Ich dachte immer, dass die Zugfahrt durch die Atacama Wüste in Chile das mit Abstand verrückteste Bahnabenteuer war.
Ist es aber nicht. Immerhin ist heute der 13. November. Ein schlechtes Omen?
Es gibt tatsächlich einen Zug von Mandalay nach Norden bis nach Myitkyina. Dass es ein Höhepunkt meiner Bahnfahrten werden wird, dämmert mir erst nach der Abfahrt. Aber alles schön der Reihe nach.
Ich werde bereits in Naba aussteigen und dann nach Katha fahren, der Stadt, die durch George Orwells Burmese Days weltberühmt geworden ist. Und ja, dann beginnt der Abschnitt, auf den ich mich am meisten freue – die Fahrt auf dem Irrawaddy bis nach Bhamo.
Auf jeden Fall bin ich stolzer Besitzer eines Tickets nach Amba im Norden, Abfahrt nachmittags um vier, Ankunft morgens um sieben. Und ich verabschiede mich von den zwei wunderbaren Ladies an der Reception des Hotels.
Finsternis in der Armut
Es ist jetzt 2 Uhr mittags, ich habe eben Vegetable Springrolls gegessen und sitze nun vor dem letzten Kaffee vor der Abfahrt des Zuges. Ich bin Gottlob nicht abergläubisch, sonst müsste ich dem heutigen Zugsabenteuer skeptisch entgegenblicken. Natürlich gibt es keinen Sleeper, nur eine sogenannte Upper Class. Das werden harte Stunden, lieber Himmel, und ich weiss tatsächlich nicht, wie lange ich mir das noch antun will.
Aber fangen wir ganz am Anfang an, am Bahnhof in Mandalay, oder genauer gesagt, dort, wo die Finsternis der Armut am tiefsten ist, dort, wo kleine Kinder sich neben Müllhalden im Dreck wälzen, während ihre apathischen Eltern auf eine Matte sitzen … und in ihr Handy starren.
Oh ja, Armut ist das eine, aber Verzicht auf das Handy? Niemals. Die Armut ist in den Aussenbezirken der Grossstädte oder eben bei den Bahnhöfen am schlimmsten. Hier steigt man buchstäblich über Menschen hinweg, die am untersten Rand der Gesellschaft leben …
Upper Class nach Naba
Der Zug nach Naba steht bereit, mein Sitz in der Upper Class wird mir zugewiesen, auf den ersten Blick keine schlechte Wahl.
Zwei ältere Damen sitzen auf der anderen Seite, der knapp bemessene Raum vor ihren Füssen vollgestopft mit etwas Undefinierbarem. Meinen fragenden Blick beantworten sie mit einem lauten Lachen und packen einen der mit Papier umwickelten Gegenstände aus. Er entpuppt sich als wunderschöne weisse Blume, etwas Magnolien-Ähnliches. Ich verstehe natürlich nicht, was sie mir mit ihrem Redeschwall mitteilen wollen, aber ich gehe mal davon aus, dass sie in Mandalay eingekauft haben und die Blumen nun im Norden verkaufen wollen. Ich wünsche den zarten Blumen alles Gute auf dem langen Weg …
Der Zug ist sehr lang und sehr voll. Allerdings – wer hätte das gedacht? – scheine ich mal wieder der einzige Ausländer zu sein. Diese Tatsache wird von Anfang an gebührend zur Kenntnis genommen, und die neugierigen Blicke werden mich die nächsten Stunden auf dem Weg begleiten.
Riding the Iron Rooster
Nun denn, satteln wir das eiserne Pferd. Riding the Iron Rooster. Wer Paul Theroux, den berühmten kanadischen Reiseschriftsteller kennt, weiss, wovon ich spreche. Seine Reisen mit dem Zug durch Amerika (The old Patagonien Express) oder durch Asien (The great Railway Bazaar) sind legendär. Und eben, Riding the Iron Rooster, seine Reise durch Sibirien und China. Wunderbar!
Paul Theroux – Riding the Iron Rooster
Paul Theroux, der Autor der Zugreiseklassiker The Great Railway Bazaar und The Old Patagonian Express, geht mit diesem Bericht seiner epischen Reise durch China erneut auf die Schiene. Er springt als Teil einer Reisegruppe in London an Bord und macht sich auf den Weg zur Grenze nach China. Dann verbringt er ein Jahr damit, das Land zu bereisen, wo er eine faszinierende Momentaufnahme eines einzigartigen Moments in der Geschichte zusammenstellt. Von den kargen Wüsten Xinjiangs bis zu den Eiswäldern der Mandschurei, von den dichten Metropolen Shanghai, Peking und Kanton bis zu den trockenen Hügeln Tibets bietet Theroux ein unvergessliches Porträt eines großartigen Landes und eines außergewöhnlichen Volkes.
Der Zug bockt und schlägt aus
Aber eben, das eiserne Pferd scheint sich dem Zureiten bis anhin erfolgreich verweigert zu haben. Es bockt und schlägt nach allen Seiten aus.
Natürlich kommt das bekannt vor, nur erweist sich einmal mehr, dass etwas Schlimmes immer getoppt werden kann. Der besagte Trip nach Hsipaw ist im Vergleich zum Zug nach Naba ein laues Lüftchen. Nun geht es wirklich zur Sache. Die Gepäckstücke über den Köpfen der Reisenden müssen zur Sicherheit angebunden werden, denn sonst werden sie gnadenlos durch das Abteil geschleudert. Übertreibung? Höchstens ein bisschen.
Lange 15 Stunden
Auf jeden Fall werden die Stunden von nachmittags vier bis morgens um sieben sehr lange 15 Stunden. An Schlaf ist nicht zu denken, nicht mal ein Cowboy, der sich gewohnt ist, an Rodeos wild gewordene Kühe zu reiten, würde hier ein Auge zumachen. Niemand kann das, ausser man ist tot.
Aber die Fahrt hat erwartungsgemäss ihren eigenen Reiz. Irgendwie schweisst das gemeinsame Erlebnis zusammen, man fühlt sich einander nahe im gemeinsamen Leiden. Und es wird gelacht, geschwatzt, gegessen, getrunken. Zwei kurze Stunden lang ist es hell, dann versinkt die Sonne in einem tadellosen Untergang.
Ich realisiere kurz, dass ich bei ihrem erneuten Erscheinen immer noch in diesem vermaledeiten Zug sitzen werde. Und dann wird es dunkel, es wird kälter, nun beginnt die lange frostige Nacht … Es erinnert mich an eine andere legendäre Eisenbahnfahrt, es ist lange her, aber eingebrannt in mein Gedächtnis. Ich versuche mich zu erinnern …
November 1981 – Chile
Die Busfahrt von Antofagasta in die Atacamawüste verschafft mir einen ziemlich guten Eindruck dessen, was mich die nächsten Stunden erwartet. Man stelle sich den Mars vor, rötlich-bräunlich-gelblich, irgendwie verrostet, kein Lebenszeichen, keine Pflanze, einfach Steine, Sand und nichts weiter.
Der Bahnhof liegt irgendwo mitten in der Wüste, es ist so heiss, dass die Luft flimmmert.
Ausser zahlreichen Indios warten auch einige Travellers auf die Abfahrt des Zuges. Wie soll ich sagen, er entspricht nicht unserer Vorstellung eines Zuges, es ist mehr eine Art Güterzug für Reisende. Als Fenster dienen einfach vergitterte Öffnungen, durch die, nachdem sich der Zug endlich in Bewegung gesetzt hat, ein laues Lüftchen weht. Die Tatsache, dass sich alle Indios nach dem Einsteigen sofort sämtliche bereitgelegten Wolldecken unter die Nägel reissen, ist doch etwas irritierend. Wolldecken? Bei dieser Hitze?
Eine kalte Nacht
Ein paar Stunden später – der Zug hat nun die Atacamawüste hinter sich gelassen und strebt nun den höher gelegenen Gebieten zu, während es vor den Fenstern eindunkelt – wissen wir den Grund.
Mit jedem Meter, den wir höher fahren, scheint es ein Grad kälter zu werden, und Gott, es wird fürwahr eine der kältesten Nächte meines Lebens. Während sich die Indios grinsend in ihre Wolldecken lümmeln, versuchen die gelackmeierten Ausländer das Beste aus ihrer Situation zu machen. Man zieht sich alles über, was der Rucksack hergibt und steigt anschliessend sitzend in den Schlafsack.
Was aber nicht bedeutet, dass nicht trotzdem ein allgemeines Zittern und Zähneklappern durch den Wagen zieht. Der Anblick eines Travellers, entweder Masochist oder Dummkopf, sitzt die ganze Nacht im T-Shirt da, zur Marmorsäule erstarrt, der Blick verschleiert. Ich kann ihm nicht helfen, niemand kann es.
Dampfender Schweinekopf
Irgendwann wird es Morgen.
Ein Ami schält sich aus seinem Schlafsack. Wow, that was rough, Man. Oh ja, das war hart. Langsam – draussen taucht irgendwann ein riesiger Salzsee auf (ach ja, in der Nacht haben wir an der Grenze einen stundenlangen Halt eingelegt, wir sind also in Bolivien) – kehren die Lebensgeister zurück, der Magen meldet sich. Was gäbe es nun Schöneres als einen heissen Kaffee und ein Frühstück, irgendwas.
Und wäre unser Wunsch Befehl, taucht der Frühstückslieferant auf und trägt auf einem Tablet – einen dampfenden Schweinekopf.
PS Song zum Thema: Hammer – Train
Und hier geht die Reise weiter …