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Südamerika

Cochabamba – Der Himmel weint

Ein neues Gefühl am Morgen früh im Bett: man lässt die um einiges dickere und wärmere Decke bis zum Kinn hochgezogen und fragt sich, ob die Dusche wohl heisses oder zumindest warmes Wasser von sich gibt.

Die Hitze liegt nämlich hinter uns, die Temperatur am frühen Morgen beträgt schätzungsweise 15 Grad, also etwa die Hälfte von gestern um diese Zeit. Bei der Ankunft im Hotel gestern Abend nimmt der Körper zwar die veränderte Temperatur wahr, er ist aber noch voll von soviel Wärme, dass er lange partout nicht einsehen will, dass es kälter ist als beim Einsteigen in den Bus.

Erst nach gut zwei Stunden, beim wohlverdienten Bier, schleicht sich ein neues Gefühl die nackten Beine hoch: ein noch sanftes kühles Streicheln, das aber in kurzer Zeit zu einem unangenehmen, lange nicht mehr verspürten Gefühl führt: man fröstelt und holt die warme Jacke aus dem Rucksack. Zwei Stunden später, in meinem kleinen, heimeligen Zimmer schlüpfe ich unter die warme Decke, und es bräuchte nicht viel, und ich sehnte mich bereits zurück nach der Wärme.

Ich bin zwar in einem Hostel gelandet, habe aber glücklicherweise in letzter Minute einen Single Room erhalten. Es ist eine gute Zwischenlösung: ich habe jeweils ein Zimmer für mich, treffe aber im Unterschied zu einem normalen Hotel haufenweise Backpackers, mit denen man sich austauschen kann.

 

Der Himmel weint

Der Blick aus dem Fenster zeigt strömenden Regen. Das dürfte ein ruhiger Tag werden. Von meinem Zimmer aus muss ich nicht mehr als drei Meter durch einen offenen Flur gehen, doch es reicht, um mich abzuduschen. Der Frühstücksraum ist voll junger Menschen (die im Dormitory), die für einmal nicht auf ihr Handy starren, sondern tatsächlich laute und lachende Diskussionen führen. Aus den Gesprächsfetzen, denen ich natürlich neugierig lausche, höre ich einen bekannten Akzent heraus. Ich bin sicher, dass diese Dame einen roten Pass besitzt. Als sie an meinem Tisch vorbeigeht, spreche ich sie vorsichtig an: Suiza? Si. Suiza aleman? Si.

 

Daniela – Suiza alemana

Na also, Basel und Zürich haben sich getroffen, und ich muss zugeben, dass ich mich ganz gerne wieder mal im Dialekt unterhalten kann.

Der Austausch der ersten Gespräche geht immer ums gleiche: woher, wohin, wie lange? Einmal mehr sind meine zwei Monate Pipifax im Vergleich. Daniela ist seit letztem Jahr unterwegs und wird erst Ende April nach Europa zurückkehren. Allerdings werde ich im Verlauf des Tages, den wir abwechslungsweise zusammen verbringen, erfahren, dass sie jedes Jahr sechs bis sieben Monate unterwegs ist. Da schleicht sich doch gleich ein neidisches Gefühl ein …

 

Wanderer zwischen den Welten

Cochabamba zeigt an diesem Tag vor allem ein verregnetes Gesicht. Während also draussen eine weitere Sintflut niedergeht, lasse ich es ruhig angehen.

Ein junger Mann, den ich anfänglich für einen Einheimischen halte, spricht mich an. Er ist Schwede, allerdings mit einem bolivianischen Vater, den er jetzt zum ersten Mal in dessen Heimat besucht (die Eltern sind nämlich geschieden, er selbst das Ergebnis einer mitternächtlichen Vereinigung zweier unterschiedlicher Kulturen, was erfahrungsgemäss selten gut geht).

Seine Erfahrungen sind nicht überraschend ambivalent: die Unterschiede zu seinem Heimatland Schweden sind derart drastisch, dass er wohl noch einige Zeit brauchen wird, um damit fertig zu werden. Ich kann ihm nur raten, beiden Welten eine Chance zu geben, aber es wird nicht einfach. Wanderer zwischen den Welten zu sein, ist eine Aufgabe für’s Leben.

 

Cochabambas verregnetes Gesicht

Erst gegen Mittag lässt der Regen nach, und einem kurzen Erkundungsgang in die Stadt steht nichts mehr im Wege.

Auch diese Stadt ist schachbrettartig angelegt, man findet sich also sehr schnell zurecht. Ein paar ansehnliche Hügel rahmen die Stadt wie riesige Wächter ein; auf dem höchsten steht die weltweit grösste Christusstatue (grösser als diejenige in Rio). Eine Bahn führt hoch, man könnte zwar auch zu Fuss hochsteigen, wovon allerdings abgeraten wird. Offenbar hat es schon mehrmals Überfälle auf unschuldige Wanderer gegeben.

Da ich aber eh keinen Bock auf Wanderungen zu einer Christusstatue hoch habe, ist mir das ziemlich egal.

 

Cochabamba Plaza

Cochabamba alleys

Cochabamba squares

 

Warnungen

Nicht egal sind allerdings diese ständigen Warnungen, die mir zunehmend auf den Geist gehen.

Man muss sich vorsehen, dass sie sich nicht langsam im Unterbewusstsein einnisten, bis man sich wie ein amerikanischer Tourist aus dem Bible Belt die ganze Zeit von bösen (gottlosen) Männern umgeben sieht. Es gilt, eine gesunde Vorsicht walten lassen, und nicht in der Nacht die dunkelsten Strassen und Kneipen aufzusuchen und vielleicht auch noch das Geld zu zählen. Klar kann jederzeit etwas passieren, die Wahrscheinlichkeit ist aber massiv geringer als mit einem dieser heruntergekommenen Busse zu verunfallen …

 

Graffitis

Gerade noch, bevor der Regen am späten Nachmittag zurückkommt, entdecken wir einen herzigen kleinen Platz, der von zahlreichen Graffitis volllgemalt ist. Im Gegensatz zum Schrott, den man manchmal in der Schweiz antrifft, haben hier tatsächlich Künstler ihre Hand im Spiel gehabt.

 

Murales in Cochabamba

Dann kehrt der Regen zurück, und eine hektische Flucht in eine kleine wunderbar eingerichtete Kneipe führt ins Trockene.

Die Diskussionen über das Leben und das Reisen gehen weiter und tiefer. Immer wieder erstaunlich, wie schnell das gehen kann. Letztendlich sind diese Begegnungen das wirkliche Sahnehäubchen auf dem Kuchen, nicht die Kathedralen oder Stupas oder Monumente, sondern die Begegnungen mit realen Menschen, die auf der Suche sind.

 

Kilometerstand:  2930

Song zum Thema:  The Rolling Stones – Paint it black

Und hier geht die Reise weiter … nach Sucre

 

Südamerika

Hoch oben nach Cochabamba

Obwohl mir der Chef vom Hotel versprochen hat, eine halbe Stunde früher als normal für ein ordentliches Frühstück zu sorgen, ist um Punkt sieben kein Mensch zu sehen, oder doch?

Ist die Gestalt, die sich ächzend aus einem Stuhl erhebt, der Chef? Auf jeden Fall sieht er aus, als hätte er dort die Nacht verbracht.

Desayuno? Claro, antwortet er mit brüchiger Stimme und wankt in die Küche. Er hat gestern schon etwas mitgenommen ausgesehen, mit langsamen Bewegungen, als würde ihn jeder Knochen schmerzen, und auf meine Frage nach seinem Zustand murmelte er was von Alkohol. Es muss aber ein extremer Abend gewesen sein, wenn er die Folgen auch zwei Tage später noch spürt.

 

Ein sehr spezielles Frühstück

Anyway, er schaut sich erst mal etwas um, streckt mir einen Strunk Bananen entgegen.

Bananas? Porque no, antworte ich etwas geknickt. Dann aber macht er sich zumindest an der Kaffeemaschine zu schaffen, alles andere ist mir egal.

Ein wirklich besonderes Exemplar, dieser Kerl. Es ist der gleiche, der mich bei der Ankunft nach meiner Rolex fragte. Rolex? Welche Rolex? Alle Schweizer besitzen doch eine Rolex, antwortet er völlig überzeugt. Während ich also nach einiger Zeit an meiner Tasse Nestle Kaffee nippe, schaut er sich um. Wahrscheinlich ist er sich bewusst, dass das bisher Gebotene doch nicht ganz dem Standard-Frühstück entspricht. Auf dem Küchentisch entdeckt er eine Crepe von gestern Abend und streckt mir diese hin. Wie wär’s damit? Ich bin nicht ganz überzeugt, also holt er eine Tube mit einer Art Schokoladenaufstrich.

Das ist also mein Morgenessen an diesem Tag: ein Kaffee (ok), ein Strunk Bananen (etwas speziell) und eine alte, kalte Crepe von gestern Abend mit Schokoladenaufstrich aus der Tube (etwas gewöhnungsbedürftig).

Grossartig, einfach grossartig. Für solche Dinge reise ich. Wieder eine der Geschichten, die man nicht vergisst …

 

Eine Horde schreiender Gestalten

Im Normalfall muss man ein Busticket vorher besorgen, um sicher einen Platz zu haben.

Nicht an diesem Morgen, nicht in Santa Cruz mit Destination Cochabamba. Kaum aus dem Taxi gestiegen, werde ich von einer Horde schreiender Gestalten überfallen, und alle rufen wie aus einer Kehle Cochabamba.

Beim ersten kostet es 40 Bolivianos (knapp sechs Franken), allerdings macht der Bus nicht gerade einen vertrauenswürdigen Eindruck, also zum nächsten. Diesmal kostet es bereits 100 Bolivianos, allerdings mit Cama (Sitz zum Schlafen) auf dem oberen Stock und erst noch ganz vorne.

Auf dem Weg zum Schalter – de prisa de prisa, der Bus fährt nämlich gleich los – reduziert er den Preis noch auf 80 Bolivianos, und dann spurten wir los, ich haue meinen Rucksack in den Gepäckraum, keuche die Treppe hinauf und setze mich hin.

Drei Sekunden später fährt der Bus ab …

 

Ein einziges Vergnügen, hoch über der Welt

Wieder mal dauert es endlos, bis wir das offene Land erreichen. Es regnet in Strömen, doch auf meinem Hochsitz ist es ein einziges Vergnügen. Man sitzt sehr bequem hoch über der Welt, rundherum nasses Chaos, dichter Verkehr, Leute mit Schirmen und hochgezogenen Kapuzen.

Die Lowland Route ist knapp 500 Kilometer lang, führt anfänglich durch ein fruchtbares Tal, bevor sie dann langsam in die Höhe steigt und Cochabamba auf gut 2500 Meter erreicht. Wir haben also gut 10 Stunden äusserst vergnüglicher Fahrt vor uns, genau das, was ich mir wünsche.

 

From Santa Cruz to Cochabamba

Und während das nasse Bolivien zu meinen Füssen vorbeigleitet, sorgt der Chauffeur für die Unterhaltung der Passagiere. Und so verbringe ich die nächsten Stunden in Gesellschaft von Silvester Stallone und Co. und der lautstarken Präsentation von Expendables 1 bis 3.

 

River Valley

Huts

poor life

 

Das wahre Bolivien

Der Blick aus dem Fenster enthüllt nun aber das wahre Bolivien.

Erinnerungen an meine letzte Reise vor bald 36 Jahren tauchen aus dem Gedächtnis auf. Hat sich etwas verändert? Sind die Lebensumstände der Menschen besser geworden? Es macht leider nicht den Anschein. Die Hütten sind immer noch gleich heruntergekommen, die Leute schlecht gekleidet, die Kinder mit triefender Nase.

Die Strassen abseits der Hauptstrasse sind voller Löcher und jetzt, beim Regen, stehen sie unter Wasser. Der Film läuft weiter, zeigt gnadenlos, dass Bolivien eines der ärmsten Länder der Welt ist. Beim Bruttoinlandprodukt pro Einwohner steht es mit 2700 Dollars an 122. Stelle, und obwohl das Land über eine Million Quadratkilometer gross ist und grosse Bodenschätze besitzt, hat es gerade mal 10 Millionen Einwohner.

Die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer liegt bei 65, bei den Frauen bei 70 Jahren. Noch 2010 hatte der Grossteil der Bevölkerung keinen Zugang zum Gesundheitswesen. Diese Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Allerdings setzt ein Grossteil der indigenen Bevölkerung, die nirgends so hoch ist wie hier, auf den Staatschef Evo Morales. Ob seine Versprechen eingehalten werden, ist äusserst umstritten.

Über die Gründe lässt sich gut spekulieren, wie immer in solchen Fällen eine giftige Mixtur aus Geschichte, Unterdrückung, Religion, Ethnie, Korruption, Abhängigkeit. Ein etwas längerer Blick in die Informationen in Wikipedia erklärt einiges, wenn auch nicht alles …

 

Bergaufwärts

Nach einigen Stunden wird die Fahrt entlang dem Tal etwas eintönig, lediglich die teilweise blödsinnigen Überholmanöver der Verkehrsteilnehmer wie auch unseres eigenen Busses sorgen für etwas unwillkommene Abwechslung. Der Lastwagen mit der Aufschrift „Peligro“ sorgt für einige Runzeln auf der Stirn. Als hätte er Milch oder andere harmlose Last geladen, prescht er mit voller Geschwindigkeit vor, überholt an den unmöglichsten Stellen, ungeachtet seiner gefährlichen Ladung.

Es wird nicht das letzte Mal sein, dass man sich einige Fragen stellt. Auf jeden Fall atmet man erst durch, wenn der Lastwagen irgendwo weit vorne verschwindet. Ich warte auf einen Blitz und eine dunkle Rauchwolke am Himmel. Was mich natürlich an den unvergesslichen Film mit Yves Montant erinnert – Le Salaire de la Peur, Lohn der Angst. Hier einige Ausschnitte.

 

Peligro - Danger
Peligro – Gefahr!

Dense Traffic

Dann aber bleibt die Ebene hinter uns zurück, der Aufstieg von einer Meereshöhe von 200 Metern bis auf 2600 Meter beginnt. Kurve folgt nun auf Kurve, die Strasse wird enger, steiler, an einigen Stellen durch den Regen aufgeweicht, sie hat Wellen geworfen wie nach einem Erdbeben.

Die vielen Trucks sind elend langsam, man könnte sie auch zu Fuss mit Leichtigkeit überholen. Also bleibt in vielen Fällen nur das Warten auf einen Streckenabschnitt, wo überholen überhaupt möglich ist.

Die Umgebung wird grüner, dichter Wald säumt die Strasse. Manchmal, weit weg, ein paar Hütten, etwas Glänzendes, Blaues. Ein See? Ein Tümpel?

 

Passhöhe

Der Blick auf die Höhenanzeige meiner iPhone App zeigt den langsamen Fortschritt, aber schliesslich erreichen wir 2000 Meter, dann 2500 und schliesslich überqueren wir sogar die 3000-Grenze.

Erinnerungen an Ladakh werden wach, allerdings bleiben hier die Hügel und Berge auch auf dieser Höhe grün überwachsen. Ein riesiger See gleitet vorbei, dann die Passhöhe, genau 3449 Meter. He, das ist gleich hoch wie Leh. Wunderbar.

Es geht bereits gegen sechs Uhr abends, Müdigkeit kriecht langsam heran wie ein schleichender Schatten. Ich bin nicht der einzige, Restaurants laden zur Einkehr, zum Durchatmen.

 

Top of the pass

Crowd on the top of the pass

All kinds of vehicles

and numerous people

Der Bus scheint spürbar aufzuschnaufen, es geht nun in langen Kehren hinunter, von weitem ist eine Dunstglocke erkennbar.

Cochabamba.

 

Kilometerstand: 2930

Song zum Thema: Billy Talent – Rusted from the Rain

Und hier geht die Reise weiter …