Es ist früh in Hemis Shukpachen. Ich bilde mir ein, frisch gebackenes Brot zu riechen, obwohl ich weiss, dass es zum Frühstück allerhand Köstlichkeiten zu essen werden gibt, aber ganz sicher kein frisch gebackenes Brot.
Der Morgen ist schön. Die Blumen auf dem Dach riechen frisch und grün. Irgendwo pfeift ein Vogel. Piep piep piep. Gibt es da oben in dieser Einöde überhaupt Vögel? Ich kann mich nicht erinnern.
Man wartet auf die Gäste. Es sind nicht viele heute morgen. Man setzt sich auf die niedrigen Matten auf dem Boden, stöhnt ein bisschen dabei, streckt die Beine, sippt am süssen Kaffee, isst entspannt die versprochenen Köstlichkeiten, will sich nie mehr erheben, nur noch verweilen auf den unbequemen Kissen.
So ist das Leben, wenn es schön ist.
Ein weisser Punkt in der Ferne
Der Wirt meint, als er mich verabschiedet: „Es ist nicht weit. Und der Weg ist gut.“
Das ist vertrauenerweckend. Obwohl es gar nicht weit genug sein kann. Es sollte so weitergehen, immer weiter. Umgeben von Steinen und Felsen, einem Himmel in allen Schattierungen von Blau, einigen Wolken, die aussehen, als wären sie die Wächter der Berge.
Von weit her grüsst ein weisser Punkt. Er weist mir die Richtung. Ich bleibe immer wieder stehen, atme die trockene Luft ein, sie riecht nach Staub und toten Pflanzen. ich mag es, wenn der Horizont näher zu kommen scheint, obwohl er immer weit weg ist.
Überreste von Irgendwas und Toiletten im Nirgendwo
Und da taucht unvermittelt eine Ruine auf. Es scheint sich um die Überreste einer Mauer zu handeln. Oder ist es ein ehemaliger Chörten? Die Phantasie macht Luftsprünge und wird trotzdem nicht fündig. Man fragt sich, welchen Zweck sie erfüllte. Eine Mauer in dieser gottverlassenen Gegend? Wofür? Dass es Chörten an allen möglichen und unmöglichen Orten gibt, ist bekannt, aber hier?
Aber der heutige Weg hält weitere Überraschungen bereit. Man erinnere sich an die Abfall-Trennanlage etwas weiter unten. Hier ist es eine Toilette im Niemandsland. Inmitten des Nichts stehen zwei viereckige Blechkästen, von weitem schwierig zu identifizieren, ausser Nähe ganz klar – zwei Toiletten.Natürlich streng getrennt nach Gents und Ladies. Und dem Hinweis: Keep clean!
Man kann sich vorstellen, dass einmal wöchentlich eine Putzequippe hier herauskommt und für Ordnung sorgt und die Anlage sauber hält. Oder ist die Vorstellung zu absurd, um wahr zu sein?
Gebetsfahnen
Man fühlt sich begrüsst, wenn die Gebetsfahnen flattern. Sie sind auch eine Art Wächter an diesem einsamen Ort. Der Draht zum Himmel. Wo der Wind die Gebete zum Himmel trägt. All diese Wünsche, diese Klagen. Als gäbe es irgendwo eine Instanz, die sich dafür interessiert. Und trotzdem geht eine seltsame Beruhigung von ihnen aus. Wie schon William Shakespeare seinen Hamlet im 1. Akt, 5.Szene zu Horatio sagen lässt: “There are more things in heaven and earth, Horatio, Than are dreamt of in your philosophy.”
Who knows …
Nur noch Stein und Fels und Stille
Aber dann kommt eine ganze Weile nichts mehr. Nur noch Stein und Fels und Stille …
Gibt es irgendwo auf der Welt eine Gegend, die noch abweisender, noch lebensfeindlicher zu sein scheint?
Vielleicht die Sahara. Oder die Gobi. Die Taklamakan in China. Der Nordpol. Oder die Antarktis.
Es ist ein Ort, der einfach nur leer ist. Eine braune, graue, manchmal gelbrote Wüste. Es könnte auf dem Mars sein. Oder auf einem anderen leblosen Himmelskörper, der irgendwo in den Tiefen des Alls schwebt.
Und trotzdem fühlt man sich auf sonderbare Weise wohl.
Sehr seltsam.
Der letzte La – gar nicht Baby-like
Auch wenn Puls und Lungen und Beine es zulassen würden, möchte man nicht schneller gehen. Auf keinen Fall. Zu unterschiedlich zu allem, was man kennt, ist diese Gegend. Man bleibt immer wieder stehen, um Luft zu holen oder die Phantasie der Natur zu bewundern, aus langweilen Grundtönen Farben in allen Nuancen zu kreieren. Eine Palette, die ein sehr begabter Maler geschaffen hat.
Der Weg ist von weitem zu erkennen. Er führt gemächlich den Neigungen des Hanges entlang, eine scheinbar endlose Diagonale, in den Berghang geschnitten, wo sie ganz oben am Horizont verschwindet. Es ist so still geworden, dass man das eilige Schlagen des Pulses zu vernehmen glaubt.
Es ist der letzte Pass, der letzte La …
Die Passhöhe
Und dann erreicht man den obersten Punkt, irgendwo auf über 4000 Metern. Die Luft ist dünn geworden, dafür riecht sie anders als jede andere Luft. Irgendwie voll von etwas, was schwierig zu beschreiben ist.
Ich stehe über einer schimmernden Welt und fühle mich – wie soll ich es ausdrücken? – einfach nur glücklich. Man steht sozusagen mitten in einer von der Natur geschaffenen Leinwand. Man ist Teil eines Kunstwerks, ein völlig unwichtiger Teil natürlich.
Der Hügel
Ein Hügel unweit der Passhöhe. Yoko, die zierliche Japanerin, begleitet mich. Gegenseitige Fotos oder Selfies. Eine Notwendigkeit. Denn die Aussicht von hier oben ist schlicht atemberaubend. Ringsherum glänzen hohe und höchste Berge in der Sonne, umschleiert von zartem Gewölk, dazwischen wie scharfe schwarze Einschnitte abgelegene Täler.
Zurück auf der Passhöhe, wo man sich ein bisschen stolz über die Leistung verpflegt und zur Feier des Tages einen tiefen Schluck sandiges Wasser trinkt.
Und hoppla, nach zwei Tagen taucht unerwartet meine chinesische Freundin Chin auf; sie erzählt von anspruchsvollen Zusatzschleifen zu Klöstern und alternativen hohen Pässen. Tja, etwas jünger müsste man sein …
Die letzten Meter
Der Abstieg zu letzten Dorf auf dem Plan, Tingmogang, ist einfach und eigentlich viel zu schnell, denn es sind meine letzten Meter. Weit unten sind Häuser zu erkennen, doch auf dem Weg taucht unerwartet ein Rastplatz auf, ein winziges Restaurant mit Plastikstühlen um kleine niedrige Tische. Aber der Kaffee ist grossartig, ebenso alles andere, was die schüchterne Wirtin anzubieten hat.
Tingmogang
Wir nähern uns dem Dorf, doch immer wieder bleibt man stehen und wundert sich über weit abseits stehende Kunstwerke, deren Sinn und Zweck unklar bleibt. Ist es eine Grabstätte? Ein Tempel? Ein Chörten?
Eigentlich ist es egal. Doch man glaubt zu spüren, dass es etwas Besonderes sein muss …
Und dann tauchen die ersten Häuser auf. Unsere Gruppe ist auf eine stattliche Grösse angewachsen, es ist nicht ganz einfach, eine Unterkunft zu finden. Doch mit Hilfe einiger Dorfbewohner landen wir schliesslich in einem geradezu mondänen Guesthouse. Jedes Zimmer besitzt sogar ein eigenes Badezimmer. Was für ein Luxus! Man ist beinahe etwas beschämt.
Das Guesthouse
Für einmal schwelgt man sozusagen im Luxus. Der zum Guesthouse gehörige Garten ist riesig. Stühle und Tische unter Schatten spendenden Bäumen und Sträuchern laden zum Verweilen ein, beobachtet durch einige ältere Leute, die uns misstrauisch beäugen. Ihrem Gesichtsausdruck könnte man entnehmen, dass wir im Grunde genommen Störenfriede sind. Aber wenn man sie anspricht, erhellt ein Lächeln ihre Gesichter, und alles ist gut.
Beim Nachtessen begegnen sich eine Menge alter Bekannter, darunter auch Yoko und Chin. Und drei lustige junge Schwestern aus Deutschland, Judith, Sarah und Hannah.Ein Paar aus Östereich. Zwei Bayern, mit denen ich einen grossen Teil der heutigen Etappe gegangen bin.
Und einmal mehr ist das Essen grossartig, auch wenn einige Gäste gar nicht dieser Meinung sind.
Auf jeden Fall wird es ein langer Abend, will heissen dass wir nach neun (!!) immer noch hellwach sind, bis wir endlich merken, dass Wirt und Wirtin längst kleine Augen haben und gerne ins Bett gehen würden. Na dann halt …
Und hier geht die Reise weiter … Zurück nach Leh