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Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Der schönste Tag

Wer hätte gedacht, dass nach dem gestrigen Regen einer der schönsten Tage des gesamten Trips auf mich wartet?

Es gibt nichts Besseres als positive Überraschungen.

Der Tagesplan sieht tatsächlich eine wunderbare Route vor, für einmal ganz in meinem Sinn:

 

From Einsiedeln to Unterägeri

 

Die Sache mit dem Morgenessen

Ich bin erstaunlich früh wach, werde mir als erstes ein Restaurant im Freien für mein Frühstück suchen, denn mein Zimmer bietet nichts dergleichen. Auf dem Weg nach unten treffe ich auf zwei sportlich aussehende Herren, die offenbar zu einer Gruppe Wanderer aus Italien gehören. Sie treten vor mir aus dem Lift und steuern auf ein reichhaltiges Frühstücksbuffet zu.

Nun gut, ich rede mir ein, dass meine Absichten redlich waren, aber wie man weiss, steckt der Teufel voller Hinterlist. Alles deutet doch irgendwie darauf hin, dass mich mein heutiges Karma in genau diesen Frühstücksraum mit genau diesem wunderbaren Frühstücksbuffet geführt hat. Es gibt keine Zufälle, solche schon gar nicht, also muss dem Willen des Universums Genüge getan werden.

Und so sitze ich mit einem ganz klein wenig schlechten Gewissen vor meinem Teller, daneben Kaffee und Orangensaft, während mir die verantwortliche Dame des Hauses zunickt und guten Appetit wünscht.

Ich bin sicher, dass mir heute irgendeine dumme Sache passieren wird. Wie sagt man so schön, Gott straft sofort.

 

Pilgerwege

Die Tour führt von Einsiedeln auf einem alten Pilgerweg über den Chatzenstrick zum Hochmoor von Rothenthurm und über den Raten zum Aegerisee.

So verspricht es der Führer, ob es allerdings ein Pilgerweg ist, weiss ich nicht, aber es gibt ja ein Netz von solchen Wegen, die meisten im Zusammenhang mit dem Jakobsweg, die kreuz und quer durch die Schweiz führen.

Am Ende gelangt man, wenn Gott und die Muskeln mitgemacht haben, nach Santiago de Compostela in Galizien. Vor vielen Jahren auch einer meiner Wanderträume, aber seit der Jakobsweg einen gewaltigen Hype erfahren hat, mit Millionen von Pilgern, vor allem auf dem Abschnitt über Nordspanien, bin ich davon abgekommen.

Wer sich mit ein paar sehr unterhaltsamen und witzigen Erfahrungen informieren will, der liest am besten den Millionenseller von Hape Kerkeling Ich bin dann mal weg.

Hape Kerkeling, Deutschlands vielseitigster TV-Entertainer, lief zu Fuß zum Grab des heiligen Jakob – über 600 Kilometer durch Spanien bis nach Santiago de Compostela – und erlebte die reinigende Kraft der Pilgerreise. Ein außergewöhnliches Buch voller Witz, Weisheit und Wärme, ein ehrlicher Bericht über die Suche nach Gott und sich selbst und den unschätzbaren Wert des Wanderns.

Es ist ein sonniger Junimorgen, als Hape Kerkeling endlich seinen inneren Schweinehund besiegt und in St.-Jean-Pied-de-Port aufbricht. Sechs Wochen liegen vor ihm, allein mit sich und seinem elf Kilo schweren Rucksack. Er marschiert über die schneebedeckten Gipfel der Pyrenäen, durch das Baskenland, Navarra und Rioja bis nach Galicien zum Grab des heiligen Jakob – seit über tausend Jahren Ziel für Gläubige aus der ganzen Welt. Nach 35 Tagen erreicht er erschöpft sein Ziel – ziemlich geläutert und mit sich selbst im Reinen.

 

Über den Katzenstrick

Man wundert sich immer wieder über seltsame Namen und Bezeichnungen. Katzenstrick? Ich kann mir bei diesem Namen weder bezüglich Katze noch Strick etwas vorstellen, aber sei’s drum, der zu erklimmende Hügel wird auf jeden Fall Katzenstrick genannt.

Kurz nach Einsiedeln führt der Weg zwischen Wiesen hindurch einem bewaldeten Hang entgegen, während Kuhglocken den frohgemuten Wanderer begleiten. Denn frohgemut darf ich mich heute nennen. der Himmel ist so blau wie er nur sein kann, ein paar niedliche Wolken kleben irgendwo im Norden fest, es ist zum ersten Mal so richtig warm. Zeit für einen Tenüwechsel, jetzt sind endlich wieder kurze Hosen und T-Shirt angesagt.

Ich kann gar nicht anders als langsam gehen, denn der Duft von frisch gemähtem Gras wedelt um meine Nase, nur das gelegentliche Rattern eines Traktors durchbricht die morgendliche Stille. Vorbei an mehreren Bauernhöfen steige ich den Katzenstrick hinauf, ein paar Kinder überholen mich lachend. Offenbar beurteilen sie meinen Gang als den eines gebrechlichen alten Kauzes.

Na ja, so unrecht haben sie nicht.

 

Cows accompany me on the way to the Katzenstrick

 

Eine besondere Schule

Eines der Gebäude ganz oben scheint eine Schule zu sein. Die Kinder werden von zwei Erwachsenen begrüsst, offenbar gehen sie hier in die Schule. Sie nennt sich CasaVitura und muss etwas ganz Besonderes sein. Neugierig wie ich bin, erkundige ich bei den beiden Herren, offenbar Lehrer, etwas genauer über dieses Etablissement.

Es handelt sich um ein alternatives Bildungsangebot zur Volksschule, vorerst mit einem Kindergarten und einer Primarschule. Später soll auch eine Oberstufe dazukommen. Das Ziel ist, die Kinder in ihren Fähigkeiten zu stärken, indem ihre Wissbegierde, ihre Entdeckungsfreude und Begeisterungsfähigkeit mithilfe des natürlichen Lernens gestärkt wird.

Natürliches Lernen ist kompetenzorientiert, selbstorganisiert, geschieht ohne strikte Stundenpläne und verzichtet auf Hausaufgaben und Noten. In einer Atmosphäre des gegenseitigen Respekts und des Vertrauens lernen die Kinder, Entscheidungen selbst zu treffen und Aufgaben selbstwirksam zu lösen. Die altersdurchmischte Lerngruppe entspricht dem Bedürfnis, voneinander lernen zu wollen, und fördert das soziale Miteinander. Jedes Kind wird in seiner Herkunft respektiert. Die CasaVitura setzt sich für ein friedvolles Miteinander ein und ist politisch und konfessionell neutral (siehe oben stehenden Link).

Beeindruckt durch den pädagogischen Ansatz und die Ernsthaftigkeit und Überzeugung der beiden Lehrer, bin ich nach einer halben Stunde immer noch am Diskutieren, und habe offenbar vergessen, dass der Weg auch heute weit ist.

 

Das Rothenthurm Hochmoor – Gerettetes Paradies

Vom Katzenstrick führt ein breiter Weg hinunter ins Tal, wo das berühmteste Hochmoor der Schweiz liegt. In der Talebene überquert man Hauptstrasse und Bahn und gelangt schliesslich an einem Pferdegestüt vorbei zum Hochmoor.

 

Way down to the Moor

A bit cutious, a bit anxious

Mutter und Fohlen sind zwar neugierig, treten vorsichtig näher, beschnuppern den komischen Kerl und drehen wieder ab, ziemlich unbeeindruckt, wie mir scheint.

Ich kann mich an die 80-er Jahre erinnern, an die hochemotionale Auseinandersetzung zwischen der Armee und deren zumeist rechtsgerichteten Nein-Sagern sowie den Landschaftsschützern, die die Initiave unterstützten. Man kann sich heute, wo sich viele gesellschaftliche Parameter geändert haben, kaum mehr vorstellen, dass die Armee ausgerechnet auf diesem noch unberührten und selten gewordenen Hochmoor einen Panzerübungsplatz bauen wollte.

Einen Panzer Übungsplatz! Ausgerechnet!

Wer mich kennt, weiss um meine Abneigung gegen das Militär, aber auch weniger militante Landsleute konnten mit der hirnverbrannten und schon damals völlig weltfremden Idee nichts anfangen. Und so führte die damalige Volksinitiave zum Schutz der Moorlandschaften zu einem unerwarteten Erfolg, ein erstes Menetekel an der Wand, das auf die zukünftigen Entwicklungen in der Gesellschaft hindeutete.

 

Moor at Rothenturm

Das Moor darf zwar durchquert werden, allerdings nicht in seiner speziell geschützten Kernzone. Trotzdem erhält der Wanderer einen beschränkten, aber nicht weniger eindrücklichen Einblick in die wilde Pflanzenlandschaft. Es bietet nicht nur Pflanzen, sondern auch Tieren einen geschützten Lebensraum.

Ich zitiere aus folgendem Link:

Im Wechsel der Jahreszeiten spielt das trogförmige Hochtal mit den Farben. Im Frühling schmückt es sich mit einem lila Schleier aus Mehlprimeln. Zitronen-, Segel- und Perlmuttfalter lassen sein Sommerkleid bunt flattern. An kühlen Herbstmorgen trägt es ein Diadem aus Tautropfen. Und im Winter streicheln oft Sonnenstrahlen über die weisse Decke, während im Unterland der Nebel drückt. Bergföhren, Fichten, Gehölz, Auen und die in Mäandern fliessende Biber verstärken den Reiz der Landschaft.

 

protected high moor

The path through the moor

 

Für einmal nicht der einzige

Es wird nun heiss, zum ersten Mal seit Tagen rinnt der Schweiss von der Stirn. Auf dem Aufstieg zum Raten ist niemand zu sehen, von den obligaten Kühen abgesehen. Je weiter man nach oben kommt, nimmt die durchschnittliche Anzahl Personen pro Quadratmeter rapide zu.

Ganze Völkerwanderungen sind unterwegs, die Grillplätze sind voll belegt, Kindergeschrei, Hundegebell, Rauch, Geruch von Würsten und anderem. Sehr schön. Es gibt zwar keine freien Plätze mehr auf den zahlreichen Sitzbänken entlang der Strecke, aber ich geniesse die Gesellschaft. Manch komischer Blick folgt mir, ich spüre die Fragen, die Vermutungen. Egal.

 

On the Raten

Manchmal ist der Weg schnurgerade, dann bin ich plötzlich wieder allein auf weiter Flur, bis mich das Summen eines e-Bikes, im Volksmund „Stromer“ genannt, aufschreckt. Ich werde mich hüten, meine Meinung zu diesen Vehikeln preiszugeben. Ärger wäre mir gewiss.

 

straight ahead

Manchmal muss man einfach Geduld haben, vor allem dann, wenn die Rast längst überfällig ist, und weit und breit keine Sitzbank oder was Vergleichbares in Sicht ist. Das, was dann allerdings im Schatten eines Baumes vor einem kleinen Häuschen auftaucht, ist so ungefähr die State-of-the-Art bezüglich Sitzgelegenheiten für müde Wanderer.

Es kommt mir beinahe so vor, als hätte das Universum zusätzlich zum erschlichenen Gratis-Frühstück noch weitere Highlights im Köcher. Mir soll’s recht sein, aber so ganz traue ich der Geschichte nicht. Auf jeden Fall begehe ich nun eine ausgedehnte Rast, strecke die Beine, schaue mich um, keine Menschenseele weit und breit, der ich einen Platz neben mir hätte anbieten können.

 

a very welcome bench

 

Im Gedenken an Patrick Leigh Fermor

Wenn man wie ich zwischen Bächen und Wiesen und Wälder wandert, taucht irgendwann der Name Patrick Leigh Fermor auf und seine Wanderung durch das alte Europa von 1933. Es ist sozusagen die Ur-Wanderbibel, Bücher, die jeder Wanderer unbedingt lesen sollte. Ich habe ihn bereits in meinen Laosbüchern erwähnt.

Und was für eine Wanderung das war.

Fermor war gerade mal 18 Jahre alt, als er sich 1933 entschloss, durch Europa zu wandern. Er nahm ein Schiff zur obersten Spitze von Holland und lief los, Ziel Istanbul, damals noch Konstantinopel genannt. Man muss sich vorstellen, dass dieses Jahr noch das alte Europa war, das Europa vor dem unsäglichen Krieg, der ein paar Jahre später losbrechen sollte. Die Anzeichen für die kommende Katastrophe sind nicht zu übersehen, und so wandert er durch Länder, deren Verfallsdatum bereits geschrieben steht.

Aber nicht nur das. Zu dieser Zeit gab es weder geeignete Wanderausrüstung noch Wege, geschweige denn Wegweiser. Der junge Mann musste sich den Weg suchen, aber das störte ihn nicht im Geringsten. Während der ganzen Strecke schrieb er Tagebuch, nur um dieses irgendwo im Süden zu verlieren, was ihn zwang, die Notizen aus dem Kopf zu reaktivieren.

18 Jahre alt ist Patrick Leigh Fermor, als er sich aufmacht, Europa zu erkunden. Sein Ziel vor Augen, er will nach Konstantinopel, wandert er zunächst von Hoek van Holland rheinaufwärts. Tief hinein nach Deutschland geht die winterliche Reise, durch Wiesen und Wälder, verschneite Städte, die Donau entlang, nach Wien und Prag, bis in die ungarischen Marschen. Es ist das Jahr von Hitlers Machtergreifung. In seiner poetischen und präzisen Sprache lässt Patrick Leigh Fermor vor unserem inneren Auge das alte Europa erstehen, das wenige Jahre später in Schutt und Asche versinken wird.

Im zweiten Teil seines Reiseberichts nimmt Patrick Leigh Fermor den Leser erneut mit in eine fremde, faszinierende und heute verschwundene Welt. Wir treffen ihn wieder 1934 in Budapest, wo er Bälle und Kaffeehäuser besucht. Auf einem geliehenen Pferd durchquert er die ungarische Tiefebene mit ihren Hirten und Ziehbrunnen, verweilt auf Landgütern, in denen die Zeit aufhört zu existieren, um dann weiterzuziehen bis in die siebenbürgischen Karpaten und zum Eisernen Tor, dem Ende Mitteleuropas.

Interessant ist das weitere Leben Fermors. Im 2. Weltkrieg kämpfte er auf der Seite von Griechenland und wird bis heute als Nationalheld verehrt. Er lebte fast sein ganzes Leben auf Kreta und starb 2011 mit beinahe hundert Jahren.

Eine sehr empfehlenswerte Wanderliteratur, ein grossartiges Leseerlebnis.

 

Wälder und manchmal Wasser

Ich bin froh, dass es nach all den sonnenbeschienenen Wiesen und Abhängen nun in den Wald hineingeht. Es ist, als würde man in eine andere Welt eintauchen, in eine stille, einfache Welt, die nichts bietet ausser Ruhe und Kraft. Oder bilde ich mir das nur ein, dass man automatisch durchatmet, die Brust sich weitet, der Atem flacher wird, der Geist von neuem erwacht? Die romantische Liebe der Deutschen zu ihren Wäldern hat viel zu ihrer Kultur beigetragen, warum das ausgerechnet dort so ist, weiss ich nicht.

Wenn man allerdings zum Beispiel an England denkt, wo die einstigen dichten Wälder bis auf einen kläglichen Rest verschwunden sind, wird man schon nachdenklich. Hat die Beziehung zu den Wäldern ihren Ursprung in der Kultur eines Landes? Oder genau umgekehrt?

Wie bereits erwähnt, beim Wandern hat man Zeit um nachzudenken. Ob die diesbezüglichen Ergebnisse in jedem Fall wertvoll sind, wage ich gelegentlich zu bezweifeln.

 

Into the forest again

 

Dem Ägerisee entgegen

Morgen lege ich einen 1-tägigen Break ein, meine liebe Tante Hildy wird beerdigt. Ich muss also heute Abend nach Hause fahren und werde den Trail übermorgen Samstag ab Meierskappel weiterführen. Der Abschnitt von Unterägeri bis Meierskappel fehlt dann in meinem Reisebericht, aber ich werde versuchen, doch ein paar zwar nicht selbst erlebte oder erwanderte Infos einzubauen.

Der ursprüngliche Plan sah vor, die heutige Nacht auf dem Bauernhof Hinterwiden zu verbringen und zwar auf einem Strohlager. Keine Ahnung, was mich zu dieser ziemlich hirnverbrannten Idee gebracht hat, wahrscheinlich eine bessere Einteilung der Etappen von Unterägeri bis Luzern. Irgendwann, schon beinahe am Tagesziel, liegt zu meiner Rechten ein stattlicher Bauernhof, wahrscheinlich Hinterwiden. Vielleicht habe ich doch was verpasst.

Anyway, der Weg über die hügelige Landschaft über den Raten, den Gottschalkenberg und die Brusthöchi, abwechselnd durch dichten Wald, dann wieder entlang Wiesen, wo das Heu duftet, oder die Höfe, wo die Bauern emsig daran sind, die verlorene regnerische Zeit von letzter Woche nachzuholen. Es dröhnt an allen Ecken und Enden, Traktoren und Maschinen, deren Namen mir nicht geläufig sind, die aber einen erheblichen Beitrag zur Effizienzsteigerung beitragen.

Ich bin selten in solch glücklichem Zustand gewandert. Einmal mehr taucht der Gedanke auf, wie schon früher auf langen Busreisen, dass es nie aufhören möge.

Aber dann taucht er am Horizont auf, der Ägerisee, von weitem ein harmloser Tümpel, dessen Oberfläche das helle Blau des Himmels spiegelt. Unterägeri kommt näher, eines der Paradiese für wohlhabende Expats, eines dieser typisch schweizerischen Steuerparadiese.

 

The Ägerisee from afar

Der Blick auf die SBB-App zeigt mir, dass der nächste Bus nach Zug in einer halben Stunde abfährt. Es heisst also pressieren, steile Asphaltstrassen hinunter ins Dorf, und tatsächlich, ich erreiche die Bushaltestelle in dem Moment, als der Bus einfährt.

Und dann bin ich zurück, wenigstens nur temporär, in der Welt und fühle mich seltsam ungeeignet, beinahe fehl am Platz. Aber so muss es wohl sein …

 

Song zum Thema:  The Parting Gifts – Keep Walking

Und hier geht der Trip ausnahmsweise nicht weiter, aber man sehe selbst …

 

Alpenpanoramaweg

Alpenpanoramaweg – Die schwarze Madonna

In der Nacht – wen wundert’s, dass der Regen wieder mal wie mit Pferdehufen über das Dach galloppiert – entscheide ich mich endgültig für eine alternative Route über die Sattelegg.

Ich werde das Postauto bis zur Abzweigung zum Pass nehmen und dann hoffentlich auf einen geeigneten Wanderweg treffen.

Der eigentliche Plan für heute hätte etwas anders ausgesehen. Ein weiterer Tag mit einer Strecke, die irgendwie seltsam angelegt ist. Das Stöcklichrüz in allen Ehren, aber nochmals viele Kilometer geradeaus bis Lachen? Verstehe ich nicht.

 

From Siebnen to Einsiedeln

Die alternative Route nach Einsiedeln sieht etwas anders aus, ist aber nicht weniger attraktiv:

 

My way from Siebnen to Einsiedeln
Sieht etwas anders aus, aber genauso schön

 

Und doch ein Wanderweg

Nach einem Frühstück in der Bäckerei (meine Pension hat kein derartiges offeriert) im Dorf, fährt das Postauto pünktlich um 9.34 ab. Der Chauffeur hat mir versprochen, mir zu melden, wenn die Strasse zur Sattelegg abzweigt und ich aussteigen muss.

Ein sehr netter Mensch, der sich nach meiner Route erkundigt und versichert, dass es sehr wohl einen Wanderweg über den Pass gibt. Das sind doch schon mal positive Nachrichten. Die Fahrt durch die vielen engen Kurven ist mir bekannt, nicht lange her seit meiner letzten Schneeschuhwanderung da oben.

Meine Füsse versinken im Morast, die Gewitter der letzten Tage haben Spuren hinterlassen. Nach nicht mal 5 Minuten stehe ich zwar auf einem veritablen Wanderweg, dieser gleicht aber eher einem ausgewaschenen Bachbett als einem Pfad.

Egal.

Immerhin werde ich von ein paar Ziegen begrüsst, sie sind offenbar ganz glücklich über die Abwechslung.

 

Argwöhnische Blicke und böse Bemerkungen

Die Strasse ist seltsam still, ich höre keine Motorengeräusche, nur von weiter oben dringt der Lärm von Baumaschinen durch den Vormittag. Es macht den Anschein, als wäre die Strasse für Fahrzeuge gesperrt. Soll mir recht sein.

Weiter oben werden die Geräusche lauter, und tatsächlich, eine Gruppe kräftiger Männer ist daran, die Strasse mit einem neuen Belag zu versehen. Ich, freundlich wie immer, nicke ihnen zu und grüsse, und erhalte im Gegenzug ein paar selten dämliche Blicke.

Sie werfen sich Blicke zu, ich kann beinahe erkennen, was sich in ihren kleinen beschränkten Hirnwindungen abspielt. Ungefähr das gleiche wie gestern, ebenfalls an einer Baustelle, mit dem bezeichnenden Inhalt: „Nun kriechen sie wieder aus den Löchern, der Regen hat aufgehört.“

Irgendwie ist es tröstlich, dass in diesem SVP-Kanton offenbar nicht nur die Ausländer verachtet und gehasst werden, sondern generell jedermann, der nicht zu ihnen gehört. Wenig überraschend, dass im Trupp Arbeiter keine Ausländer zu entdecken sind.

Aber lassen wir das, wenn ich mich ärgern will, halte ich mich an Trumps Rednecks (die es offenbar auch in unseren Breitengraden gibt).

Aber ich muss mir mal ein paar Gedanken dazu machen, Zeit dazu habe ich ja genug.

 

Glück gehabt

Je weiter ich den morastigen Weg nach oben komme, desto sichtbarer werden die Folgen der Gewitter.Ich komme mir vor wie in einem Dschungel in Mittelamerika, einer grünen Hölle, wo alles lebt und wächst und austreibt, wo alles feucht ist und glitschig und irgendwie unheimlich.

Alles riecht nach Feuchtigkeit, nach Moder und Zerfall, nicht so wie sonst, nach trockenem Laub und Tannennadeln, nach Gras und Holz. Ein seltsam abstossender Wald, in den der Regen tiefe Gräben gerissen hat. Manchmal fehlt der Pfad, ist weggeschwemmt worden, man steigt über zerrissene Bohlen, muss höllisch aufpassen, nicht den Abhang hinunter zu schlittern.

 

Swiss forest, looking like a jungle

Wäre ich hier während der Niederschläge durchgegangen, wäre es mir mit Sicherheit schlecht ergangen. Vielleicht ist mir das Glück trotz allem treu geblieben und hat mich während der schlimmsten Gewitter gnädig auf die Linthebene befohlen.

Aber der Wald bleibt hinter mir, die Landschaft öffnet sich, die Passhöhe scheint nicht mehr weit zu sein. Und da sind auch wieder meine mehr oder weniger ständigen Begleiter, eine Herde Kühe, die friedlich auf der Wiese weiden, am Boden sitzen, genussvoll käuen und wiederkäuen und wiederkäuen, bis das Gras endlich die erforderliche Qualität besitzt.

 

Dark clouds again
Und wieder verdüstert sich der Himmel
Cows grazing
Aber die Kühe lassen sich davon nicht gross beeindrucken

 

Die Sattelegg Passhöhe

Es macht mir dank des nicht vorhandenen Verkehrs nichts aus, die letzten Kilometer bis zur Passhöhe auf der Strasse zu gehen. Immerhin bleiben meine Füsse dann trocken.

Es ist was los da oben. Das Restaurant hat geöffnet, viele Ausflügler sind von der anderen Seite hochgefahren. Andere stehen vor der Schranke an der Strasse, offensichtlich genervt, dass man nicht schon früher, also in Willerzell am Sihlsee, eine Warnung über die Sperrung angezeigt hat.

Nun stehen die Motorradfahrer da, verärgert und empört, und müssen wieder den gleichen Weg zurückfahren. Ich erkläre ihnen den Grund für die Sperrung, was aber ihren Frust zu Recht nicht zu mindern mag. Man ist sich einig darüber, dass es wieder einer dieser Schwyzer Schildbürgerstreiche ist. Wie lustig muss doch die Vorstellung sein, ein paar Auswärtigen zu zeigen, wer der Herr im Haus ist.

Wer nun den Eindruck erhält, dass dieser Kanton nicht zu meinen liebsten gehört, hat er recht. Aber ich komme darauf zurück. Der Kaffee allerdings und der Mandelgipfel im Restaurant sind erste Klasse. Immerhin.

 

Dem Sihlsee entgegen

Kurz nach der Passhöhe zweigt ein Weg ab, der hinunter nach Willerzell führt. es handelt sich zwar um einen Bikerweg, ist mir aber egal. Offenbar sind wir bereits so weit, dass es zwar spezielle Wege für Mountainbiker gibt, aber keine solchen für Wanderer. Seltsame Zeiten.

Tatsächlich kreuzen ein paar heftig schnaufende Biker meinen Weg oder überholen mich in rasantem Tempo. Ich habe mir längst abgewöhnt, mich über die Biker auf den Wanderwegen zu ärgern (andere sind nicht so gnädig, sondern ziehen es vor, dem Wandern generell abzuschwören), sie sind nun einfach da und werden nicht mehr verschwinden. Also ist es besser, sich damit abzufinden.

Die e-Mountainbiker sind allerdings ein anderes Kapitel. Auch dazu später …

Und oh Wunder, der Himmel scheint endlich ein Einsehen zu haben und zeigt mir seine blaue Seite. Die Talebene kommt näher, lamgsam zwar, den mein linkes Knie möchte endlich nach Hause. Ein Kirchturm taucht auf, mit rotem Dach, oder scheint es nur so von weitem?

 

The Sihlsee gets closer

Church with red roof

 

Kaffeeklatsch mit Einheimischen

Vielleicht bietet das kleine Café an der Hauptstrasse in Willerzell die Möglichkeit, ein paar böse Gedanken über den Kanton loszuwerden. Ich lasse mich unter einem Sonnenschirm (den braucht’s tatsächlich zum ersten Mal seit Tagen) auf den erstbesten Stuhl plumpsen und bestelle Kaffee und Kuchen (schon wieder; meine geplanten Minuskilos, im Volksmund Corona-Ranzen genannt, verschwinden im Abgrund der Kalorien, aber egal).

Ich offeriere einer älteren Dame, offenbar auf der Suche nach einem schattigen Plätzchen, meinen Sonnenschirm, und daraus entwickelt sich eine lange und lustige Diskussion über Gott und die Welt und den Kanton Schwyz. Sie stammt allerdings aus dem Kanton Zürich, lebt aber in dieser Gegend, ist also sozusagen kompetent zur Beurteilung ihres Gastkantons.

Der Serviertochter (darf man das noch so sagen, oder verstosse ich gegen irgendeine Vorschrift gemäss Political Correctness?) ist offenbar langweilig, sie setzt sich zu uns, eine waschechte Schwyzerin. Und sofort kann man nicht mehr böse sein, ich freue mich über die Offenheit und den Mutterwitz der Frau.

Wir umgehen – wie man das heute unter Freunden und Verwandten macht – die schwierigen Themen und diskutieren über die verschiedenen Anbieter von Einsiedler Schafböcken (für Aussenstehende: ein berühmtes Gebäck, das nur in Einsiedeln angeboten wird) und deren unterschiedliche Qualitäten. Mir wird mit grossem Ernst eingebläut, dass es nur einen wirklich guten Anbieter gibt, und das ist offenbar die Bäckerei „Goldapfel“.

Werde ich mir merken müssen.

 

Über den See – fluchtartig

Natürlich sitze ich viel zu lange bei meinen Gesprächspartnern, merke nicht, dass sich der Himmel wieder dunkel überzogen hat. Verdammt! Damit ich Einsiedeln noch vor dem grossen Sprutz erreiche, muss ich mich sputen. das heisst allerdings, dass ich die endlos lange Brücke über den Sihlsee in schnellen und langen Schritten überqueren muss. Über meine Knie lege ich zur Abwechslung mal den Mantel des Schweigens.

 

And again dark clouds

the endless bridge over the Sihlsee

Ich weiss nicht genau, wann diese vermaledeite Brücke gebaut wurde, wahrscheinlich zu einer Zeit, als das Automobil das einzige und ultimative Mittel zur Fortbewegung bedeutete, auf jeden Fall hat man vergessen, dass es gelegentlich den einen oder anderen Spinner gibt, der zu Fuss darüber möchte.

Es gibt also kein Trottoir, man drückt sich eng an die Absperrung, vor allem wenn grössere Vehikel gleichzeitig vorbeifahren, betet zu Gott, dass alle Fahrer nüchtern sind und auch nicht von der Sonne geblendet werden.

 

Die Schwarze Madonna

Der Einsatz hat sich gelohnt, schwer schnaufend und ein bisschen fluchend über die Torheit der Brückenbauer, erreiche ich das andere Ende der Brücke. Nun fehlt nur noch der letzte Hügel, und schon tauchen in der Ferne die Kirchtürme des Klosters Einsiedeln auf.

Man durchquert zuerst ein langezogenes Gebäude, das zu den Pferdeställen gehört. Das Kloster ist berühmt für seine Pferdezucht.

Ich zitiere: Im Marstall des Klosters Einsiedeln, dem ältesten Gestüt Europas, werden seit über 1000 Jahren Einsiedler-Pferde gezüchtet. Die „Cavalli della Madonna“ wurden wegen ihrer Eleganz, ihres guten Charakters, dem schwungvollen Gang und der robusten Gesundheit geschätzt.

Die drei noch vorhanden Mutterstutenlinien (Quarta/Klima/Sella) gehören zu einem kulturhistorischen Erbe von nationaler, ja sogar internationaler Bedeutung.

 

famous horse breeding

Ich bin nicht das erste Mal hier, also schreite ich mit schnellen Schritten, allerdings einmal mehr bewundernd, an den wunderschönen Pferden vorbei und gelange zur langen Treppe, die zum Klostereingang hinaufführt.

Und Überraschung, mein Hotel liegt gegenüber, ein Katzensprung, ich bin angekommen. Und wieder zeigt meine Pulsuhr, trotz verkürzter Strecke, 17 Kilometer und 6.5 Stunden. Auch kein Wunder bei diesen vielen Café- und sonstigen Ruhepausen.

 

Das Kloster Einsiedeln

Meine Zeit als gläubiger Katholik liegt ein paar Jahrzehnte Zurück, was aber nicht heisst, dass ein Kloster wie das von Einsiedeln nicht trotzdem einen Eindruck hinterlassen kann.

Nach dem Besuch der Bäckerei Goldapfel und dem Kauf zusätzlichen Gewichts von allerhand Gebäck mache ich einen Abstecher zur Kirche. Eine Messe ist im Gang, wie immer bin ich beeindruckt und auch ein bisschen berührt über die Anteilnahme der Gläubigen. Sie hängen an den Lippen des Priesters, einige machen den Eindruck, als wäre das Gebet ihre letzte Hoffnung.

Für viele Besucher stellt die Schwarze Madonna das eigentliche Ziel ihrer Reise dar. Ich zitiere:

Das jetzt schwarze Antlitz und die schwarzen Hände der Madonna, wie auch das Jesuskind, waren ursprünglich farbig gefasst. Sie wurden durch den Rauch und Russ der vielen Kerzen und Öllampen, welche ständig in der engen und dunklen Heiligen Kapelle brannten, im Laufe der Jahrzehnte dunkel, schliesslich silberschwarz. Schon im 17. Jahrhundert sprach man einfach von der „Schwarzen Madonna von Einsiedeln“.

 

Mass in the church

Ich bin mucksmäuschenstill, während ich gemessenen Schrittes zum Altar gehe (nicht so wie einst im Mailänder-Dom, als mitten in der andächtigen Stille mein Handy losbrüllte, ausgerechnet mit Purple Haze von Jimi Hendrix). Die Ausstattung ist von überirdischer Schönheit, so wie in den meisten katholischen Kirchen.

 

Interior 1

Interior 2

Interior 3

Interior 4

Auch wenn man sich über die zweifelhafte Zurschaustellung göttlicher Pracht im Klaren ist (man denke nur an die Finanzierung, die zum grossen Teil durch die Gläubigen erbracht wurde), sieht man darin auch als Nichtgläubiger die Kunst. Das genügt, um doch immer wieder eine gewisse Ergriffenheit zu spüren.

Weniger ergriffen bin ich später beim Essen, Pizza und Rotwein, vor mir an der Wand eines der schrecklichsten Bilder seit langem. Als müsste ich für meine ganz und gar unchristlichen Gedanken im Kloster bestraft werden …

 

terrible painting at the wall of the restaurant

 

Song zum Thema: Jimi Hendrix – Purple Haze

Und hier geht der Marsch weiter … nach Unterägeri