Restaurants nicht besser erhalten kann. Wir verabschieden uns von unserer Wirtin mit dem Versprechen, in den heiligen Hallen unseres Ostellos zu schlafen wie die Könige von Frankreich …

 

Passender Song:  Express and Company – Out by the Trees

Und hier geht der Trail weiter … der Strada Alta entlang nach Anzonico