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Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Eine andere Schweiz

Murmelnde Geräusche wecken mich aus tiefer Ohnmacht. Der Blick auf die Uhr zeigt, dass ich zehn Stunden geschlafen habe, nicht überraschend nach der gestrigen Tortur. Aber heute soll es gemäss Wanderführer etwas gemächlicher gehen.

Von Trogen (AR) über zwei sanfte Hügel mit grossartiger Aussicht auf den Säntis, die Stadt St.Gallen, den Bodensee und das coupierte Appenzellerland in den weiten Talkessel von Appenzell mit seinen reich verzierten Bürgerhäusern.

Ein Klacks im Vergleich zu gestern.

 

Stage 2: Trogen - Appenzell
Etappe 2: Von Trogen nach Appenzell

 

Frühstück mit Leidgenossen

Das Murmeln dringt aus dem Zimmer neben meinem, seltsam.

Anyway, ich mache mich mit erstaunlicherweise kaum noch schmerzenden Gelenken auf zum Frühstück und tatsächlich, aus unerfindlichen Gründen wurde das Gästezimmer zum Frühstückszimmer umfunktioniert. Welchen Vorteil daraus im Vergleich zum viel grösseren normalen Gästeraum im Restaurant zu gewinnen ist, entzieht sich mir.

Auf jeden Fall sitzen bereits vier Personen eng zusammen am Tisch, darunter überraschend auch das Paar aus dem Zug (der Hund musste aber im Zimmer bleiben) und die beiden Biker. Die Wirtin, korpulent und freundlich und gesprächig, führt mich zu einem Einertisch, wo ein ziemlich opulentes Frühstück auf mich wartet.

Das Ehepaar ist tatsächlich auch auf dem Panoramaweg, allerdings nur ein paar Etappen bis Amden, dann steigen sie aus. Wir fühlen uns alle ein bisschen als Helden, vor allem ich, der die ganze Strecke absolvieren will. Ich meine in den ungläubigen Gesichtern allerhand Zweifel zu entdecken, ist es das Alter?

An ihrer Stelle hätte ich die gleichen Zweifel. Einer der Biker fragt doch tatsächlich, ob ich ein zweites Paar Wanderschuhe mitgenommen habe. Na ja …

 

Das Pestalozzi Kinderdorf

Die Wirtin erklärt mir die Route nach Appenzell, und so starte ich den zweiten Wandertag frohgemut und mit frischem Elan.

Der Weg führt schnell aus Trogen hinaus ins Grüne, der Tag ist so schön wie er nur sein kann. Man kann gar nichts anders als langsam gehen, die würzige Luft einatmen, das Glück spüren. Immer wieder tauchen schmucke Häuser auf, ihre Gärten voll blühender und duftender Blumen, eine einzige Augenweide.

Nicht weit oberhalb von Trogen liegt das Pestalozzi Kinderdorf.

Seit 1946 stehen Kinder und Jugendliche im Mittelpunkt der Tätigkeit dieses Hilfswerks. In zwölf Ländern weltweit ermöglicht die Stiftung benachteiligten Kindern den Zugang zu qualitativ guter Bildung. Im Kinderdorf treffen Schweizer Schulklassen auf Jugendliche aus Osteuropa. Ziel der Projektwochen ist es, Vorurteile abzubauen und mit kulturellen, religiösen und ideellen Unterschieden konstruktiv umzugehen (Wikipedia).

Das Kinderdorf wurde international bekannt. In den ersten zehn Jahren zählte es gegen 500’000 Besucher. Prominente Besucher waren unter anderem Konrad Lorenz, der 14. Dalai Lama, Auguste Piccard, Henri Guisan, Josephine Baker, Pablo Casals, Martin Buber, Königin Friederike und König Paul von Griechenland, Gustav Wyneken, Werner Bergengruen, Carl Jacob Burckhardt, Hermann Gmeiner. (Wikipedia)

Schon von weitem ist sichtbar, dass es sich um eine besondere Siedlung handelt. Der Zugang zu den Hauptgebäuden zeigt Tafeln mit Werken der Kinder, viele aus unterschiedlichsten Kulturkreisen und Sprachregionen, alle mit einem vergleichbaren Schicksal, Armut, Unterernährung, Benachteiligung.

Manchmal frage ich mich, wie diese Leute wie Pestalozzi oder Henri Dunant ticken. Irgendwas unterscheidet sie von uns. Etwas Entscheidendes. Vielleicht liegt es schlicht und einfach darin, dass sie ein Problem erkennen (so wie wir) und sich entscheiden, etwas dagegen zu tun (so wie wir nicht). Ihnen sollte für immer unser Respekt gelten.

Man muss nicht lange überlegen, um einzusehen, dass Pestalozzis Gründung dieses Hilfswerks für das Image der Schweiz weitaus wichtiger ist als der Reichtum, die Banken, die Sauberkeit, Roche und Nestlé und Glencore und alle anderen.

 

The Pestalozzi Children's Village

Die Werke sind wunderschön, man möchte die Kinder treffen, ihre Geschichte hören, ihnen alles Gute dieser Welt wünschen. Doch man bleibt ein Eindringling, man belässt es besser bei den Gedanken und Wünschen für eine bessere Zukunft dieser Kinder und Jugendlichen.

 

Paintings done by the children

Paintings done by the children 2

 

Der richtige und der falsche Weg

Erwartungsgemäss dauert es nicht lange, bis ich in einem tiefen, dunklen, morastigen Wald stehe und nicht mehr weiss, wo es weitergeht. Der Weg dahin war sorgenlos, entspannt, beinahe euphorisch, durch eine grüne saftige Landschaft die Hügel hinauf. Keine Schmerzen, Rücken und Knie haben sich für den Moment abgemeldet, ich werde es ihnen heute Abend mit einer weiteren Portion Voltaren vergelten.

 

this is definitely not the right path this one's better

Irgendwo ist also ein Fehler passiert, nur, wie komme ich hier heraus, ohne den ganzen Weg zurückzugehen? Ich kämpfe mich bis zum Ende des Waldes, anschliessend eine steile, bewachsene Wiese hinauf, worauf sich die eben noch vielgelobten Knie melden (wer mehr über meine blöden Knie wissen will, der schaue mal im Südamerika Blog nach).

Schwer schnaufend erreiche ich die Strasse, wo ein Bauer eben dabei ist, den Zaun zu flicken. Da ich die Vorliebe der Bauern für Trampeltiere durch ihre Wiesen kenne, entschuldige ich mich bei dem Herrn. Er lacht nur und zuckt die Schultern. „Nicht meine Wiese, ich flicke nur den Zaun.“ Na dann.

Ich gelange schliesslich hinauf auf die obersten Hügel, zum Ort mit dem Namen Hohe Buche, wo ich allerdings weder einen Baum noch eine hohe Buche finden kann. Dafür zwei Wegweiser mit der 3, die in unterschiedliche Richtungen zeigen. Damn it! Dass darf doch nicht wahr sein. Meine geliebten 3-er Wegweiser wollen mich veräppeln?

Immerhin steht in der Nähe ein Restaurant, wo ich mich nach dem richtigen Weg erkundige. Der Wirt lacht und kann es nicht fassen, dass die Wegweiser verschiedene Richtungen anzeigen. Nun, immerhin kennt er die richtige Abzweigung, und so geht es hügelabwärts, manchmal nicht überraschend auch aufwärts, dem Dorf Bühler entgegen.

Das Bänklein, gerade richtig für einen Schluck Wasser und etwas Süsses, liegt auf der anderen Seite eines Zauns. Neugierige Kühe verfolgen interessiert mein Picknick, kommen näher, wollen genauer wissen, was sich da in meinem Rucksack versteckt hält. Ach die Kühe, ich liebe sie unendlich, diese Furzmaschinen, Klimazerstörer, Methanabsonderer …

 

Curious cows

 

Dunkle Wolken

Das Gebräu am Himmel, das Sonne und gute Laune ins Verderben schickt, macht mir etwas Bauchweh. Sollte da ein Gewitter aufziehen? Was ich in diesem Moment noch nicht weiss, ist, dass dies der Beginn einer mehrtägigen Regenperiode sein wird. Manchmal, vor allem bei solchen Unternehmungen, ist es gut, die Zukunft im Dunkel zu belassen.

 

The clouds are getting darker
Die Wolken werden dunkler

Auf jeden Fall ist mein Einzug in Bühler, einem nachgerade schrecklichen Kaff, eher von Sorgenfalten begleitet. Ein Gewitter ist nicht das, was mein Herz in diesem Augenblick begehrt, also entschliesse ich mich, ein Restaurant zu suchen und den Regen abzuwarten. Ein Einheimischer mit leichtem Balkanakzent zeigt mir die Richtung, ich eile der Strasse entlang, während die ersten Tropfen auf das heisse Pflaster klatschen. Das Restaurant entpuppt sich als sehr geschlossen, und offenbar gibt es kein anderes.

Sollte sich das Wetter tatsächlich unangenehm entwickeln, werde ich die Bahn nach Appenzell nehmen. Der Bahnhof ist nahe, ein guter Platz für das Mittagessen und eine halbe Stunde Warten auf das Gewitter, das sich aber rar macht und nach Norden verzieht. Auch gut.

 

Junge Dame mit Labrador

Eigentlich ist der weitere Weg sehr angenehm, wären da nicht immer wieder die Streckenabschnitte, die auf Asphaltstrassen bergabwärts führen.

Immerhin gibt es gelegentlich eine hochwillkommene Abwechslung, heute in Gestalt einer jungen Dame, mit der ich ins Gespräch komme. Offenbar ist ihr Labrador derart voller Zecken, dass nur noch ein Gang zum Tierarzt helfen kann. Der Hund erhält ein paar Schmusestreicheleinheiten und beruhigende Worte meinerseits, dann verschwindet die Dame mit einem Tschüss und alles Gute in einem Wäldchen, das hinunter nach Appenzell führt.

Der Talkessel mit dem Hauptort Appenzell des Kantons Appenzell Innerrhoden liegt vor mir, doch die Strasse (natürlich eine Teerstrasse) ist ein Mühsal, und ich bin heilfroh, als endlich die ersten Häuser auf der Talsohle auftauchen. Und da ist auch schon Labrador mit Begleitung, der Arztbesuch bereits erledigt.

 

Appenzell

Von oben sieht Appenzell genauso aus wie vorgestellt. Ich muss zugeben, dass ich noch nie hier war, zwar in Luang Prabang oder Bogota oder Mandalay, aber noch nie in Appenzell. Warum das so ist, weiss ich nicht. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass in dieser Kleinstadt ein sehr seltsames Völklein lebt, störrische, eigensinnige Menschen, die gerne etwas tun oder denken oder entscheiden, was nicht dem allgemeinen Trend entspricht.

 

Appenzell from afar
Appenzell von oben – der Misthaufen steht nicht zufällig da

 

Das äussert sich in unterschiedlicher Weise. Beispielsweise mit dem Beharren der männlichen Bevölkerung, die Frauen von den politischen Prozessen auszuschliessen. Ich bin überzeugt, dass ohne die übergeordnete richterliche Instanz es heute noch kein Stimmrecht für die Frauen geben würde.

Und da ist das sogenannte Ständemehr. Für nicht eingeweihte Leser: die direkte Demokratie der Schweiz sieht vor, dass Referenden und Initiativen, die von der Bevölkerung angeschoben werden können und gleichzeitig Änderungen der Verfassung beinhalten, nicht nur eine Mehrheit der Volksstimmen, sondern auch eine Mehrheit der Kantone erreichen müssen.

Das ist eine Art Checks and Balances Politik nach Schweizer Art. Konkret bedeutet es, dass ein kleiner Kanton wie Appenzell mit ein paar tausend Einwohnern genau gleich viel Einfluss auf die Entscheidung hat wie der bevölkerungsreiche Kanton Zürich.

War dieses Verhältnis früher einigermassen stimmig, so stimmt das heute nicht mehr. Heute entspricht 1 Appenzeller ca. 150 Zürchern. Was natürlich zu Problemen führt und das Ständemehr immer wieder in Frage stellt. Um es abzuschaffen, gibt es allerdings ein kleines Problem. Dazu wäre ein Ständemehr notwendig.

Die Konsequenz: da der Kanton und mit ihm einige andere in der Zentralschweiz zutiefst konservativ sind, haben eher urbane, zukunftsgerichtete Vorlagen reduzierte Chancen, angenommen zu werden. Was natürlich zu Frust und Widerstand der eher progressiven Kantone und Einwohner führt.

Aber sehen wir mal, wie es tatsächlich aussieht in diesem störrischen kleinen Ort. Man sollte schliesslich seinen Gegnern immer zuerst in die Augen sehen, bevor man urteilt.

 

Appenzell – the real one

Eigentlich fühle ich mich vom ersten Augenblick an sehr wohl. Der Kaffee im Garten eines Restaurants am Eingang der Altstadt, serviert von einer sympathischen jungen Dame, trägt viel dazu bei. Aber es lässt sich nicht verleugnen, dass Appenzell ein touristischer Hotspot erster Ordnung ist.

Die Altstadt wimmelt von Touristen aus aller Welt (ich dachte, dass Corona die meisten vom Reisen abhält; offenbar habe ich da was nicht verstanden. Vorerst gilt es aber, mein Hotel zu finden, und da die Batterie meines Handys leer ist, muss ich auf altmodische Weise versuchen, die Adresse zu finden. Die junge Dame im Restaurant holt ihr eigenes Handy hervor, öffnet Google Maps und erklärt mir die Richtung. Besten Dank, aber wie schon oft habe ich nach ein paar Minuten die Richtungsangaben vergessen und muss jemand anderes um Hilfe bitten. Dieser junge Herr ist ebenfalls sehr hilfsbereit, nur dass er mich in eine ganz andere Richtung weist.

Aber was soll’s, auch blinde Hühner finden irgendwann ein Korn, und so stehe ich schliesslich vor dem Hotel Stossplatz (ein äusserst seltsamer Name), doch das Etablissement hat noch geschlossen. Ich bin aber nicht geneigt, noch einen einzigen zusätzlichen Meter zu gehen, also mache ich es mir vor dem Eingang bequem, bis die Dame des Hauses auftaucht und mir Einlass gewährt.

 

Appenzöller Chäs Spätzli mit Bölle

Man kommt in Appenzell natürlich drum herum, die wunderbaren bemalten Häuser zu bewundern. Dies dürfte einer der Hauptgründe für den touristischen Erfolg sein. Ich bin tatsächlich beeindruckt, aber nicht nur der Häuser willen, sondern der Atmosphäre in der Stadt. Obwohl ein ziemliches Gewusel herrscht, ist die Stimmung entspannt, freundlich, mit einem Schuss Schlauheit, der so gut zu diesem Volk passt.

Im Unterschied zu seinem Schwesterkanton Appenzell Ausserrhoden hat sich hier die Landsgemeinde erhalten. Der Landsgemeindeplatz scheint geradezu von demokratischer Urkraft zu atmen, auf jeden Fall vermeint man die früheren Herren des Universums ihre Hände (oder ist es das Schwert?) zu heben, um dem lästigen Frauenstimmrecht ein weiteres Mal den Garaus zu machen.

 

One of those wonderfully painted Houses in Appenzell

... and another one of many

Ich gönne mir – obwohl des Wetter wieder in Richtung Regen kippt – im Garten eines Restaurants eine Appenzeller Spezialität, die man nicht verpassen sollte. Appenzöller Chäs Spätzli mit Bölle. Zahlreiche Touristen, aber auch viele Einheimische spazieren vorbei, man grüsst sich, es scheint, als würde sich hier jeder kennen. Was wahrscheinlich auch so ist.

Dann endgültig Rückzug ins Hotel, es dauert nicht lange, bis Blitze die Nacht erhellen, und der Regen voller Wut und Kraft an meine Fenster schlägt, so dass ich sie schleunigst schliessen muss. Es sieht nicht gut aus für den nächsten Tag. Weitere starke Gewitter sind angesagt, und wenn ich an die Gratwanderung in Richtung Kronberg denke, wird mir etwas mulmig. Wenn ich etwas hasse beim Wandern, sind es Gewitter.

Aber mal sehen. Ich möchte schlafen, aber es scheint sich alles gegen mich verschworen zu haben. Zuerst ärgert mich eine Mücke im Zimmer, dann weckt mich der Donner wieder auf, schliesslich bin ich hellwach und denke an die anstrengende Etappe vom Samstag. Nach Mitternacht gebe ich auf und schlucke eine Schlaftablette, was mich am Morgen garantiert als schlafwandelnden Zombie wecken wird.

 

Song zum Thema:  Muse – Resistance

Und hier geht die Wanderung weiter … zur Chamhaldenhütte nahe der Schwägalp

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Die ersten Schritte

Seltsam.

Für ein paar Augenblicke taucht ein grüner Dschungel vor dem Fenster auf, kaum zu glauben, aber für ganz kurze Zeit ist weder ein Gebäude noch eine Strasse noch irgendein Zeichen der Zivilisation zu sehen. Ein seltener Anblick in unserem zugepflasterten Land.

Ich sitze im Zug in Richtung Bodensee, schaue mit immer noch müden Augen aus dem Fenster, bis Winterthur eine bekannte Strecke zur HWV (heute ZHAW genannt, Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften), damals ein wöchentlicher Ausflug vor eine Klasse gelangweilter Studenten. Sind irgendwelche Erinnerungen geblieben? Nicht viel.

Wenn ich von einem guten Schlaf sprechen wollte, wäre er entschieden anders als die mühsamen 5 Stunden der vergangenen Nacht. Was mich überrascht, denn normalerweise schlafe ich auch vor langen Reisen wie ein Baby. Es muss wohl etwas damit zu tun haben, dass ich diesmal alles andere als sicher bin, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Anyway, auch wenn das Omen ein schlechtes gewesen sein sollte, so bin ich trotzdem mit Vorfreude und einem schweren Rucksack auf dem Weg. Keine Ahnung, ob ich diese Strecke schon mal gefahren bin, die Ostschweiz ist bis anhin eher selten auf meiner Reiseliste gestanden. Auf jeden Fall geniesse ich die letzten Stunden in sitzender Stellung, denn dieses Privileg wird in den nächsten Wochen ein eher seltenes Phänomen sein.

 

Der heutige Plan

Die Angaben in der schweizmobil Plattform sind klar und unmissverständllich:

Da wartet also bereits am ersten Tag eine ziemliche Herausforderung. Aber mal sehen, wie heiss die Suppe gegessen wird …

 

Stage 1: from Rorschach to Trogen
Etappe 1: von Rorschach nach Trogen

 

Die ersten Schritte (von geschätzten 800’000)

Dann nochmals ein Zugwechsel, die Züge werden immer kleiner, die Passagiere weniger, und so bin ich für kurze Zeit beinahe allein im Abteil. Neben mir hat sich ein Paar mit einem ziemlich grossen Hund breit gemacht. Sie sehen aus wie Wanderer, auf jeden Fall trägt der Hund sein eigenes Gepäck umgeschnallt. Der Herr des Hauses spricht an seinem Handy englisch, es klingt nach sehr wichtigen Problemen. Für ihn ziemlich weltbewegend, den anderen (auch der Ehefrau) entlocken sie im besten Fall ein müdes Lächeln.

Dann Rorschach am Bodensee. Und wieder keinen blassen Schimmer, ob ich schon mal da war. Der See spiegelt einen grauen Himmel, durchzogen mit blauen Einsprengseln, vielleicht gibt es doch noch einen sonnigen Tag. Was mir sehr entgegenkommen würde. Ich nehme zum ersten Mal die Karte zur Hand und befinde mich – hurra – auf dem Alpenpanoramaweg.

Das grüne Schild mit der Nummer 3 und der Bezeichnung Alpenpanoramaweg wird mich nun begleiten, als Führer, als Wegweiser, als Begleiter durch Stock und Stein, als Fluchtort, wenn alle Richtungen unklar sind. Was ich noch nicht weiss, ist die tiefe Verbundenheit mit diesem blöden Schild, die sich im Verlauf der Wanderung ergeben wird. Aber dazu sehr viel mehr später …

Auf jeden Fall vergesse ich, das allererste Schild zu fotografieren, aber voilà, das hier ist das zweite, kurz bevor der Weg zum ersten Mal ansteigt. Nicht zum letzten Mal, wie man annehmen darf …

 

Endlich Wald, Wiesen, Natur

Die ersten Schritte führen durch bewohnbares Gebiet, man grüsst mich beiläufig, offenbar sind schwerbepackte Wanderer kein seltenes Phänomen. Oder entdecke ich da ein leises mitleidiges Grinsen im Gesicht des Mannes, der den Hund spazieren führt? Egal.

Und siehe da, das Ehepaar mit dem Hund scheint tatsächlich den gleichen Weg zu nehmen. Sieht doch schon mal gut aus. Ich bin nicht der einzige Spinner.

 

Path leading upwards
Endlich der erste Wanderweg

Und dann bleibt Rorschach hinter mir zurück, es geht aufwärts, die erste Abzweigung auf eine Wiese, die steil hinauf direkt in den Wald führt. Nun erlebe ich zum ersten Mal das, worauf ich mich gefreut habe – Waldwege, schattig, nach Tannen und Kräutern riechend, manchmal steil, dann wieder eben, abwechselnd schweisstreibend und wieder entspannend.

 

through dense forest

Der See blickt ein letztes Mal herauf, blinkend, ganz blau, immer kleiner werdend. Manchmal ist die Schweiz wirklich eine Postkartenidylle.

Schön. Einfach nur schön.

 

Just beautifil, the lake in the background

 

Und schon fehlt der Wegweiser

Es dauert tatsächlich nicht lange, bis ich etwas verloren (nicht das letzte Mal) vor einer Kreuzung stehe. Kein Wegweiser, es gibt zwei Optionen rechts oder links. Ich hasse das, denn meine Erfahrung zeigt, dass wenn ich auf meine Intuition zähle, es garantiert schief geht. Ein älteres Ehepaar, stockbewaffnet, aber mit leichtem Gepäck unterwegs, leistet Hilfe. Danke schön!

Das erste Zwischenziel Wiehnachttobel taucht in der Ferne auf. Ein eigenartiger Name. Während des Wanderns hat man viel Zeit, über Dinge nachzudenken, die einem normalerweise total schnuppe sind. Beispielsweise über diesen seltsamen Namen. Hat das was mit Christi Geburt zu tun? Ist Jesus möglicherweise gar nicht in Bethlehem, sondern in diesem winzigen Kaff geboren worden? Und keine Seele hat davon Kenntnis? Man müsste den Papst darüber informieren, aber eben, das sind diese komplett blödsinnigen Gedanken beim Wandern.

Ich hoffe auf sinnvollere Überlegungen im Verlauf des Weges.

Selbstverständlich fehlt im Dorf schon wieder der Wegweiser, und wieder ist das Ehepaar zur Stelle. Wir gehen eine halbe Stunde gemeinsam weiter, während ich von meiner geplanten Wanderung schwärme (was den beiden ein kritisches Grinsen entlockt) und sie als Entgegnung von einer eigenen, sehr besonderen Wanderung erzählen. Sie haben es geschafft, sämtliche Kantonshauptorte zu durchwandern, ohne ein einziges Mal eine Strecke zu kreuzen. Eine über mehrere Jahre in Etappen erfolgte Wanderung, eher ein logistisches als ein anstrengendes Unternehmen.

 

Heiden

Die Sonne ist nun ein brennendes rundes Ding am Himmel, der Rucksack wird schwerer, doch der Spirit ist da.

Eine Verzweigung. Nach meiner Karte müsste der Weg nach Heiden rechts abbiegen, aber das Ehepaar rät mir, den linken, offenbar kürzeren Weg zu nehmen. Okay, warum nicht. Allerdings führt die Asphaltstrasse den Hang hinunter, Kuhglocken begleiten mich, und schon bald frage ich mich, ob mich die beiden loshaben wollten. Wer will es ihnen verübeln.

 

My first Bench, just wonderful

Der Weg führt in eine tiefe Schlucht hinunter und logischerweise ebenso schweisstreibend wieder hinauf. Immerhin ist da ein Baum, ein Bank, ein Plätzchen für das erste Picknick. Das erste von zahlreichen weiteren, die folgen werden.

Dann erreiche ich Heiden, nun mitten im Herz des Appenzellerlands, genau richtig für einen wohlverdienten Kaffee. Meine beiden Bekannten haben das Dorf ebenfalls erreicht, grüssen beim Vorbeigehen.

Allzu viel weiss ich nicht über das sogenannte Biedermeierdorf, offenbar wegen seines klassizistischen Ortskerns (den ich aber nicht entdecken kann; möglicherweise fehlt mir dazu die klassizistische Ausbildung). Es ist vor allem bekannt als Kurort. Viele Leute sind nach einem Herzinfarkt hier gelandet, um in der bezaubernden, vor allem wahrscheinlich unglaublich langweiligen Umgebung, ihre Pumpe wieder auf Vordermann zu bringen.

Wahrscheinlich gäbe es noch einiges zu sagen über das wirklich schöne Dorf, aber der Wanderer muss weiter.

 

Der Kaienspitz

Es geht nun aufwärts, dem Kaienspitz entgegen, der höchsten Erhebung des heutigen Abschnitts. Der Aufstieg ist lang und mühsam, wenn auch die Anstrengung durch ein leichtes kühles Lüftchen gemildert wird. Ich kreuze einen seltsamen Bauernhof mit Hunden, frei laufenden Ziegen, Gänsen, Hühnern und wohlig grunzenden Schweinen, die mir einen gelangweilten Blick zuwerfen.

 

Landscape overlooking lake of Constance typical Appenzeller houses

Während einer der Hunde begeistert an meinen Beinen hochspringt und dafür eine Portion Streicheleinheiten erhält, grüsse ich eine junge Frau, die offenbar zum Hof gehört, aber nur gebrochen Deutsch spricht. Wenn es heutzutage noch von Hippies bewirtschaftete Höfe gibt, dann muss das einer davon sein. Leider macht das Girl einen scheuen und abweisenden Eindruck, sonst hätte ich nachgefragt. Es sind ja genau diese Begegnungen, die das Wandern so besonders machen.

Der Kaienspitz entpuppt sich als wunderbarer Aussichtspunkt für die ganze Umgebung. Der Blick streift bis weit nach St. Gallen und Wil hinaus, will sich gar nicht mehr lösen von der hinreissenden Landschaft.

 

Allerdings geht es anschliessend genau so steil abwärts wie vorher aufwärts, und zum ersten Mal melden sich meine Knie, die die ungewohnte Anstrengung offenbar alles andere als angenehm empfinden. Habe ich erwähnt, dass am Tag vor der Abreise mein rechtes Knie bei einer dummen Bewegung im Garten arg gezwickt hat? Es hat mir einige Sorgen bereitet, aber bis zum Abstieg vom Kaienspitz habe ich dies erfolgreich verdrängt.

Nun, sie werden sich wohl oder übel daran gewöhnen müssen, sind wir doch erst ein paar wenige Stunden unterwegs. Ich versuche also, langsam und vorsichtig zu gehen, bemüht, die Belastung möglichst gering zu halten.

 

Rehetobel

Dann Rehetobel, und schon der nächste Fehltritt im übertragenen Sinn. Man folgt – gemäss Karte – der Asphaltstrasse ins Dorf hinunter, oder man könnte doch, wie ich spekuliere, einem schmalen Pfad dem Abhang nach ans Ziel gelangen. Aber eben, Lektion Nummer eins, man folge der Karte und nicht der eigenen, meist falsch liegenden Intuition.

Auf jeden Fall führt der Weg anfänglich wie gedacht einer duftenden Wiese entlang bis zu einem Baum, der unbedingt fotografiert werden will. Er öffnet den Blick auf Rehetobel und scheint auch sonst ein Exemplar besonderer Baumschönheit zu sein.

 

View to Rehetobelproud tree, with afternoon sun

Leider entpuppt sich die von mir gewählte Variante als ziemlich blöd, weil ich einen grossen Umweg durch steil abwärts führenden Teerstrassen nehmen muss, die meinen lädierten Knien empörte Aufschreie entlocken. Ansonsten gibt es zu diesem Dorf nicht viel zu sagen, es macht den Anschein, dass hier wohlhabende Leute wohnen, die zahlreichen SUVs und die stillen Strassen, die nach Schlafdorf riechen, zeugen nach Geld, viel Geld.

 

Das elende Chaschtenloch

Wenn mich nichts täuscht, entdecke ich auf dem gegenüberliegenden Hang das Tagesziel Trogen. Mit neuem Elan mache ich mich an das letzte Teilstück, genannt Chaschtenloch. Anfänglich ist nicht viel von einem Loch zu sehen, obwohl der Weg immer weiter nach unten führt und der Abhang zu Trogen hinauf immer steiler erscheint.

Der Weg ist aber leider nicht so nett, wie ich sie liebe, sondern steil und mühsam. Immerhin durch schattige Wälder, dann wieder entlang blühender Wiesen, die das Gehen dazwischen zu einer einzigen Freude machen.

 

Walk through blossoming meadows

Allerdings, sobald die Talsohle bei einem munter sprudelnden Bach erreicht ist, beginnt ein Aufstieg, der es in sich hat. Ich habe der Wirtin des Hotels Schäfli versprochen, sie anzurufen, wenn ich in der Nähe bin, sie weist mich darauf hin, dass ich den letzten Aufstieg nach Trogen langsam angehen soll.

Es hätte diese Warnung nicht gebraucht, denn nach bald 7 Stunden ist der Level meiner Batterie in den roten Bereich gerutscht. Mamma mia! Es handelt sich um eine an sich breite, aber äusserst steile Naturstrasse, ohne Stufen, ohne irgendwas, was den Tritt einfacher machen könnte, also mühe ich mich schwer atmend, schwitzend und fluchend den Abhang hinauf, muss mich dazwischen mal in den Klee fallen lassen, um den Puls auf ein normaleres Level zu bringen.

Der Rucksack scheint nun tonnenschwer zu sein, in ganz schwachen Momenten frage ich mich, warum ich mir das antue. Wird aber nicht das letzte Mal sein.

 

Trogen

Nicht mal mehr fluchend (dazu fehlt mir die Puste), nur noch keuchend erreiche ich schliesslich den alten Landsgemeindeort, wo abwechselnd mit Hundwil bis in die 90-er Jahre die Landsgemeine stattfand. Lange vorbei, schade wie mir scheint, aber es haben wohl einige schwerwiegende Faktoren dazu beigetragen (z.B. auch die Wahlen, die im Unterschied zum Kanton Glarus auch anlässlich der Landsgemeinde durchgeführt wurden).

Das Hotel Schäfli hat heute Ruhetag, also muss ich der Hausherrin per Handy meine Ankunft bekanntgeben. Zwei Biker, die einen Teil des Panoramawegs mit den Mountainbikes absolvieren wollen, sind gleichzeitig eingetroffen, und so okkupieren wir gemeinsam das alte Hotel, dessen Vergangenheit aus allen Ritzen zu dringen scheint. Aber das Zimmer ist okay, mehr brauche ich eigentlich nicht für die nächste Nacht.

Was allerdings erstaunt, ist die Tatsache, dass es neben dem Schäfli, das geschlossen hat, noch ein einziges Restaurant im ganzen Dorf gibt, das geöffnet ist (heute zum ersten Mal seit der Coronapandemie). Ich sitze also kurze Zeit später geduscht und mit schmerzenden Knien im Outdoorbereich des Restaurants vor einem Bier. Es ist nicht nur das erste und wohlverdiente, sondern auch das erste in einer langen Reihe von ebenfalls wohlverdienten Bieren.

Eigentlich bin ich bereits zum zweiten Mal hier, aber auch heute Abend erscheint mir das Dorf zwar architektonisch eine Augenweide zu sein, aber ansonsten so tot wie ein Dorf nur sein kann. Ich stelle mich nach dem Essen auf den grossen Platz, wo früher die Landsgemeinde stattfand, und warte auf Leben. Aber da ist nichts. Keine Menschenseele, kein Laut ausser Vogelgezwitscher, nicht mal ein Auto oder ein Motorrad. Ein seltsames Gefühl macht sich breit.

 

typical architecture in Trogen

With the famous tavern signs

Was ist hier geschehen? Ist es wie der Niedergang vieler Gemeinden in dieser Grössenordnung, die den Jungen keine Zukunft bieten und langsam aber sicher einem sanften Schlaf entgegendämmern?

Mit diesem etwas traurigen Gedanken mache ich mich auf, meine müden Gelenke (mit grosszügigen Spenden von Ibuprofen und Voltaren) und alles Dazugehörige flach zu legen. Es ist noch hell vor dem Fenster, als ich mich aufstöhnend hinlege, in Gedanken bereits beim morgigen Tag, der die nächsten Herausforderungen bereit hält …

 

Song zum Thema:  The Prodigy – Firestarter

Und hier geht der Trail weiter … nach Appenzell