Nicht das, was du nicht weisst, bringt dich in Schwierigkeiten. Sondern das, was du sicher zu wissen glaubst, obwohl es gar nicht wahr ist. (Mark Twain)
Auf dieser langen Wanderung ist mir oft aufgegangen, wie wenig ich eigentlich weiss, und wie wenig, was ich zu wissen glaubte, korrekt ist.
Das hat vielleicht mit dem Alter zu tun. Erst in fortgeschrittenen Jahren erkennt man, dass man eigentlich wenig oder gar nichts weiss. Ich finde den Gedanken irgendwie tröstlich … und irritierend zugleich.
Doch das ist ja gerade das Schöne an solchen Wanderungen: man hat endlich Zeit sich über Dinge Gedanken zu machen, für die sonst keine Zeit da ist. Auch darüber, dass man (endlich) die eigene Begrenztheit erkennt.
Aber was soll’s, es geht weiter, Genf entgegen, und jetzt kann ich tatsächlich, noch weit entfernt, das Ende des Sees erkennen, dort, wo Genf im frühmorgentlichen Nebel liegt. Morgen werde ich dort sein.
Soweit ist es aber noch nicht, heute wartet eine anspruchsvolle, ziemlich lange Wanderung auf mich. Natürlich spricht der Travelguide von Dingen, die mich nicht mehr betreffen, denn auch heute ist mein Weg ein anderer.
Von der verkehrsreichen, verbauten Uferzone schwenkt der Wanderweg ins flache Hinterland zwischen Genfersee und Jura mit seinen verträumten Dörfern, alten Schlössern, lauschigen Bächen, lichten Eichenwäldern und kultivierten Feldern.
Länge: 23.6 km, Aufstieg | Abstieg: 735 m | 730 m, Wanderzeit: 7 h 38 min
Lärmend durch den Wald
Ich starte am See und bin in wenigen Minuten bereits wieder mitten im Wald, und das wird sich so bald nicht ändern. Manchmal kommt es mir vor, als wären es die gleichen Pfade und Bäume und Gebüsche wie gestern oder vorgestern. Was sie natürlich nicht sind, aber sie sehen auf jeden Fall absolut gleich aus. Sogar die Pfützen und tiefen Gräben erinnern mich an gestern.
Der Weg nach Prangins führt einige Kilometer im Zickzack durch einen dichten Wald und an einem Golfplatz vorbei, wo sich trotz des schlechten Wetters ein paar Unentwegte ihrem geliebten Sport hingeben.
Heute bin ich für einmal nicht allein im Wald, Gruppen junger Leute, begleitet von ihrem Lehrer, lärmen entlang der Wege. Offenbar steht ein Ausflug in die Natur auf der heutigen Tagesordnung. Manchmal bin ich ihnen voraus, dann wieder schliessen sie auf, überholen mich, bis ich wieder die Vorhut übernehme.
Wildes Wasser
Der See begrüsst mich mit wütendem Rauschen und Toben, als wäre er empört, dass er schon bald allein gelassen wird. Die Wellen preschen gegen das Ufer, nasse eiskalte Böen fallen über die Tische und Stühle des geschlossenen Gartenrestaurants her, es ist niemand da, nur ich. Es verschafft mir die Gelegenheit, eine Pause einzulegen, ein Brötchen zu essen und dem wilden Getue des Sees zuzuschauen.
Meine einsame Kontemplation hat schon bald ein Ende, als die Gruppe junger Leute eintrifft. Man kennt sich in der Zwischenzeit, man grüsst sich, nickt sich freundlich zu, doch die Jugendlichen sind zurückhaltend. Obwohl ich den einen oder anderen neugierigen Blick erhalte, spricht mich keiner an. Welch höfliche Jugend.
Abgründe
Prangins und Nyon sind zusammengewachsen, ich laufe ohne grosse Begeisterung durch die lauten Strassen, ohne zu wissen, ob ich noch in Prangins oder bereits in Nyon bin.
Am Bahnhof in Nyon habe ich endlich Gelegenheit, meine Vorräte aufzufrischen, viel brauche ich nicht mehr bis morgen Abend. Ich setze mich auf eine Bank, trinke, esse, beobachtet von einer älteren, verloren aussehenden Frau. Auch hier hat das Paradies Grenzen, man ist wie meistens blind für die Abgründe, die sich unweit auftun.
Kurz nach Nyon zweigt der Weg wieder ab, er folgt zuerst der Eisenbahn, dann wieder dem Wald, über schmale Brücken, morastigem Boden, bis endlich wieder Wiesen entlang, so wie ich es gern habe. Abwechslungsreich, auf jeden Fall wird einem nicht langweilig.
Van Gogh Country
Da steht man nun und wundert sich. Hat man sich irrtümlich in ein Bild von Vincent Van Gogh verirrt? Oder bin ich nicht mehr in der Nähe des Genfersees sondern irgendwo in der Provence?
Bei einem kleinen schnuckligen Häuschen mit Turm zweigt der Weg in eine Wunderwelt aus gelben Weizenfeldern ab. Nicht erstaunlich, dass ich mich vom ersten Augenblick an wie in einem Bild von Van Gogh glaube. Fehlen eigentlich nur noch die Zypressen, oder – in einem anderen berühmten Bild – die Rabenschwärme am Himmel.
Der Rest der Etappe ist schnell erzählt. Irgendwann wird der Weg aufgesogen durch Dörfer und Weiler, er führt durch dichtbesiedeltes Gebiet, entlang ziemlich mühsamer Asphaltstrassen, bis endlich Commugny auftaucht, und da ist auch schon mein Hotel, und es sieht genauso geschlossen aus wie dasjenige in Etoy.
Immerhin zeigt sich nach kurzer Zeit eine junge Dame am Fenster, sie ist sozusagen die Hüterin des Lichts an diesem Tag und öffnet mir die Tür. Es wäre schade gewesen, wenn ich auch bei der letzten Übernachtung Probleme gehabt hätte. Aber alles gut, das Zimmer ist erstklassig, und zum letzten Mal strecke ich meine müden Glieder aus.
Aber meinen Füssen, die bis jetzt bravourös durchgehalten haben, scheint die Lust an noch mehr Kilometern definitiv vergangen zu sein. Vor allem die Zehen an meinem rechten Fuss sehen irgendwie seltsam aus. Sie sind geschwollen und schmerzen, vor allem am Morgen und nach den Pausen. Manchmal werde ich angesprochen, wenn ich wie ein uralter Mann vorbeihumple. Aber eben, liebe Füsse, es ist nicht mehr weit.
Das Hotel Chez Yann weist heute Morgen tatsächlich eine menschliche Komponente in Gestalt einer jungen Dame auf, die mir freundlich das Frühstück serviert. Mit etwas Mühe setze ich trotzdem mein grimmigstes Gesicht auf. „C’etait pas tres drole hier soir“.
Ich kann gar nicht anders als ebenfalls grinsen, denn ein Grinsen ist alles, was ich als Antwort erhalte. Offenbar ist der Herr und Meister des Hotels bekannt dafür, dass er schon mal vergisst, das Eintrittsprozedere bekanntzugeben.
Bei der heutigen Etappe ist es wie erwartet – man muss nun die Natur, nicht so wie die letzten Wochen, suchen. Manchmal ist es fast ein bisschen zuviel Zivilisation. Lange Reihen von Häusern, eher langweilig, dann wieder Asphaltstrassen. Aber das wusste ich ja, meine geliebten Berge und Hügel und Wiesen sind verschwunden, dafür jede Menge moderner Welt.
Der Travelguide findet:
Ein aussichtsreicher Vormittag durch die Rebberge und Weindörfer der Waadtländer La Côte und ein schattiger Nachmittag entlang des Toblerone-Wegs am Serine-Bach (ehemalige Panzersperre).
Da der Original Panoramaweg andere Routen nimmt, werde ich von jetzt an nur noch meine eigenen Werte anzeigen.
Länge: 19.35 km, Aufstieg | Abstieg: 530 m | 585 m, Wanderzeit: 6 h 11 min
Das ewig Gleiche – oder doch nicht?
Eine Strasse führt in Richtung des Sees, ich durchquere ein weiteres Dorf und zahlreiche hässliche Industriegebäude, die mich schneller gehen lassen. Es wird in ein paar Tagen früh genug sein, um diese Anblicke wieder ertragen zu müssen.
Doch nach einer halben Stunde liegt das Gröbste hinter mir, ein schmaler Weg entlang Weizenfeldern führt mich geradewegs in einen Wald, wo ich nach kurzer Zeit auf den Fluss Aubonne treffe. Das ist wieder mehr nach meinem Geschmack.
Auf den ersten Blick sieht alles genau gleich aus wie gestern – alte knorrige Bäume, die sich über den Weg neigen, eine grüne Welt rechts und links des Weges, manchmal ein Bach, diesmal die Aubonne.
Und doch ist es anders – und gleich. Auch ich bin nicht der gleiche wie gestern, und doch gleich. Auch die Eindrücke sind anders – und doch irgendwie gleich. Aber so muss es sein. So ist das Leben. Alles gleicht sich und ist trotzdem anders. Es erinnert mich daran, dass 99% der Gedanken, die man im Verlauf eines Tages denkt, die gleichen sind wie an allen Tagen zuvor. Irgendwie beschämend.
Der zerbrechliche Mensch
Es ist ein permanentes Hin und Her zwischen Wald und Wiesen und See. Die Aubonne hat ihren eigenen Weg zum See genommen, ich nehme einen anderen, doch auch dieser endet irgendwann am Ufer.
Heute spielt das Wetter eine untergeordnete Rolle, Wolkenschlieren verschaffen dem See ein kränkelndes Grau, nicht eben das, was man sich wünscht. Es ist niemand zu sehen, wahrscheinlich, heute ist ja Montag, sind alle am Arbeiten. Viel Spass!
Ich parkiere meinen Rucksack und setze mich ans Ufer. Das heisere Geschrei der Möwen ist das einzige Geräusch, vielleicht noch alle paar Sekunden begleitet durch das sanfte Plätschern der Wellen.
Die letzten Tage ist mir aufgefallen, dass ich eine merkwürdige Wehmut empfinde. Mein Blick liegt zwar nach wie vor auf der Umgebung, aber in einer Art Trance, als hätte ein inneres Auge die Kontrolle übernommen. Es ist so, wie wenn man lange, unfokussiert, ohne zu blinzeln, in die Ferne blickt.
Was hat dies zu bedeuten? Ist es das baldige Ende der Tour, oder hat es andere Gründe?
Natürlich stolpert man bei einer derart langen Wanderung früher oder später über jedes Thema, auch die unangenehmen, die lieber stumm bleiben wollen. Aber es ist unausweichlich, und ich realisiere langsam, dass in den letzten knapp vier Wochen einiges an Verdrängtem aufgebrochen worden ist. Es kommt mir vor, als hätten sich lang vergrabene Gefühle und Schmerzen an die Oberfläche gedrängt. Soviel, was nicht gedacht, nicht gesagt, nicht getan wurde. Oder umgekehrt.
In diesen Momenten wird man sich der eigenen Zerbrechlichkeit bewusst.
Der Leser verzeihe mir, wenn ich hier nicht weiter in die Tiefe schweife. Gewisse Dinge müssen ungesagt bleiben.
Rolle
Nach einem erneuten Ausflug in die Natur empfängt mich Rolle, eine Kleinstadt am See, wunderschön gelegen, wie sich schon bald zeigen wird.
Offenbar entspricht das Stadtbild einem mittelalterlichen Muster. Es gibt nur eine einzige Hauptstrasse, an der entlang die Häuser stehen. Es gibt eine reformierte Pfarrkirche, deren Glockenturm noch aus dem Mittelalter stammt.
Das Schloss von Rolle steht direkt am Seeufer, ich bleibe stehen, lese seine Geschichte nach und bin beeindruckt. Es sieht aus, als könnte es noch heute jeder Bedrohung widerstehen, allerdings erfahre ich, dass es im 16. Jahrhundert von den Eidgenossen niedergebrannt wurde. Also doch nicht so trutzig wie erwartet.
Eine kleine Insel, die Ile de la Harpe, liegt einen Steinwurf weit im See draussen, das Schiff auf dem Weg zur französischen Seite nimmt eben Fahrt auf.
Die Seepromenade ist einmal mehr eine Augenweide. Der ganz normale Steg zur Anlegestelle ist mit roten und violetten und gelben Blumen geschmückt, ein überlebensgrosses Modell einer Biene, mit Blumen bedeckt, steht in einem Blumenbeet, als würde sie den Nektar schlürfen.
Man kann gar nicht anders als glücklich zu sein.
Lange Wege nach Gland
Irgendwie ein seltsamer Weg heute. Er scheint sich nicht entschliessen zu können, ob er eher dem See entlang oder doch lieber im Landesinneren durchgehen soll. Nach Rolle geht es erstmal wieder ins Grüne, endlos scheinende Pfade den dunklen Wolken entgegen, der Himmel hängt tief und bedrohlich. Es würde mich nicht wundern, wenn ich auch heute Nachmittag mit einem feuchten Gruss beschenkt werde.
Es ist noch früh, wenn ich in diesem Tempo weitergehe, bin ich hoffentlich noch vor dem erwarteten Gewitter im Hotel. Wenn ich mir allerdings den Himmel ansehe, wird mir etwas unbehaglich. Der Blick geht nun häufiger zur Karte, man schätzt die Entfernung ab, beruhigt sich für den Moment, um sogleich wieder das verstörende Gefühl vor einem nahenden Gewitter zu verspüren. Wenn ich etwas hasse, dann auf einem flachen Feld einem Gewitter ausgesetzt zu sein.
Immerhin, ich werde bis wenige Kilometer vor dem Tagesziel verschont, um dann doch noch verregnet zu werden. Die letzten Kilometer führen entlang einer stark befahrenen Strasse, nicht unbedingt meine bevorzugte Fortbewegung. Neben mir donnern die Autos und Lastwagen vorbei, aus denen mir der eine oder andere spöttische Blick zugeworfen wird.
Aber schliesslich bin ich da, ich werde bereits erwartet, welche Ehre, und man führt mich gemessenen Schrittes zu meinen Gemächern, für heute allerdings lediglich in Form eines ziemlich kleinen Zimmers, aber was brauche ich mehr.
Ein Fussball-Krimi am späten Abend
Das Abendessen im Hotel Restaurant de la Plage fällt aus, heute ist das Restaurant geschlossen, und ich bin wieder mal angeschmiert. Das Etablissement befindet sich zwar an schönster Lage direkt am See, allerdings weitab von jeglichen anderen Restaurants oder Einkaufsläden.
Die Dame des Hauses sieht meinen enttäuschten Blick und sucht nach einer Lösung. Sie beauftragt ihren Mann, einen Herrn trés distingué in den besten Jahren, mich zu einer Pizzeria zu fahren, die nicht allzu weit entfernt liegt.
Und so lande ich nach kurzer Fahrt in der besagten Pizzeria, wo ich erstens eine grossartige Pizza und zweitens einen Logenplatz vor dem TV erhalte. Die damit verbunden Diskussionen zum Fussball-Match machen mich in kurzer Zeit zu einem engen Freund der Belegschaft.
Um 21 Uhr findet der entscheidende Achtelfinal zwischen Frankreich und der Schweiz statt. Allerdings hat der Glaube an unsere Nationalmannschaft stark gelitten (und nicht mal das gute Spiel gegen die Türkei hat meine Zweifel reduzieren können). Gegen Frankreich, immerhin den amtierenden Weltmeister hat unser Team keinen Stich.
Nach dem 1:3 ist jegliche Hoffnung erloschen, ich habe genug und lege mich schlafen. Allerdings werde ich kurze Zeit später durch seltsame Geräusche von draussen geweckt. Doch etwas neugierig geworden, schalte ich den TV wieder ein, oh, neues Resultat 3:3. Wow!
Es geht in die Verlängerung, aber vor dem entscheidenden Penaltyschiessen erinnere ich mit Schaudern an 2006 und schalte wieder ab, um nach gut zehn Minuten durch ein paar euphorische SMS geweckt zu werden. Was niemand erwartet hat, ist passiert: die Schweiz hat Frankreich nach Hause geschickt. Und ich armer Tor habe das meiste verpasst!
Es würde mich nicht wundern, wenn die heutige Etappe die schönste der ganzen Wanderung wird.
Es ist acht Uhr morgens, der Himmel ist so blau, wie er sein sollte, der See kräuselt sich im Morgenwind, was kann man von einem gewöhnlichen Samstag mehr erwarten. Das abendliche Tief ist durch viele Stunden tiefen Schlafes verschwunden. Und vor allem – der Weg durch das Lavaux ist ein besonderer Leckerbissen.
La Place du Marché
Nun, das Frühstück muss ich mir wieder mal auswärts organisieren, aber der grosse Platz direkt vor meinem Hotel, la Place du Marché, bietet nicht nur zahlreiche Restaurants und Cafés, nein, heute Samstag ist Markttag, der Platz ist voll belegt mit unzähligen Ständen, die alles, was das Herz begehrt und dem Gaumen mundet, anbieten.
Während ich durch die Stände gehe, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Solche Märkte würde ich mir auch in der Deutschschweiz wünschen. Wo die wunderbaren Düfte in der Luft schweben, wo sich die Leute treffen, schwatzen, einkaufen, fröhlich sind.
Anyway, ich kann mich kaum zurückhalten, muss aber gleichzeitig aufpassen, dass ich meinen Rucksack nicht überlade, denn heute steht eine zwar grossartige, gleichzeitig aber auch sehr lange Etappe vor mir. Ich begnüge mich also lediglich mit frisch duftendem Brot und einigen süssen Verführungen, die aussehen wie Schnecken, aber noch viel besser munden.
Doch bevor ich losziehe, setze ich mich in das nächste Café, bestelle Kaffee und eine wunderbar duftende Brioche und lasse das Leben ringsherum auf mich wirken. Es ist schwierig, sich loszureissen. Man möchte bleiben, den Tag auf diesem Stuhl verbringen, dazwischen vielleicht ein Schwatz mit irgendwelchen Leuten, etwas essen, etwas trinken und einfach das Gefühl spüren, am richtigen Ort zu sein.
Wie erwähnt, die heutige Etappe verspricht eine ganze Menge.
Eine Genusswanderung durch die steilen Rebberge des Lavaux, die seit 2007 zum Weltkulturerbe der UNESCO gehören. Unterwegs trifft man auf die uralten Winzerdörfer St-Saphorin, Rivaz, Epesses und die schmucken Städtchen Cully und Lutry am Lac Léman.
Länge: 19 km, Aufstieg | Abstieg: 380 m | 440 m, Wanderzeit:,5 h 00 min
Das Lavaux – eine weltberühmte Schönheit
Bevor es richtig losgeht, ein paar Worte zu dem, was mich heute erwartet.
Mit über 800 Hektaren Rebfläche sind die Weinberg-Terrassen des UNESCO-Welterbes Lavaux das grösste zusammenhängende Weinbaugebiet der Schweiz und bietet Terrasse für Terrasse beste Aussichten. Terrassierte Weinberge, unten der Lac Léman, hinten die verschneiten Berge – man braucht etwas Zeit, um diese Landschaft richtig zu geniessen! (Copyright MySwitzerland.com).
Der Weg folgt anfänglich dem Ufer, der Lärm der Stadt bleibt hinter mir zurück, es wird ruhig, nur noch das Plätschern der Wellen, die leise ans Ufer klatschen, begleitet meine Schritte. Etwas später überquert man den Fluss La Veveyse, der sich hier in den See entleert, nicht eben so sauber, wie man sich das von einem Gewässer vorstellt.
Doch dann zweigt der Weg nochmals in die Stadt ab, ich komme an einem stattlichen Gebäude vorbei, Nestlé, wie es scheint, der Nahrungsmittel Gigant, der hier seinen Hauptsitz hat. Es dauert eine Weile und ein paar Kilometer, bis die Eisenbahn unterquert, zahlreiche Strassen überquert und endlich das offene Land erreicht wird. Doch dann, endlich, fängt es an.
Man glaubt, in einer anderen Welt angekommen zu sein.
Durch die Weinbauterrassen
Obwohl die Wege durch die Anbaugebiete durchwegs asphaltiert sind, ist das Gehen ein einziges Vergnügen. Wie könnte es auch anders sein: die Luft ist warm und frisch, der Wind eine zärtliche Umarmung, das Auge trunken durch all die Anblicke rechts und links des Weges.
Man hat den Eindruck, in etwas Vollkommenes geraten zu sein, etwas, was es gar nicht geben kann, denn alles Menschliche ist unvollkommen, wie Fernando Pessoa behauptet.
Ich habe Mühe, alles aufzuzählen, was einfach da ist, als wäre es das Normalste dieser Welt.
Es sind nicht nur die blühenden grünen Terrassen, wo man jetzt schon die reifenden Trauben hängen sehen kann, es ist – besonders heute, als Geschenk an mich und alle anderen Spaziergänger und Wanderer mit dem gleichen Ziel – auch der See, dessen Wellen sanft schaukeln, es ist der Himmel, beinahe wolkenlos, es sind die Berge am anderen Ufer, behängt mit Schleiern aus Wolken, es sind die kleinen Türmchen, die aus stattlichen Häusern ragen, die Dörfer, die alle paar Kilometer zum Trank (am liebsten natürlich zu einem Schluck Chasselas, dem hiesigen Wein) laden …
Wie soll ich morgen die Wanderung fortsetzen, wenn das Schöne bereits vorbei ist?
Weit weg von allem
Manchmal setze ich mich auf eine Steinmauer, knabbere an meinem süssen Teil, dessen Name ich leider nicht weiss, wieder einmal vollkommen bei mir. Wie könnte man auch anders. Wenn jemand inmitten dieser Schönheit seinen Problemen nachgrübelt, hat er tatsächlich ein Problem.
Also in Kürze, ich komme aus dem andächtigen Staunen nicht heraus, lediglich einen Augenblick lang, wenn mich das Geräusch der Autobahn, die oberhalb des Lavaux durchführt, aus meinen Träumereien holt.
Verkaufsstände und Wein, viel Wein
Alle paar Kilometer laden winzige Verkaufsstände, nicht mehr als ein Tisch und eine kleine gedeckte Hütte, zum Kauf des hiesigen Weins ein. Wie bereits erwähnt, der Chasselas ist hier die wichtigste Sorte, die seit Jahrhunderten angebaut wird. Der Wein hat immer noch seine Fans, hat aber in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung verloren.
Nun, ich würde mich gern zu einem Schluck einladen, allerdings ist der Weg bis Lausanne noch sehr weit. Ob ein halbnüchterner Wanderer noch genug Durchhaltevermögen besitzen würde, wage ich zu bezweifeln, deshalb lasse ich es schweren Herzens sein.
Ganz oben auf einem Hügel – man bewegt sich ja permanent auf und ab, ist manchmal in Seenähe, dann wieder ganz auf den oberen Hügeln – befindet sich ein Aussichtspunkt, auf dem ich liebend gern meine Siesta abhalten würde. Aber alle Sitzplätze sind belegt, auch kein Wunder bei diesem prächtigen Wetter. Ganze Heerscharen von Spaziergängern und Wanderern und Bikern sind unterwegs, machen sich gegenseitig den Platz streitig, aber alles geht in gutmütigem Chaos vor sich.
Schiffe und Autos und Häuser und reiche Leute
Manchmal, etwas überraschend und einen Augenblick lang ärgerlich, biegt plötzlich ein Auto um die Ecke, obwohl man meint, auf Wanderwegen zu sein. Aber eben, inmitten der Anbaugebiete befinden sich Häuser, eher Villen, die hier schon seit Urzeiten stehen und nun an die Enkel mit ihren teuren SUVs vererbt worden sind. Hinter getönten Scheiben sitzen attraktive Damen oder ihre ebenso attraktiven Männer und auf den hinteren Sitzen die nächste Generation an attraktiven reichen Leuten.
Tja, so ist die Welt. Man wundert sich etwas, und geht seines Weges. Alles andere wäre Vergeudung wunderbarer Momente.
Dörfer, doch Restaurants sind rar
Alle paar Kilometer wird man von einem Dorf empfangen, manchmal direkt am See, dann wieder auf den Hügeln. Ich bin durstig, verlange nach einem starken Kaffee oder irgendwas, aber die Etablissements wie beispielsweise in Rivaz oder Chexbres sind alle geschlossen.
Das verstehe ich überhaupt nicht, das Welschland hat doch eigentlich den Ruf, sehr kundenfreundlich und dem Trank zugetan zu sein. Aber sei’s drum, ich gehe weiter, das Leben ist auch ohne Kaffee erträglich, vor allem heute. Ich folge dem Chemin du Dezaley, das ist mal ein Wein, dem ich durchaus zugeneigt bin, vor allem zu einem Fondue.
St. Saphorin – Dorf mit berühmtem Namen
Am Ufer entlang
Nach Epesses (wieder ein Dorf mit einem berühmten Namen) zweigt der Weg zum See hinunter, ich verlasse für den Moment die Weinberge und folge dem Uferweg, mal eine willkommene Abwechslung nach all den Weinreben rechts und links, die nur das Verlangen nach etwas anderem als Hahnenwasser anstacheln.
Schattige Alleen säumen den Wanderweg, die Mittagshitze verzieht sich unter den Bäumen. Manchmal trifft man unerwartet auf knapp bekleidete Leute, die am Ufer sonnenbaden oder sich im Wasser tummeln.
Ein seltsames Zusammentreffen zweier Welten, die in diesem Moment nicht unterschiedlicher sein könnten. Man wirft mir ein paar Blicke zu, man fragt sich wohl, was der komische Wanderer ausgerechnet an diesen Gestaden zu suchen hat.
Aber dann, endlich, ein Restaurant, direkt am See gelegen, sehr voll, ein Gemisch verschiedener Stimmen, Gelächter, Kinder, Babies. Ich lasse mich von der Atmosphäre der Umgebung einlullen, nippe an meinem Kaffee, zurückgelehnt, einfach nur zufrieden, hier zu sein.
Anschliessend folgt der Weg wieder dem See, die Berge auf der französischen Seite scheinen näher gekommen zu sein, vielleicht eine Illusion, ein trompe l’oeil, wie man hier sagen würde. Segelboote lassen sich vom leichten Wind treiben, aber auch kein Wind wäre nicht ein Weltuntergang.
Alte Bäume
Dann plötzlich ein Dorf, Cully, ganz unerwartet, auch wenn mich die Karte längst darauf hingewiesen hat, ein prächtiger Platz direkt am Ufer, Bänke und vor allem ein paar Bäume, die viel zu erzählen hätten, wenn sie denn wollten.
Der eine, ich tippe auf ein Ahorn, wurde 1798 gepflanzt, der andere, dessen Identität ich nicht herausfinde, genau hundert Jahre später.
Die beiden Methusalems strömen trotz ihres fortgeschrittenen Alters unerschütterliche Kraft und Würde aus. Man stelle sich vor, 1798, eigentlich noch mitten in der französischen Revolution, Europa ist im Umbruch begriffen, alles verändert sich, auch die Schweiz.
Und unbeachtet von all den politischen und gesellschaftlichen Wirren wird am Ufer des Genfersees ein Ahornbaum geplanzt, und jetzt, 223 Jahre später, steht der Baum immer noch in all seiner Pracht, während sich die Welt in irrem Tempo weitergedreht hat.
Verrückt und gleichzeitig sehr beruhigend. Es gibt Dinge, die geschehen jenseits von allem.
Die Weinberge zum letzten Mal
Der Weg führt durchs Dorf, dann zweigt er erneut ab in die Weinberge, nochmaliges Vergnügen, doch es sind nun definitiv die letzten Kilometer, bevor es dann endgültig zurück zum See geht.
Bisweilen fühle ich mich, ich weiss nicht warum, von einem Gefühl des Nichtdazugehörens berührt. Ich bin ein Fremder, jemand, der kurz da ist und gleich wieder verschwindet. Man bietet mir Schönheit, ein Geschenk an den Fremden, der geniesst, staunt und nach kurzer Zeit wieder loslassen muss.
Ich weiss nicht, warum diese Gefühle entstehen, ausgerechnet an einem Tag, der so voll von allem ist. Vielleicht ist es die Ahnung des Verlusts, der sich immer dann einstellt, wenn etwas da ist, das zum Verschwinden oder Vergessen verdammt ist.
Seltsame Gedanken. Ich verstehe sie selbst nicht.
Zugängliche Ufer
Wenn ich an den Zürichsee denke, an all die Abschnitte, die als privat deklariert und somit für das gemeine Publikum unzugänglich sind, dann fühle ich mich hier in einer anderen Welt. Ich habe keinen einzigen Meter gesehen, der für die Öffentlichkeit gesperrt ist. Das sollte sich unsere bürgerliche Mehrheit mal zu Herzen nehmen.
Das Ziel kommt näher
Die Dörfer werden dichter, beinahe nicht mehr voneinander unterscheidbar, Lausanne, das heutige Tagesziel ist nahe. Ich geniesse ein letztes Mal die Sicht auf den See, blicke den sich langsam entfernenden Schiffen hinterher, und bin trotzdem froh, dass es nicht mehr weit geht.
Aber dann, ich atme durch, Lausanne, zuerst Lutry, dann Pully und schliesslich Ouchy, wo die heutige Etappe endet.
Allerdings ist mein Weg noch nicht ganz beendet, denn mein Hotel liegt doch noch einige Distanz entfernt. Nach einigem Hin und Her entschliesse ich mich, den Weg zum Hotel zu Fuss zu gehen, eine ziemlich idiotische Entscheidung. Was ich nämlich nicht beachtet habe, ist die Tatsache, dass Lausanne an einem Hügel liegt, ergo muss ich den weiten Weg, notabene nach über 8 Stunden, den Hang hinauf gehen. Ich könnte mich verfluchen, aber so ist es nun mal.
Keuchend und ziemlich am Ende meiner Kräfte erreiche ich schliesslich das Hotel Ibis, checke ein, dusche, suche ein Restaurant und lehne mich vor einem Teller Pasta zurück, müde und zufrieden und sehr sehr glücklich …