Nie ist man mehr Herr über die eigene Zeit als beim Wandern.

Niemand und nichts zwingt dich zu etwas (ausser vielleicht die zu erwartende Distanz oder das bereits gebuchte Hotelzimmer). Kann es sein, dass man sich deswegen so befreit fühlt? Dass eine Art Abhängigkeit von diesem Zustand entsteht? Dass man etwas immer wieder tun will?

Wie immer bei diesen philosophischen Morgengedanken weiss ich keine Antwort (ein Muster, das sich im Verlauf des Älterwerdens verfestigt) oder bestenfalls eine halbe. Ich weiss nur, dass ich es sehr bedaure, nicht schon viel früher auf die Segnungen von Fernwanderungen gestossen zu sein.

Anyway, ob mit oder ohne Sucht geht es weiter, leider bereits dem Ende der Strada Alta entgegen. Aber anschliessend führt der Weg ja noch einige Tage weiter, bis ganz in den Süden, beinahe bis Italien.

Heute sind aber Stufen angesagt, viele viele Stufen hinunter ins Tal, etwas, was ganz und gar nicht meinen Vorstellungen entspricht. Immerhin spricht der Travelguide von romantischen Abschnitten, wir lassen uns überraschen:

Der romantischste, jedoch steilste Abschnitt der Strada alta. Über gewaltige Felskanzeln und durch einsame Kastanienwälder führt der alte Saumweg zur einzigartigen Freilufttreppe oberhalb Pollegio. Endspurt nach Biasca, in der Talsohle der Leventina.

Unsere Daten: Länge 19 km; Aufstieg | Abstieg 1095 m | 1690 m; Wanderzeit 8 h 27 min (vielleicht sollte ich mal meine Pulsuhr überprüfen lassen)

From Anzonico to Biasca
Von Anzonico nach Biasca

Schon beinahe kitschig

Die Strada scheint sich über uns lustig machen zu wollen, denn der Himmel ist im tiefsten Blau aller Zeiten gemalt. Als wollte sie uns mitteilen, dass man sie nicht einfach ohne Grund verlassen darf. Aber wir haben keine Wahl, blau hin oder her.

Während das Tal noch im Schatten liegt, ragen die Bergspitzen in das makellose Azur hinein, keine Wolke, nicht mal die kleinste, ist zu sehen, einfach nur ein Bild für Künstler. Schon beinahe kitschig müsste man sagen, aber wir lieben natürlich solchen Kitsch.

The bluest sky ever

Bilderbuchweg

Es ist nicht nur der blaue Himmel, der einen ausserordentlichen Tag verspricht, ich weiss es aus eigenen Erinnerungen (die letzte Treppe ins Tal hinunter ist eher unter weniger guten Erlebnissen abgebucht). Aber soweit sind wir noch nicht, wir nehmen den Weg unter die Füsse, nicht allzu schnell, Schönheit muss genossen werden.

Wir durchqueren also getunnelte Wege, überdeckt wie eine Pergola, geniessen das Gefühl, wieder einmal am richtigen Ort zu sein. Manchmal ein Stall am Weg, beflaggt und vielleicht längstens kein Stall mehr sondern eine umgebaute Ferienwohnung.

A tunnel of bushes Sometimes a barn on the way, of couse with Swiss flag

Wie gesagt, schöner kann es nicht werden. Die Wege führen grösstenteils den grünen und gelben Hängen entlang, links Berge, rechts Berge, dazwischen wir auf himmlischen Wegen. Man erkennt aber die Hand des Menschen, gepflegte Wiesen, geordnete Steinmauern dem Weg entlang, hin und wieder ein Haus, ein Stall, eine Hütte.

Die Natur hat längst weichen müssen, sie ist zu dem degradiert worden, was ihr der Mensch zugesteht. Man würde sich öfter Wildnis wünschen, echte Wildnis, wo nur die Natur selbst bestimmt, was sein darf und was nicht.

Ich erinnere mich an Bilder aus anderen Ländern, wo der Mensch noch nicht eingegriffen hat. In Laos oder Burma oder Kambodscha. Aber auch dort nur eine Frage der Zeit, bis auf Teufel komm raus gerodet wird, um für die wachsende Bevölkerung Platz zu schaffen.

A path along beauty (without the beast) Just green and blue and nothing else

Sant'Ambrogio in SegnoEs dauert nicht lange, bis man eines der ältesten Kleinode des Tessins erreicht: die aus dem 13. Jahrhundert stammmende spätromanische Kleinkirche Sant’Ambrogio in Segno. Sie hat eine halbkreisförmige Apsis und Innen- und Aussenfresken aus dem 14. und 15. Jahrhundert.

Natürlich verpassen wir das Kleinod, mit Bedauern im Nachhinein.

Wie gesagt, Kunstgenuss ist auch eine Frage des Wollens. Dabei vereinen sich Natur und Mensch gelegentlich zu einer perfekten Symbiose.

Und noch ein Dorf mit Kirche

Nach knapp einer Stunde folgt Cavagnano. Nach dem kleinen Ort geht der Weg in einen schönen Pfad über. Wer ruhig ist, hört vielleicht Rehe im Laub rascheln. Gut getarnt bekommt man sie aber nur selten zu Gesicht.

Es folgt nun ein Dorf nach dem anderen, meistens dominiert von einer Kirche, dem alles andere überragenden Zentrum des katholischen Glaubens. Das Dorf weist zahlreiche Holzhäuser auf, hier scheint der alte Baustil noch präsent zu sein.

Der Travelguide erwähnt, dass in der Gegend von Cavagnano die Felder nur noch in Dorfnähe gepflegt werden. Dort, wo also der Weg zu den Feldern zu mühsam geworden ist, überwuchert der Jungwald bereits wieder das zuvor mühsam der Wildnis abgetrotzte Kulturland.

Eine klassische Rückeroberung.

Cavagnano - a typical village along the Strada alta

The old and the new mix perfectly Steep steps to the upper houses

Durch Heidegras, Ginster und Farn

So setzen wir uns halt hin, eingelullt im Duft der Bäume und Sträucher. Es gibt keine Eile, einfach nur dasitzen, den Blick streifen lassen, etwas essen und trinken, keine Worte, nur Stille und vielleicht ein Vogel im Gebüsch.

Sometimes a resting break, surrounded by nothing except beauty From light to darkness

Der Weg wird ruppiger, die mit schweren Steinplatten belegten Stufen sind die schlimmsten. Über unseren Köpfen thronen gewaltige, baumbewachsene Felstürme. Immer mächtiger werden die Kastanien. Unter ihren ausladenden Ästen führt der Pfad mal steil aufwärts, dann wieder mühsam hinunter, man weiss nicht wohin.

The steps get steeper A kind of blackboard for hikers

Alte Bäume und Hobbit-Geister

Die alten Kastanienwälder sind nun die vorherrschende Baumart. Man scheint durch einen Märchenwald zu gehen, die Erinnerung an den Düsterwald aus der Hobbit-Saga meldet sich. Wo aber sind die dreizehn Zwerge, wo Thorin Eichenschild, wo Bilbo, der angeworbene Dieb?

Niemand zu sehen, aber vielleicht verstecken sie sich, wollen das bleiben, was sie sind – Geister, zum Leben erweckt durch den unsterblichen J. R. R. Tolkien. Doch sie sind spürbar, sie gehören längst zu unserer Welt. Wenn es sie nicht gäbe, müsste man sie erfinden.

Chestnut trees - monuments of nature An old giant - old and wise

Die Saga von der Suche nach dem Herrn der Ringe Epos

Das erinnert mich an eine phantastische Geschichte (während des Wanderns hat man viel Zeit, sich zu erinnern).

Seit Mitte der 70-Jahre steht das Epos The Lord of the Rings ganz oben auf meinem persönlichen Literaturkanon. Die dazugehörige Geschichte meiner Suche nach den drei Bänden könnte aus einem kitschigen Roman stammen.

Der erste Band „The Fellowship of the Rings“ – ein zufälliger Fund in einem Hotel in Kathmandu, hinterlassen vermutlich von einem anderen Hippie. Die hektische Suche nach den beiden Folgebänden in Kathmandu – ergebnislos.

Und so beginnt meine eigene phantastische Saga der Suche nach dem Herrn der Ringe.

Die erste grosse Stadt auf dem Rückweg – New Delhi. Die Inder sind seit jeher grosse Leser, also müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn die beiden Bücher nicht aufgetrieben werden könnten. Doch die erwartungsvolle Frage in Buchhandlungen und Bibliotheken wird immer gleich beantwortet: „Sorry, Sir, no Hobbits!“

Doch manchmal winkt das Glück an seltsamen Orten. Denn in der Riesenstadt – schon damals mit vielen Millionen Einwohnern – sind die fliegenden Händler an den Strassen allgegenwärtig. Und tatsächlich, zuoberst auf einem Stapel ziemlich abgefuckter Buch-Antiquitäten sehen mir „The Two Towers“ in die Augen. Selten habe ich ein Buch in so jämmerlichem Zustand derart innig an die Brust gedrückt.

Dass die Suche nach dem dritten Band eine Fehlanzeige ist, scheint zum Spiel zu gehören, das in der Zwischenzeit zum täglichen Spass gehört.

Dann halt vielleicht mehr Glück in der nächsten grösseren Stadt – Kabul. Am Anfang, nicht ganz überraschend (man stelle sich das heute im Taliban-Afghanistan vor) kein Erfolg. Doch soll „The Return of the King“ ein Traum bleiben, der sich erst zuhause verwirklichen wird? Kurz vor der Abreise hat der Himmel ein Einsehen und macht mir ein ganz und gar unerwartetes Geschenk: „The Return of the King“. Natürlich in genauso bedauernswertem Zustand wie Band zwei, aber egal. Ich hätte den Verkäufer am liebsten umarmt.

Also zusammengefasst: Band 1 – in Kathmandu, Band 2 in New Delhi und Band 3 in Kabul erstanden. Immer noch die heiligsten Bücher in meiner Bibliothek.

Da behaupte noch jemand, das Schicksal oder der Zufall spiele keine Streiche.

Aber dann der endlose Abstieg

Wie erwartet folgt nach vielen Stunden der Abstieg ins Tal hinunter. Es bedeutet das Ende der Strada Alta, der wehmütige Abschied von einem liebgewonnenen Freund. Wir schauen noch einmal zurück, auf die im nachmittäglichen Sonnenlicht badenden Wiesen und Wälder. Wir werden sie vermissen, aber morgen folgt eine ganz andere Etappe. Sehr lang und sehr eben.

Nach knapp zwei Stunden wird mit Sobrio das nächste Bergdorf erreicht. Kurz darauf folgt die Schlucht Vallone, dann der lange Abstieg nach Pollegio. Über steinige Pfade und gewaltige Felskanzeln wird sanft und dann immer steiler abgestiegen. Durch einsame Kastanienwälder und über eine einzigartige Freilufttreppe kommt der alte Saumweg viereinhalb Stunden später in Pollegio an.

Downwards beneath a high wall Endless steps down to the valley

Biasca heisst uns zwar willkommen (so hoffen wir), der Weg durch die Stadt ist alles andere als verheissungsvoll. Wir rümpfen innerlich die Nase ob soviel Zivilisation, aber so sei es dann halt. Dabei gibt es über das Dorf allerhand zu erfahren, wie immer wissen wir wenig davon:

Leicht oberhalb des Dorfzentrums thront majestätisch die Kirche der Heiligen Peter und Paul und gibt den Blick frei auf die Eingänge der drei sogenannten ambrosianischen Täler Blenio, Leventina und Riviera. Im 11. Jahrhundert erbaut, zählt sie zu den schönsten romanischen Baudenkmälern der Schweiz. Auch Biasca wurde 1513 nicht verschont von Naturkatastrophen. Im Mittelalter war der Ort Schauplatz einer der verheerendsten Bergstürze in der Geschichte der Schweiz: Als der Monte Crenone ins Tal donnerte, zerstörte er viele Häuser, tötete 600 Menschen und schuf eine Talsperre. Diese barst 1515 unter dem Druck des aufgestauten Sees und richtete schwerste Schäden bis in die Magadinoebene an.

Das Hotel Della Posta ist ganz okay, unsere Ansprüche sind ja nicht gross. Beim Nachtessen zeigt sich schnell, dass der Küchenchef nicht gerade Gault-Millau-mässig unterwegs ist. Lustigerweise muss  man die Betten selbst beziehen, eine doch eher sonderbare Überraschung.

Aber egal, wir sind angekommen, wieder einmal.

 

Passender Song: Lynyrd Skynyrd – Gimme three Steps

Und morgen geht der Trail weiter … dem Ticino entlang nach Bellinzona

 

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