Fuente de Cantos – Zafra
Der Wetterbericht hat sich für einmal nicht geirrt – für heute Vormittag werden heftige Gewitter und Starkregen prognostiziert. Also nicht das, was man sich auf den weiten Ebenen zwischen Fuente und Zafra ohne Schutz wünscht. Erstaunlich, wie schnell man von festen Vorsätzen abweicht, wenn der Himmel nicht blau und sonnig, sondern düster und unheilvoll aussieht.
Wir nehmen also mehr oder weniger frohgelaunt den Bus und lassen uns nach Zafra chauffieren. Das Gewitter scheint allerdings auf sich warten zu lassen, und auch der Himmel lockert sich auf. Wir sind wohl wieder einmal getäuscht worden.
Aber Zafra ist grossartig.
Die Stadt ist genau das, was man sich unter einer typischen Extremadura Ortschaft mit etwas andalusischem Flair vorstellt: mit langen Gassen, umsäumt von hohen Gebäuden, mittelalterlich verwinkelte Altstadt, im Hintergrund vielleicht ein Kirchturm oder eine Burg, im Zentrum ein Platz mit Restaurants und Läden und Bäumen und vielen Menschen.
Zafra
Manchmal fühlt man sich in einer Stadt vom ersten Augenblick an wohl, man schlendert durch die Strassen, Blick links, Blick rechts, voller Bewunderung, dann wieder verständnislos, fragend. So muss es sein, eigentlich ja der Grund für das Hiersein.
Ich setze mich am Hauptplatz in das erstbeste Restaurant, bestelle ein Bier und tue genau das, was ich in solchen Fällen immer tue – ich beobachte das Treiben um mich herum. Die absolut beste und einfachste Art und Weise herauszufinden, wie eine Stadt, ein Land, ein Volk funktioniert.
Es ist eindrücklich und aufs Neue gewohnt und doch anders. Die Menschen sind laut, sehr laut, als würden sie alle unter erheblichen Hörproblemen leiden. Die Kinder sind wild, rennen herum, pure Lebenslust. Soviel Power, soviel Energie, die es zu verschwenden gilt.
Und trotzdem herrscht Gelassenheit, die dem Lärm und Chaos keine grosse Bedeutung zumisst. Man sitzt da, schwatzt (es gibt offenbar immer sehr viel zu schwatzen), trinkt sein Bier oder sein Glas Weisswein und lässt es sich gut gehen. Bei uns zuhause würde man sich automatisch fragen, warum diese Leute an einem gewöhlichen Nachmittag nicht am Arbeiten sind.
Später gesellen sich Zhilin und Frank dazu, wir beschliessen, das Nachtessen gemeinsam einzunehmen und später noch die Festung Alcazar de los Duques de Feria zu besuchen.
Die Burg
Die Festung wird seltsamerweise durch einen Hoteleingang betreten. Man findet sich urplötzlich in festlicher Umgebung und muss die richtige Tür finden, die zur Burg führt. Zhilin weiss Bescheid, ihrem Travelguide sei Dank, und führt uns hinauf zu den mächtigen Türmen.
Das majestätische Gebäude ist eine Art Mischung zwischen einer Burg und einem Palast und diente offenbar dem Herzog von Feria als Wohnsitz.
Und jetzt, kurz nach dem Sonnenuntergang, wenn sich das Licht verdüstert, wird die Stimmung erst richtig majestätisch. Der Himmel über den Türmen wird blau, dann dunkel, und schliesslich versinkt die zu Füssen liegende Stadt in schwarzer Nacht.
Zafra – Villafranca de los Barros
Ich bin erstaunlicherweise schon wieder früh dran, ist es das Alter? So eine Art präsenile Bettflucht? Auf jeden Fall brennt die Lampe beim Turm etwas ausserhalb der Stadt immer noch.
Der Weg nach Los Santos de Maimona (die Spanier wissen um die Bedeutung langer und pompös klingender Namen) ist nicht weit, gut anderthalb fröhliche Stunden, und schon melden sich die nächsten Gelüste nach Kaffee. Und wen treffe ich da, gemütlich ein seltsames Frühstück geniessend – Zhilin und Frank.
La Pampa
Das Wetter ist heute so, wie wir’s gestern erwartet haben, also bedeckt, als würde der Wettergott nach dem gestrigen Reinfall doch noch zeigen wollen, wozu er fähig ist. Wir machen uns nach Maimona gemeinsam auf den Weg, nichts Neues unter der nicht vorhandenen Sonne.
Es geht nun drei Stunden mehr oder weniger durch die Pampa. Nicht besonders anstrengend, mehrheitlich auf ebenen Wegen entlang Bäumen und Büschen und sonst wieder mal gar nichts.
Manchmal sind seltsam geformte Bäume oder ein paar Schafe die einzige Unterbrechung der monotonen Umgebung. Man bleibt stehen, wundert sich ein bisschen, blökt oder versucht es wenigstens, um die Schafe aufmerksam zu machen. Allerdings ohne den geringsten Erfolg. Ich kann es ihnen nicht verübeln.
Immer diese komischen Wesen am Rand der Wiese.
Eben, wie schon erwähnt, die Etappe bringt keine grossen Überraschungen, da ist schon eine alte Ruine eines einstmal stattlichen Hauses eine Rast wert. Man wundert sich über das traurige Schicksal der zusammengebrochenen Gemäuer, versucht sich vorzustellen, wie es wohl früher war. Mit Menschen und Tieren und Hoffnung und Leben.
Alles vorbei.
Die quadratischen Steine, die uns schon den ganzen Weg über die Richtung anzeigen, sind nicht nur sehr willkommene Richtungsweiser, man kann sich drauf setzen und picknicken. Oder man stellt sich stolz darauf und zeigt der Welt, wie es aussieht, wenn man sich auf dem Camino befindet und nichts Besseres zu tun hat-
Aber dann erreichen wir Villafranca, eine Textnachricht weist mich darauf hin, dass die Hotelrezeption nur noch eine halbe Stunde besetzt ist, man bittet mich zu pressieren. Das passt mir zwar überhaupt nicht, aber ich eile trotzdem durch die Strassen, iPhone und Google Maps gezückt, und erreiche schliesslich mein Hotel, gerade noch rechtzeitig. Und das Hotel ist einsame Klasse.
Theo, der Holländer
Anschliessend versuche ich einigermassen vergeblich, ein Restaurant zu finden oder wenigstens einen geöffneten Laden. Samstag, ich hätte es wissen müssen.
Ein älterer Bursche, Typ Pilger, spricht mich auf der Strasse an, ist auf der Suche nach der lokalen Herberge. Natürlich habe ich von Frank und Zhilin mitbekommen, wo sich diese befindet. Auf dem Weg dorthin erzählt der Mann, der sich als Holländer namens Theo herausstellt, dass er an diesem Tag 50 Kilometer gewandert ist. Das nenne ich mal einen rechtschaffenen Pilger.
Immerhin finde ich am Stadtrand einen Supermercado, doch ein offenes Restaurant ist vergebliche Liebesmüh (in einem der zahlreichen Camino Berichte habe ich Folgendes gelesen: Gute Restaurants und Bars in Villafranca de los Barros).
Ich verziehe mich grollend auf mein Zimmer, Dinner auf dem Bett bei TV-Unterhaltung, und da es Samstag ist, wird Fussball geboten. Immerhin.
Villafranca – Torremejia
In meinen Führer steht:
Hier gibt es nichts zu beschönigen. Dies ist eine ausgeprochen öde Etappe. Extreme Nervenstärke ist auf der über 12 km langen wie mit dem Lineal gezogenen schnurgeraden Kiesstrasse gefragt.
Das kann ja heiter werden. Auf jeden Fall bereite ich mich mental auf einen besonders langweiligen Tag vor, und dieser Tag beginnt sehr früh. Die Dame des Hauses hat mir versichert, dass es in der Nähe eine Bar gibt, die sehr früh geöffnet hat. Ich stehe also kurz nach sechs vor der vermeintlichen Bar und werde, wie erwartet, schliesslich ist es Sonntag, bitter enttäuscht.
Also zurück ins Hotel, ein weiteres Mal essen auf dem Bett, hartes Brot und Wasser und Schokolade. Ich komme mir langsam vor wie ein Gefangener in einem mittelalterlichen Verlies.
Dann aber ziehe ich los (vergesse beinahe meine Stöcke im Zimmer), es ist kein Laut zu hören, die Stadt schläft sonntags in der Früh den Schlaf der Gerechten.
Und zum ersten Mal muss ich das Flashlight meines iPhones benutzen, als ich am Stadtrand in die vollkommene Dunkelheit eintauche. Die Wegweiser sind kaum zu erkennen, aber was soll ich sagen? Es gefällt mir ausserordentlich gut.
Dunkelheit über der Welt
Es dauert gerade mal eine halbe Stunde, als ich hinter mir die Geräusche eines Schnellzugs vernehme. Kaum habe ich mich umgedreht, prescht Theo mit Riesenschritten an mir vorbei, ein kurzes Hallo und weg ist er. Gestern 50 km? Jetzt glaube ich ihm jedes Wort.
Irgendwann taucht auch Frank aus der Dunkelheit, Zhilin hingegen kämpft mit ihren Blasen und hat offenbar Verspätung.
Doch die Schwärze der Nacht schleicht sich langsam davon, der Himmel löst sich aus der Dunkelheit und zeigt ein gesprenkeltes Gesicht, das aber irgendwie perfekt zu diesem Morgen passt.
Nach etwas mehr als 2 Stunden, in der Zwischenzeit ist es hell und sonnig geworden, beginnt die 15 km lange bolzengerade Strecke.
Die endlosen Kilometer
Der Camino verliert sich am Horizont. Ich ahne es schon – das wird nicht das letzte Erlebnis dieser Art bleiben. Soll mir aber recht sein, denn aus unerfindlichen, absolut nicht rational zu erklärenden Gründen, mag ich diese endlosen Strecken, deren Enden im Unendlichen zu sein scheinen.
Da kommen mir doch gleich wieder die nomadischen Gene in den Sinn. Sollte es tatsächlich Menschen geben, die uralte Gen-Schnippsel in sich tragen, Genkomponenten unserer Vorfahren, die nichts anderes taten, als täglich zu wandern?
Irgendwie gefällt mir dieser Gedanke.
Irgendwann taucht auch Zhilin auf, doch sie hinkt und scheint starke Schmerzen zu haben. Sie ist aber wie erwartet zäh, wie man das von asiatischen Damen erwartet, und geht schon mal mit langen Schritten voraus, bis ich weit vorne nur noch ihr pinkes T-Shirt erkenne.
Dann wird sie langsamer, ich hole sie wieder ein, vielleicht eine kurze Rast, dann eilt sie wieder davon, bis das Spiel von vorne beginnt.
Wir durchqueren nun das zentrale Wein- und Oliven-Gebiet der Extremadura. Der Weg verläuft den langgezogenen Reihen von Olivenbäumen und Rebenstöcken entlang. Der Geist legt eine Pause ein, die Monotonie der Umgebung lähmt jeden Gedanken, und so geht man vor sich hin, Schritt um Schritt dem Horizont entgegen, der immer gleich weit entfernt scheint.
Doch auch die längsten Strecken enden irgendwann. Nur schon die erste Kurve nach den 15 km ist wie eine Offenbarung und wird mit lautem Hurra begrüsst.
Die letzten Kilometer bis Torremejia gehen Zhilin und ich gemeinsam. Ich kann ihr ansehen, dass sie leidet, dass die Blasen an den Füssen schlimmer werden. Und so zähle ich die Kilometer für sie. „Noch fünf, noch vier, noch drei, wir haben’s gleich!“
Die Häuser tauchen auf, zurück in der Zivilisation.
Das Hotel, das keines ist
Eigentlich habe ich eine Reservation via hotels.com und den Preis bereits vorgängig bezahlt. Das Hotel entpuppt sich aber als normale Herberge. Der Inhaber weiss nichts von einer Reservation, er behauptet, noch nie was mit hotels.com zu tun gehabt zu haben und verlangt den üblichen Übernachtungspreis von 15 Euros.
Das wird eine saftige Reklamation geben (und tatsächlich, die Kosten werden vollumfänglich zurückerstattet).
Am Abend treffen wir uns alle im einzigen geöffneten Restaurant, auch Theo gesellt sich dazu. Im Hintergrund läuft 80-Jahre Pop, und Frank und ich wettstreiten um das Erkennen der Songs.
Theo hingegen hat grosse Pläne, denn er will in einem Monat bereits in Santiago ankommen. Wow, ich bin froh, wenn ich in einem Monat die Hälfte der Strecke geschafft habe.
Aber er ist auch sonst ziemlich eigen. „Theo, der erste Camino? … Ja, und der letzte … Warum denn? … Ich war noch nie im Ausland und werde auch nie mehr Holland verlassen … Wirklich? Wieso denn? … Es gefällt mir in Holland, warum soll ich ins Ausland gehen?“
Dem ist nichts beizufügen.
Torremejia – Merida
Das übliche Chaos beim Aufstehen (langsam entwickelt sich bei mir eine toxische Abneigung gegen Herbergen jeder Art, denn auch die Nacht war alles andere als angenehm). Natürlich ist Theo bereits weg, auf dem rasenden Weg nach Santiago, wir werden ihn nicht mehr wiedersehen.
Immerhin werden wir vom Gastwirt köstlich bewirtet, wahrscheinlich will er die gestrige Abfuhr vergessen machen, was ihm durchaus gelingt.
Die heutige Etappe verläuft ohne schnurgerade Strecken oder spektakulären Landschaften. Das ist uns ganz recht, denn der Himmel hat sich für heute schon wieder ein beleidigtes Gesicht aufgesetzt. Wir lassen es ruhig angehen, Frank meist voraus, wir beiden Alten oder Hinkenden weit dahinter. Dann und wann trifft man sich wieder, diskutiert das Gesehene und das Vorausliegende und ist trotz grauer Wolken gut gelaunt.
Wie gesagt, man könnte sich glatt bedroht fühlen bei dieser Ansammlung von grauen Gespinsten am Himmel. Dabei haben wir uns auf Hitze eingestellt, auf Schweiss und Sonne. Aber fromme Pilger, die wir nicht sind, geben einen feuchten Dreck auf solch wichtigtuerische Warnsignale und zeigen dem Himmel den Mittelfinger.
Merida und seine Brücke
Nach knapp 5 Stunden liegt uns Mérida zu Füßen. Die berühmte Brücke mit einer Länge von 792 Metern, ein echt römisches Wunderwerk, ist schon von weitem zu erkennen, und die Schritte werden unwillkürlich schneller.
Früher marschierten hier Kohorten und Legionen über diese 60 Bögen, man glaubt, das Donnern der Schritte zu hören. Und heute? Heute sind es Radfahrer, Spaziergänger und gelegentlich ein Wanderer, der der Welt zeigen will, dass er es geschafft hat. Na ja, zumindest bis Merida. Aber was sind schon 200 km, wenn noch 800 warten.
Alles ist relativ.
Passender Song: AI Marconi – Placido
Und hier geht der Camino weiter … und bleibt einen Tag in Merida