Schon beim Aufwachen ein Verdacht. Dies könnte die letzte „normale“ Etappe sein. Es ist ein gleichzeitig befreiendes wie auch verstörendes Gefühl. Sollte mein Abenteuer heute zu Ende gehen? Ich bin etwas ratlos, aber ein leerer Magen nach einer Nacht in einem sibirischen Eisschrank ist selten ein guter Ratgeber und noch seltener ein Stimmungsaufheller.
Tatsache ist, dass mein Schienbein gestern Abend einen ziemlich schlimmen Eindruck gemacht hat. Geschwollen, heiss, schmerzend. Keine guten Aussichten für den Rest der Wanderung. Aber ich kann es ja mal versuchen. Das ewige Mantra der Berufsoptimisten – es wird schon irgendwie gut gehen …
Aurelius Augustinus (354-430) meinte dazu: Besser auf dem rechten Weg hinken, als festen Schritts abseits wandern.
Und so eile ich einmal mehr durch die düsteren Gassen von Xunqueira de Ambia in Erwartung eines opulenten Frühstücks. Immerhin ist der Hund verschwunden, ich hoffe für ihn auf einen trockenen und warmen Platz im Haus.
Von Xunqueira nach Ourense
Dann verfrachte ich also vielleicht zum letzten Mal meinen Rucksack auf den Rücken, packe die Stöcke und lege los. Es herrscht immer noch das Halbdunkel der Morgendämmerung, niemand zu sehen, Samstag, man geniesst den freien Morgen. Ah doch, ein Frühaufsteher, Bom Caminho, ich grüsse zurück.
Die Etappe ist mit knapp über 20 Kilometern gut zu bewältigen, der Input von Ibuprofen wird helfen, die erste Hälfte ohne Schmerzen zu überstehen, was nachher folgt, bleibt abzuwarten.
Galizien pur
Dass ich in Galizien bin, wird nicht nur durch das kühle und regnerische Wetter nachgewiesen, sondern auch durch eine spürbare Verbindung zu seinem berühmtesten Heiligen, dem heiligen Jakob.
Wegweiser sind nicht einfach Wegweiser, es sind kleine Kunstwerke am Wegrand, verziert mit Muscheln, manchmal mit Heiligenbildern. Man bleibt unwillkürlich stehen, staunt über die Leute, deren Verehrung so gross ist, dass kein Aufwand zu gross ist, um dem grossen Heiligen Tribut zu zollen.
Da ich selbst unter einem erheblichen Mangel an Frömmigkeit ausgestattet bin, bleibt es bei etwas spöttischer Verwunderung über diese geradezu mittelalterliche Vergötterung. Aber immer, wenn etwas nach Frömmigkeit riecht, spielen Geschäftstüchtigkeit und Geldgier eine nicht zu unterschätzende Rolle. Beispiele gibt es weiss Gott genügend. Man denke nur an Einsiedeln.
Allerding muss ich zugeben, dass ich als Wanderer, hier in Galizien natürlich als Pilger wahrgenommen, mit geradezu einschüchterndem Respekt und Wohlwollen behandelt werde. Es werden sogar Sitzbänke für den müden Peregrino bereitgestellt (Banco Peregrino). Ich fühle mich gebauchpinselt.
Bom Caminho
Und noch eine weitere Komponente weist auf eine andere Kultur hin, die Sprache. Hier wird Gallego gesprochen, eine dem Portugiesischen verwandte Sprache, also nicht mehr das harte, schnelle, aggressive Spanisch, sondern das weiche, warme Gallego. Und so wird man halt nicht mehr mit „Buen Camino“, sondern mit „Bom Caminho“ begrüsst.
Weniger Bom Caminho ist die Tatsache, dass der Weg nun immer wieder am Strassenrand entlang führt. Die Autofahrer sind zwar nett, was aber nicht verhindert, dass man gelegentlich von einer Ladung Dreckwasser erwischt wird.
Die Meldungen von Zhilin und Frank zeigen unterschiedliches Vorankommen: Während Zhilin bereits in Santiago angekommen ist (dreimaliges Hurra), befindet sich Frank noch ziemlich weit zurück. Er klagt – wer nicht – über schlechtes Wetter und unzulässige Regenklamotten. Ich wünsche ihnen beiden gute Erholung oder Bom Caminho und besseres Wetter.
Cafés und Bars
Eigentlich, wenn das Wetter nicht wäre, könnte man von einer eigentlichen Genussetappe sprechen. Im Unterschied zu früheren Etappen – man denke nur an die Extremadura und deren endlose Etappen ohne die geringste Abwechslung – gibt es hier in Galizien an jeder Ecke ein kleines Café oder zumindest eine Bar (überraschenderweise meistens geöffnet). Man merkt die unterschiedliche Kultur, natürlich eine direkte Folge des Klimas, das nicht nach Siestas in der mittäglichen Hitze verlangt.
Und so sitze ich also immer wieder an einem Tisch, lasse mich neben dem Kaffee durch allerlei unbekanntes Gebäck überraschen. Die Wirtsleute sind durchs Band freundlich und fragen den etwas müden Wanderer nach dem Befinden. Natürlich verschweige ich tapfer meine Beschwerden, verweise auf die kurze Strecke vor mir und bin ganz stolz, wenn man mir ein anerkennendes Nicken schenkt.
Der Versuch einer Erklärung
Es geht permanent auf und ab, während sich die Landschaft rechts und links des Caminos kaum ändert, grün, saftig, eine raue feuchte Welt. Auf dem Weg überlege ich mir heute mehr als an den vorhergehenden Tagen, was eigentlich die Quintessence dieser langen Wanderung ist. Vielleicht gibt es keine. Es ist einfach eine Wanderung, länger als alle anderen, heisser, anstrengender, mehr als zuvor bis an die Grenze des Erträglichen gehend. Ich zitiere einen unbekannten Autor, der möglicherweise ähnliche Erfahrungen gemacht hat hat:
Outside the comfort zone is where the magic happens!
Besser kann man es nicht sagen. Es hat mit Magie zu tun, mit allem, was geschieht, wenn man seine alltäglichen Gewohnheiten hinter sich lässt. Wenn man, banal formuliert, einfach losmarschiert, dem Horizont entgegen. Es muss nicht die Via de la Plata sein oder der Pacific Crest Highway von Mexiko bis Kanada. Oder die unzähligen anderen Fernwanderungen durch bewohnte oder unbewohnte Gebiete der Erde.
Es hat damit zu tun, etwas Bekanntes, Sicheres hinter sich zu lassen und sich etwas Unbekanntem, Unsicherem zuzuwenden. Nicht mit Angst, sondern mit Respekt und der Gewissheit, dass es den Versuch wert ist. Es nicht zu versuchen, ist der grösste aller Fehler im Leben. Einzusehen, wenn man auf dem Totenbett liegt, was man alles verpasst hat. Weil man es nicht versucht hat.
Das ist alles. Denn es zu versuchen, das ist die Magie, die ich meine.
Die letzten Kilometer
Ich komme erstaunlich schnell vorwärts. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich das Ziel möglichst schnell erreichen will, der Grund dafür dürfte klar sein, denn die Wirkung der Medikamente ist längst verflogen.. Ourense ist von weitem erkennbar, offenbar auf einer Anhöhe gelegen. Die Nähe der Stadt wird schon viele Kilometer davor spürbar. Der Verkehr nimmt zu, die Strassen werden breiter.
Nach Seixalbo, einem Vorort von Ourense, tauchen die ersten Häuser von Ourense auf. Und gleichzeitig beginnt es zu tröpfeln. Der Regen hat sich heute, wohl ein Abschiedsgeschenk des Wettergottes, ziemlich rar gemacht, doch für die paar letzten Kilometer muss er mich noch einmal tüchtig ärgern.
Der Weg führt endlos durch irgendwelche gesichtslosen Vororte, nichts, was eine Erwähnung lohnen würde. Es scheint, dass die Hässlichkeit der Umgebung sich mit den zunehmenden Schmerzen in meinem Bein paaren würde. Das Zentrum der Stadt, wo ich mein Hotel zu finden hoffen, muss erlaufen werden.
Ourense
Die Trottoirs sind voll, es ist Samstag, auch Regen lässt die Leute nicht davon abbringen, durch die Strassen und Gassen zu flanieren. Die Stadt ist viel grösser als erwartet. Was eigentlich falsch ausgedrückt ist, denn ich habe eigentlich nichts erwartet, weil ich schlichtweg nichts wusste.
Später muss ich nachlesen, was ich alles verpasst habe. Also, die Stadt hat etwas über 100’000 Einwohner, ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, besitzt – wenig überraschend – eine Kathedrale und zahlreiche Kirchen und Klöster. Also eine Hochburg frommer Gesinnung.
Es muss die Nähe von Santiago sein, vielleicht aber auch nur eine ähnliche Geschichte, die wie üblich von den Römern gegründet, dann von verschiedenen Völkern belagert, zerstört, wieder aufgebaut wurde. Nichts Neues unter der Sonne.
Zum Hotel kann, nach modernen Gepflogenheiten, der Zugang nur mit Passwort gefunden werden. Das Etablissement ist ganz in Ordnung, etwas steril, denn ich werde die ganze Zeit meines Aufenthalts weder jemanden vom Hotel noch andere Gäste zu Gesicht bekommen. Auch gut, mein Bedarf an sozialen Kontakten beschränkt sich derzeit auf ein Minimum.
Immerhin genehmige ich mir am späteren Nachmittag einen hinkenden Ausflug zur bevölkerten Einkaufstrasse hinauf, suche vergeblich nach etwas Interessantem (z.B. einer Kathedrale), doch ausser überraschenden Rolltreppen den Hang hinauf (sehr willkommen für meine Beine) finde ich nur eine Bar mit Kaffee und Kuchen.
Und am Abend, kaum zu glauben in einer so grossen Stadt, suche ich nach einem Restaurant, doch entweder sind sie noch geschlossen oder bereits ausgebucht (Samstagabend!), und so lande ich in einer vermeintlichen Pizzeria, die sich aber als „Pizza to go“ auf spanisch entpuppt. Mein Hunger ist zu gross, um dem doch verführerisch duftenden Angebot widerstehen zu können.
Und so, sozusagen zum Abschluss dieses denkwürdigen Tages, mache ich einen grossen Fehler, indem ich mit dem Verzehr dieser Pizza etwas bewirke, was sich später als ziemlich unangenehm für mein Verdauungssystem herausstellen sollte.
Tja, man lernt nie aus.
Von Ourense nach Santiago de Compostela
Es ist nicht ganz einfach, einen Bus nach Santiago zu finden (wahrscheinlich fehlt das innere Feuer dafür, denn letztlich ist es das endgültige Akzeptieren der Niederlage). Die Angaben im Web sind etwas widersprüchlich, und nach den Erfahrungen in Laza ist Misstrauen angesagt.
Schliesslich aber ist der Moment da, wo man auf die Taste drückt und die Reservation bestätigt. Kein schöner Moment, aber leider unumgänglich. Ich sitze, wahrscheinlich zum letzten Mal in einer Frühstücksbar, das letzte Mal Tostada con Mantequilla y Mermelada, und lasse in Gedanken die letzten Wochen Revue passieren.
Ich bin ja noch nicht am Ziel, aber irgendwie eben doch. Der innere Abschied ist bereits im Gang. Die heutige Destination, wenn denn alles geklappt hätte, wäre Cea gewesen, dann die weiteren Etappenorte, die mir nun entgehen werden.
Und so hätte die weitere Wanderung ausgesehen, gut 100 Kilometer, durchs grüne Galizien, bis Santiago de Compostela. Es wäre schön gewesen.
Der letzte Bus
Und so sitze ich kurz nach zehn, nicht übermässig gut gelaunt, im bequemen Bus, der mich nach A Susana bringen soll. Ich werde mir, Schmerzen hin oder her, nicht nehmen lassen, die letzten knapp 10 Kilometer bis Santiago zu Fuss zu gehen.
Der Busfahrer ist informiert, der Blick auf meinen hinkenden Gang zeigt ihm, dass er es hier mit einem ausgeprochenen Opfer des Caminos (oder der Selbstüberschätzung, gemeinhin Hybris genannt) zu tun hat. Er nimmt mir sogar den Rucksack ab, um ihn zu verstauen, und zum ersten Mal fühle ich mich genauso alt wie ich bin.
Es geht so unsäglich schnell vorwärts. Kaum hat man es sich gemütlich gemacht, erreicht man Cea (wo ich letzte Woche im Mut der Verzweiflung sogar nach einem Hotel gesucht habe). Ein kurzer Stop, ein paar Leute steigen aus, andere ein, dann geht es flugs weiter, dem Norden entgegen.
Immer mal wieder erkenne ich die Camino-Wegweiser, immer wieder lange Strecken der Strasse entlang, immernin etwas, was mir den Frust etwas zu mindern vermag. Dann fliegt O Castro Dozon vorbei, wie ein Phantom, kurze Zeit später Silleda, was eine tüchtige Etappe gewesen wäre, und schon muss ich mich darauf einstellen, das Ziel in A Susana zu erreichen.
Von A Susana nach Santiago – The last Waltz
Der Bus hält, der Fahrer wendet sich mit einem Lächeln zu mir und ruft „A Susana“. Die Gesichter der anderen Passagiere wenden sich mir zu, ich nicke ihnen zu und steige aus.
Das letzte Kapitel hat begonnen. Das Wetter ist so wie immer, es regnet zwar für einmal nicht, doch der Himmel zeigt seine traurige Seite mittels dunkler Wolken und tief hängenden Nebelschwaden. Es handelt sich natürlich um eine sehr kurze Etappe, knapp 10 Kilometer, die es mir ermöglicht, kurz nach Mittag in der Kathedrale anzukommen, zwar rechtzeitig zur Pilgermesse, aber das interessiert mich wenig.
Es sind die letzten Kilometer auf meiner Wanderung, also ist es mir egal, wie der Weg aussieht. Er könnte senkrecht eine Wand hinauf oder hinunter gehen, ich würde trotzdem jede Sekunde geniessen. Der Pfad führt aber lediglich einer Strasse entlang, aber bevor ich mich an dieses letzte Stück mache, zuerst ein Kaffee in der wahrscheinlich letzten Bar auf dem Weg.
Und so sitze ich da, die Wirtin ist fleissig, unterhält sich, während sie die Gläser trocknet, mit einem Kunden, der ihr eine offenbar lustige Geschichte erzählt. In diesem Augenblick spüre ich ein merkwürdiges Verlangen, mit ihnen tauschen zu können. Was kann man tun, die Wehmut ist da, sie lässt sich nicht wegdenken oder wegspüren.
Die Strecke ist angenehm, sieht man davon ab, dass die Nähe zur Grossstadt spürbar ist. Der Weg führt durch Wald, dann durch Dörfer, die aber eher wie Vororte aussehen. Und dann, man merkt es, ohne es wirklich zu wissen, hat man Santiago erreicht.
Und dann bin ich da
Der letzte Teil zur Kathedrale führt den Hügel hinauf, vorbei an grauen Hausmauern, vor mir und hinter mir unversehens andere Wanderer, junge Leute, die lachenden Gesichter zeigen, dass sie froh und stolz sind, das Ziel erreicht zu haben.
Mein Schritt wird immer langsamer, für einmal keine Folge der Schmerzen. Ich will die letzten Meter geniessen. Stattliche Gebäude säumen nun den Weg, dunkle Wolken als Heiligenscheine über den Türmen.
Das letzte Ziel – die Kathedrale
Man durchquert ein Gewölbe, steigt ein paar Stufen zum grossen Platz vor der Kathedrale hinunter, dann ist man einfach da.
Natürlich herrscht ein emsiges Treiben, an allen Ecken und Enden haben sich die Wanderer und Pilger versammelt. Eine aufgeregte Stimmung herrscht, Lachen, junge Stimmen, man schiesst Fotos, Selfies, Videos, man umarmt sich, man lacht und weint und ist einfach nur glücklich.
Ich bin dann mal weg
Und so endet der Weg auf der Via de la Plata, auf dem Camino de Santiago. Morgen fliege ich nach Hause, der Flug ist gebucht, es gibt kein Entkommen mehr.
Am Abend gehe ich mit Zhilin essen, wir lachen und schwatzen, doch insgeheim wissen wir, dass die Wahrscheinlichkeit, uns irgendwann wiederzusehen, verschwindend klein ist.
Und dann kommt der Montag, es ist der 23. Oktober, ich verabschiede mich von Zhilin, unsere Herzen sind schwer.
Vor knapp sieben Wochen bin ich vor der Kathedrale in Sevilla gestanden, voller Tatendrang, voller Hoffnung, dass alles gut gehen möge. Und dann kamen Tage und Wochen voll wunderbarer Momente, voller Hitze und endlos scheinenden Wegen. Und manchmal der Gedanke, dass ich nie mehr etwas so Schönes sehen werde, wie an einigen der frühen Morgen, am Horizont das orange Feuer der aufgehenden Sonne.
In diesen Momenten fragt man sich, ob alles, was wir sehen, was wir erleben, nur ein Traum in einem Traum ist.
Hasta la vista y buen camino!
Passender Song: Red Hot Chili Peppers – Goodbye Angels
Und hier endet der Weg, aber nur dieser, denn wer weiss, die Welt ist gross …
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