Der gestrige Horrortag wirkt immer noch, denn heute morgen hat auch noch meine Polar Pulsuhr den Geist aufgegeben. Also keine Informationen mehr über Puls, Kalorien, Distanzen, Karten. Fuck!
Aber es muss weitergehen.
Von Granja de Moreruela nach Tabara
Obwohl ich natürlich auf einen besseren Tag hoffe, ist die Bar um sieben noch geschlossen. Es hätte mich auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre. Mit mir warten weitere Gäste auf den Wirt, der irgendwann verschlafen und mit ziemlich mürrischem Gesicht eintrifft.
Immerhin gibts was zu Essen.
Frances oder Sanabres
In Granja de Moreruela trennen sich die Wege, der eine via Astorga zum Camino Frances, der andere als Camino Sanabres dem Westen zu. Ihm folge ich nun, verlasse nun endgültig die liebgewonnene Via de la Plata.
Ich möchte auf keinen Fall auch nur das Geringste mit dem Camino Frances zu tun haben. Wenn man vom Jakobsweg spricht, ist meistens der Camino Frances gemeint, also die Route, die von den Pyrenäen bis Santiago führt.
Jedes Jahr nehmen ca. eine halbe Million Wanderer und Pilger den Weg unter die Füsse. Die Infrastuktur hat sich entwickelt, natürlich ganz im Sinne der zeitgemässen Anforderungen der zumeist jungen Leute, also Party, hippe Restaurants und Bars, Unterhaltung jeder Art, dafür Abzockerei, dreckige Herbergen. Muss ich nicht haben.
Also führt der Weg für mich von nun an gegen Westen, zum ersten Mal nicht mehr nordwärts wie während den vergangenen Wochen.
Da ja meine Pulsuhr bekanntlich den Geist aufgegeben hat, benutze ich von nun an die Kartenausschnitte aus der Gronze Plattform, nicht so schön wie meine eigenen, aber besser als nichts.
Der Ricobayo-Stausee
Die Wege bleiben am Anfang wie gehabt. Doch dann wird die Gegend hügelig, man folgt einem Höhenzug zum Ricobayo-Stausee. Der Weg dahin ist steil und teilweise mit tiefen Furchen durchzogen.
Es gibt architektorische Hinterlassenschaften der alten Römer, die den heutigen Bauwerken in Nichts nachstehen, im Gegenteil. Das hat sich im Verlauf der letzten Wochen unzählige Male bestätigt. Und so denkt man beim Anblick der Brücke über den Rio Esla unwillkürlich an römischen Usprung.
Doch dfügt sie sich organisch in die ansonsten unberührte Landschaft ein. ist Die Strassenbrücke über den Fluss Esla am Ricobayo Stausee wurde 1920 eingeweiht.
Wie auf dem Alpenpanoramaweg
Nach der Überquerung der Brücke über den Río Esla zeigen Pfeile nach links und warnen die Fahrradfahrer, doch auf jeden Fall die Strasse zu nehmen. Das ist wörtlich zu nehmen, denn ich komme mir schon nach wenigen Metern vor wie auf dem Alpenpanoramaweg: schmale, steile Wege führen oberhalb des Sees entlang, Bäume und dichte Gebüsche verwehren den Durchgang. Aber von oben hat man einen grossartigen Überblick über den Stausee und die Tierra del Vino.
Fliegen im Wald
Es macht den Anschein, als hätte sich die Gegend verändert. Anstelle der endlosen flachen Wege befindet man sich unversehens auf einer Bergtour auf einen Aussichtshügel. Oben angekommen, führt der Weg noch einige Zeit durch den Wald, er wirft angenehmen Schatten auf den Pfad.
Ruinen alter Bauernhäuser und Ställen zeugen von besseren Zeiten. Geblieben sind nur noch traurige Überreste der Mauern, der Zahn der Zeit wird sie in nicht allzu ferner Zukunft zu Staub und Nichts verwandeln.
Die verfluchten kleinen Fliegen haben mich eingeholt, ich schlage wieder mal wild um mich, bis ich den Geist aufgebe und ich es mir trotz summender Begleitung unter einem Baum gemütlich mache und in aller Ruhe mein hart verdientes Mittagesse geniesse.
Die gewohnten Wege
Wie insgeheim befürchtet, ist die vermeintlich veränderte Landschaft lediglich die Vorspielung falscher Tatsachen, denn nach der Durchquerung des Waldes holen mich die alten Pfade ein, lange, staubig, gerade. Nicht mal der Horizont, endlos weit entfernt, verspricht ein baldiges Ende der Tortur in der brennenden Hitze.
Immerhin gibt der nächste Wegweiser einen kleinen Trost: die Kilometerangabe darauf weist zum ersten Mal auf die restliche Distanz bis Santiago hin. Na ja, die 348 Kilometer müssten eigentlich zu machen sein. Es bedeutet natürlich auch, dass ich bereits gut 650 Kilometer in den Beinen habe. Ich klopfe mir wieder mal in Gedanken auf die Schultern.
Auf halber Strecke nach Tábara taucht wie aus dem Nichts ein Dorf auf, Faramontanos de Tábara, man denkt an eine Fata Morgana, aber es gibt auf jeden Fall ein Café und einiges anderes, was dem Wanderer gefallen könnte.
Immerhin verringert sich die restliche Strecke auf rund 2 Stunden. Der Blick zeigt allerdings ein gewohntes Bild. In Anbetracht des zu erwartenden Wetterwandels in Galizien bin ich schon beinahe froh über die lange Strecke unter dem liebgewonnenen Feuer am Himmel.
Tábara
Dann endlich Tábara, das Hotel El Roble, alles gut. Es gibt Dörfer, in denen man sich vom ersten Moment an wohlfühlt. Tábara gehört definitiv dazu. Den Grund weiss ich auch nicht, es ist ein unbestimmtes Gefühl, willkommen zu sein.
Und so mache ich es mir auf dem Dorfplatz bequem, ein kühles Bier vor mir, und lese über das Dorf, was man unbedingt wissen sollte. Offenbar war das Dorf vor langer Zeit eine Art geistiges Zentrum, im 9. Jahrhundert, wie ich lese.
Man kann sich natürlich fragen, warum ein solches Zentrum ausgerechnet hier, abseits jeglicher Zivilisation gegründet wurde. Viel ist nicht geblieben. Es soll Handschriften geben, die berühmten Beato de Tábara, die im Kloster aufbewahrt werden.
Ein junger Herr, auf den ersten Blick als Wanderer zu erkennen, sitzt am Nebentisch. Man nickt sich zu, gemeinsame Leidensgenossen sozusagen.
Von Tábara nach Santa Marta de Tera
Die Morgendämmerung zeigt sich von Tag zu Tag später. Auch wenn ich wie heute erst um acht loslaufe, scheint die Nacht den Kampf nicht so schnell aufzugeben. Doch egal, auf jeden Fall begrüsst mich ein majestätischer Sonnenaufgang, für einmal eine wunderbare Kombination von Natur und Zivilisation.
Meine Abneigung gegen jede Art von Herbergen ist in der Zwischenzeit bekannt. Dass ich ab heute drei Übernachtungen in Herbergen vor mir habe, ist erstens ein schlechter Scherz und zweitens eine Beleidigung jeglicher Art komfortablen Übernachtens. Wenn ich nur schon an die Schnarcher denke, diese nervtötenden Sägen, die es schaffen, ganze tropische Wälder in einer einzigen Nacht dem Boden gleichzumachen.
Also mache ich mich einigermassen schlecht gelaunt auf den Weg, der mich heute nach Santa Marta de Tera bringen soll. Der Camino scheint aber abwechslungsreich zu sein, mit Schatten, Wäldern am Wegrand, ein paar zu erklimmende Hügel, allerhand Neues, wie’s scheint. In Erwartung all dieser Überraschungen bessert sich meine Laune von Schritt zu Schritt.
Hügelauf und hügelab
Sieht man sich die Karte an, erkennt man gleich, dass die kastilische Hochebene mit ihren endlosen Weiten hinter uns geblieben ist. Die Landschaft hat sich tatsächlich verändert. Natürlich gibt es immer noch lange Wege auf verbrannten Ebenen, doch immer wieder werden sie durch bewaldete Hügel unterbrochen.
Nach ein paar Kilometern beginnt die erste Steigung. Der Weg führt zwar immer noch bolzengerade aus, doch die Steigungen sind im wahrsten Sinne atemberaubend. Auch nach so vielen Kilometern in den Beinen, gerate ich doch tatsächlich ins Schnaufen und muss mich zwecks Atemholen hinsetzen, was einer Gruppe junger hübscher Spanierinnen die Gelegenheit gibt, mich mit einem spöttischen Grinsen zu überholen.
Verbrannte Wälder
Die wahren Auswirkungen von Waldbränden werden erst klar, wenn man sie aus der Nähe sieht. Über Kilometer und Kilometer ist zu beiden Seiten verbrannter Wald. Im Sommer 2022 brachen in zahlreichen Regionen Spaniens schwere Waldbrände aus, die tausende von Hektaren zerstörten.
Santa Marta de Tera
Das kleine Dorf Santa Marta de Tera ist vor allem für das Denkmal auf der Plaza Mayor und eine romanische Kirche aus dem späten elften Jahrhundert bekannt. Man erreicht das Dorf entlang einem kleinen Teich, wo die Frösche ihr nachmittägliches Konzert abhalten, bevor man den Hauptplatz mit der Kirche erreicht.
Ein Herr in den besten Jahren steht vor der Eingangstür zur Herberge, er empfängt mich offiziell und weist mich in die Geheimnisse der Türöffnung ein. Man muss einen Code eingeben, den man tunlichst nicht vergessen sollte, denn sonst öffnet sich das Sesam nicht. Sehr modern das Ganze.
Und auch das Innere ist topmodern, die Zimmer sind zwar ziemlich klein und eng, doch Küche und Bad sind recht grosszügig. Die Anziehungskraft dieser Herberge scheint gross zu sein, denn auf den Gängen trifft man permanent andere Leute, einige davon, wie sich später zeigt, echte Nervensägen.
Kirchengeschichten
Die Kirche hat einen Grundriss in Form eines lateinischen Kreuzes und einem geraden Chevet, was für den romanischen Stil der Region außergewöhnlich ist, so dass man annimmt, dass dieses Gotteshaus dem Grundriss eines älteren folgt.
Sie war Teil eines mozarabischen Klosters, aber die Kirche wurde zu Beginn des 12. Jh. erbaut, und an ihrer Fassade ist eine interessante Ikonographie mit zwei Hochrelieffiguren zu sehen, von denen eine den Apostel Jakobus darstellt. Bei den Ornamenten ist die Schönheit der Kapitelle hervorzuheben, von denen das Innere von Santa Marta und die Anbetung der Heiligen Drei Könige hervorzuheben sind.
Eine unruhige Nacht
Wie bereits erwähnt, die Zimmer sind klein und da ausnahmsweise voll besetzt, wird alles ein bisschen sehr eng. Die jungen Spanierinnen, vier an der Zahl, erobern mit lautem Lachen und viel südländischer Hektik ausgerechnet das Zimmer, in dem ich zu ruhen gedenke. Ich kann also annehmen, dass die nächste Nacht keine signifikante Verbesserung meiner Abneigung gegen Herbergen nach sich ziehen wird.
Passender Song: Lara & Reyes – Exotico
Und hier geht der Camino weiter … nach Puebla de Sanabria