Maschhad bleibt hinter uns zurück, wenn alles gut läuft, werden wir uns in ein paar Monaten auf dem Rückweg wieder sehen. Vielleicht immer noch euphorisch, vielleicht enttäuscht, aber sicher verändert. Es gibt ja offenbar kein Land, das den Besucher derart in seinen Bann zu ziehen vermag – und ihn dabei dauerhaft verändert.
Aber im Moment kennen wir kein Zurück, nur ein Vorwärts, und jetzt wird es zum ersten Mal wirklich spannend. Denn Afghanistan ruft, es ist schon ganz nahe. Afghanistan, ein unbekanntes Land, wild, unbezwungen, von unvergleichlicher Schönheit, von Menschen bewohnt, die noch im Mittelalter zu verbleiben scheinen.
Unsere Gefühle sind ambivalent – voller Vorfreude und doch mit einem gewissen Respekt vor dem, was uns da im wilden Land erwartet.
Wir werden sehen …
Turbane, wallende Hosen und Schleier
Wir fahren entspannt entlang der letzten persischen Dörfer in Richtung afghanische Grenze. Die Strecke ist lang, länger als die längste Ausdehnung der Schweiz, und sie führt einmal mehr durch bergiges, ausgetrocknetes Land, und man fragt sich, wie Menschen in diesem lebensfeindlichen Gebiet existieren können.
Die charakteristischen Lehmhäuser weisen nun eine andere Form auf als im westlichen Iran. Nun sieht man nur noch runde Kuppeldächer, Innenhöfe, Lehmgebäude. Die Männer tragen nun durchwegs kunstvoll geschwungene Turbane und weite wallende Hosen, während die Frauen – sofern man sie als solche erkennen kann – nicht mehr ohne Schleier auf der Strasse anzutreffen sind.
Hier treffen unterschiedliche Zivilisationen, unterschiedliche Kulturen aufeinander, die manchmal besser, manchmal schlechter miteinander zu existieren vermögen.
Eine Wagenburg wie im Wilden Westen
Zu unserem Gunsten gibt es kurz vor der Grenze noch eine letzte iranische Tankstelle mit Superbenzin. Das ist nicht wirklich überraschend, denn ennet der Grenze gibt es nur noch das extrem schlechte afghanische Benzin, eigentlich ist es russischer Herkunft, das „Shurevie“ Petrol. Es wird uns noch einige Zeit das Leben schwer machen und unserem eh schon schwachen Motörchen noch zusätzliche Probleme aufhalsen.
Die Grenze wird um 19 Uhr geschlossen, warum wissen die Götter oder zumindest Mohammed oder Allah persönlich. Es gilt also, ein weiteres Mal beim iranischen Grenzposten zu übernachten. Wir bilden zu diesem Zweck (man weiss ja nie) eine echte Wagenburg nach Wildwest Manier, stellen unsere Wagen im Halbkreis auf, drei VW-Busse und ein niedlicher Döschwo.
Ein Grenzpolizist, der eben Feierabend gemacht hat und offenbar noch keine Lust hat, nach Hause zu gehen, setzt sich bei uns in den Wagen. Wir spielen Joker, ein Spiel, das ich ausnahmsweise gut beherrsche, und so kommt es, wie es kommen muss. Der Polizist gibt nach einigen verlorenen Runden entnervt auf und geht schlafen oder wohin auch immer.
Eine denkwürdige Grenzüberquerung
Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir mit den berüchtigten asiatischen Grenzritualen in Kontakt kommen. Man denke nur an die Grenze zwischen der Türkei und dem Iran, was auch schon zu nervöser Unruhe geführt hatte.
Aber das hier übertrifft alles. Auf der iranischen Seite geht noch ziemlich harmlos vonstatten. Nach einer guten Stunde werden wir durch ausserordentlich freundliche und zuvorkommende Grenzbeamte mit guten Wünschen für die Weiterreise entlassen. Merkwürdigerweise liegen zwischen den beiden Grenzposten etwa sieben Kilometer Niemandsland, allerdings trennen diese paar Kilometer Welten.
Viele Jahre später werde ich dieses Phänomen noch öfters erfahren, aber nie so krass wie an der Grenze zwischen Vietnam und Kambodscha. Das Kapitel heisst nicht umsonst „Und plötzlich diese Stille„.
Die Unterschiede zwischen den beiden benachbarten Staaten ist frappierend (auch hier ein Beispiel aus einem späteren Leben – Laos und China). Auf der iranischen Seite Reichtum, Fortschritt, Bildung (eine zynische Feststellung, wenn man an die heutigen Umstände denkt), ennet der Grenze eine ungeheure sichtbare Armut und Rückständigkeit, wie wir sie bisher allenfalls in der Osttürkei angetroffen haben.
Auf der iranischen Seite moderne Gebäude, geteerte Strassen, Büros nach westlichem Muster, elegant gekleidete Zollbeamte, auf der anderen Seite ist es schwierig zu entscheiden, welches der halbverfallenen Gebäude unter Umständen das Zoll- und Grenzgebäude sein könnte.


Der richtige Beamte
Ein Soldat, falls es sich um einen handelt, in einer wirklich grauenhaften Uniform und kahlgeschorenem, ziemlich hässlichem Schädel (ein Template für jeden echten Punkt ein paar Jahre später) weist uns den Weg zu einem der grösseren Gebäude abseits der Strasse.
Der Weg dorthin kann bestenfalls in Schritttempo befahren werden, falls wir nicht frühzeitig schon mit einem Gelenkschaden konfrontiert werden wollen. Die Strasse, falls sie man sie nennen darf, besteht im Wesentlichen aus Gräben und Löchern, dazwischen hügelähnlichen Verwerfungen. Wen wundert’s, denn abseits der Hauptstrassen gibt es keine befestigten Strassen. Das werden wir etwas später am eigenen Leib erfahren.
Irgendwie schaffen wir es mit Ächzen und Stöhnen, unsere Wagen zum Zollgebäude zu fahren, doch da stellt sich ein weiteres Problem – wer gehört nun zu den Zollbeamten und wer nicht? Zahlreiche mit Turbanen und weiten Röcken bekleidete Gestalten stehen im Hof und im Gebäude herum, von denen niemand genau weiss, was sie hier tun oder ob sie überhaupt eine Funktion innehaben.
Nun, Allah ist gross, und so gibt sich eine der Gestalten als Zöllner zu erkennen und drückt uns einen Zettel in die Hand, wobei zu bemerken ist, dass der Zettel zuerst irgendwo zu beschaffen ist. Anyway, nach erfolgreicher Beschaffung des Dokuments, kritzelt der Herr nach einer oberflächlichen Begutachtung unseres Wagens ein paar unleserliche Zeichen auf den Zettel und macht sich von dannen.

Kafka und das Schloss
Leider ist es so, wie wir in den nächsten Wochen noch mehrmals erleben werden. Das, was auf den ersten Blick klar ist, ist alles andere als klar. Im Zusammenhang mit dem Grenzübertritt nach Afghanistan in ganz besonderem Masse.
Nun werden wir nämlich von Pontius bis Pilatus geschickt und wieder zurück. Niemand scheint zu wissen, was zu tun ist, denn auf unsere langsam etwas ungehaltenen Fragen wird nicht geantwortet, denn blöderweise spricht niemand englisch.
Und es ist erst noch Mittagszeit, dann wird erstens gegessen und zweitens geruht. Oder was immer die Herren dann tun. Auf jeden Fall dauert es geschlagene zwei Stunden, bis sich die Herrschaften bequemen, in ihre Büros zurückzukehren und sich mit den unmöglichen Problemen von ein paar langhaarigen Touristen herumzuschlagen.
Nun gut, man könnte sagen, das Spiessrutenlaufen hat zwar keinen ersichtlichen Grund, aber es ergibt letztlich so etwas wie einen Sinn in dem ganzen sinnlosen Theater. Einmal mehr hat Franz Kafke mit seinem „Schloss“ die Blaupause für jede Art bürokratischer Sinnlosigkeit geschaffen. Schliesslich, mit leisem Aufatmen, glauben wir fest daran, dass nun alles in Ordnung ist, und fahren zum Ausgang.
Und oh Wunder, ein Soldat weist uns freundlich, aber sehr bestimmt zurück, denn der Impfschein ist offenbar noch nicht kontrolliert worden.
Ein wahrhaft gelehrter Herr Doktor
Es folgt nun also der Tragödie dritter Teil.
Der Doktor, der unsere Impfzeugnisse unter seine professionelle Lupe nimmt, hat wohl kaum je eine Praxis oder ein Spital von innen gesehen. Er fühlt sich aber von seiner Wichtigkeit überzeugt und lässt es uns genüsslich spüren. Man nennt sowas auch die Ausübung von Macht,
Egal, wir werden diesem Phänomen noch einige Male begegnen, und das wichtigste, was daraus gelernt werden muss, ist Demut. Nicht wütend werden, nicht ausrasten, nicht die berüchtigte westliche Überlegenheit an den Tag legen. Einfach lächeln, auch wenn es weh tut, immer schön servil nicken, dann entspannt sich die Situation meistens.
Das stimmt zwar, aber in diesem Fall macht das Zurschautragen von Demut mehr als nur Schmerzen. Der Herr Doktor nimmt sich nämlich heraus, an unseren Impfausweisen herumzumeckern, gerade so, als wäre er die einzige Instanz, die sowas beurteilen kann.
Natürlich, das begreifen sogar unbedarfte Seelen wie wir, ist er auf einen Bakschisch aus. Da unsere Geduld in der Zwischenzeit aber auf den Nullpunkt gesunken ist – schliesslich sind wir seit Stunden hier – hat er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Wir sind so aufgebracht, dass wir dem guten Doktor beinahe seinen gelehrten Hals umgedreht hätten.
Und wieder zurück zum Ausgang, diesmal in der festen Überzeugung, dass nun wirklich alles in Ordnung ist. Eben, wir sind in Asien, an einem der Orte, wo alles möglich ist, oder eben alles nicht möglich ist.
Kurz – wir werden ein weiteres Mal zurückgewiesen, diesmal ist es die Haftpflichtversicherung. Auch dieses Problem lässt sich mit den allerletzten noch verbliebenen Nerven lösen – und heureka! Das Unfassbare geschieht, und wir können passieren.
Passender Song von 1974: Steely Dan – Rickie don’t lose that Number
Und hier geht der Trail weiter … in Herat