Der moderne Mensch hat keine Zeit, sich Zeit zu lassen.
Tausend Dinge sind zu erledigen, tausend Termine einzuhalten, während zehntausend Gedanken durch den verwirrten Kopf schwirren.
Eine Untersuchung hat ergeben, dass die Gedanken eines durchschnittlichen Menschen im Verlauf eines Tages zu fast hundert Prozent den Gedanken entsprechen, die er schon Millionen mal gedacht hat. Es kommen also NULL neue dazu, nur das längst durchgekaute Zeugs.
Was machen wir nun mit dieser umwerfenden Erkenntnis? Darüber nachdenken? Das lassen wir lieber …
Zeit im Überfluss
Aber heute ist alles anders, heute ist die Zeit im Überfluss vorhanden, denn es gilt den unbekannten Planeten namens Chapeco zu entdecken. Und vielleicht kommt ja doch noch der eine oder andere neue Gedanke dazu.
Und trotzdem stellt sich die Frage, wie man einen ganzen Tag in einer unbekannten, eher uninteressanten Stadt verbringt. Oder ist das die Chance, etwas zu entdecken, wonach man gar nicht gesucht hat?
Wo fängt man an? Einfach mal ins Freie gehen und die Augen offen halten?
Mal sehen.
Chapeco
Chapeco ist eine der zahlreichen kleinen Städte, die über das Land verstreut sind. Brasilien ist mehr als Rio oder Sao Paulo, mehr als der Pantanal oder der Amazonas, es ist auch, wie in den meisten Ländern, das Land der Dörfer und kleinen Städte. So wie Chapeco. Die Einwohnerzahl mit über 200’000 ist bescheiden (für brasilianische Verhältnisse), doch genau die richtige Grösse für ein entspanntes Leben.
Immerhin, es gibt eine Kathedrale (wieder mal eine), ein Monument (überraschend), ein Fussballstadion (dazu später mehr), ein Shoppingcenter (wer hätte das gedacht) und viele Strassen und Gassen und Restaurants und Strassencafès (und – wie sich später herausstellen wird -, eine Vielzahl von Apotheken und Drogerien, die von mangelnder Gesundheit klagen).
Klingt doch gar nicht so schlecht.
Ich mache mich also auf den Weg ins Unbekannte.
Das Hotel befindet sich an einer endlos langen Strasse mit dem hübschen Namen Nereu Ramos (wahrscheinlich einer dieser unbekannten Heroen, von denen es in der kriegerischen Geschichte des Kontinents wahrlich viele gibt), doch schon nach kurzer Zeit stolpere ich, mehr zufällig als geplant, über die Hauptstrasse, die direkt zum weit entfernten Shopping Center führt.
Der Himmel brennt
Es ist ein sehr nette und breite Strasse, mit zwei Fahrstreifen für die Autos, mittendrin ein grüner Streifen mit Bäumen gesäumt. Der erste Eindruck ist schon mal vielversprechend. Und da – nach nicht mal zwei Minuten – Banco do Brasil! Mit einigen ATMs. Ich bin seltsamerweise nicht überrascht. Etwas, womit man auf diesen Reisen immer wieder rechnen muss, ist, dass alles anders ist als erwartet. Also auch hier.
Die Bank präsentiert eine Anzahl ATMs, nicht alle in funktionsfähigem Zustand, aber einer genügt ja. Ein überraschend gutes Gefühl, wieder Bargeld in der Tasche zu haben.
Das Shoppingcenter bleibt also ein Phantom, was mir auch recht ist, denn das, was da vom Himmel brennt, hat es in sich. Ich drücke mich mit Vorteil der schattigen Strassenseite entlang, sehr langsamen Schrittes, denn der Blick auf die Uhr zeigt, dass es immer noch gut zehn Stunden bis zur Abfahrt nach Foz do Iguaçu sind.
Das ist eine der Eigenheiten der Zeit. Sie wird erst richtig spürbar, wenn man davon im Überfluss hat.
Schaufensterkrankheit
Man fällt ganz automatisch in einen eigenen Rhythmus, und als würde man an der Schaufensterkrankheit leiden, man bleibt vor Läden stehen, die man im Normalfall kaum beachten würde (Schaufensterkrankheit: die Mediziner wissen, wovon ich spreche, nämlich von der chronischen arteriellen Verschlusskrankheit der Extremitäten, die die Betroffenen beim Gehen stört und sie immer mal wieder – z.B. vor Schaufenstern – einhalten lässt).
Gut zu wissen für spätere Zeiten.
Ich werde zugunsten meiner Leser nicht alle Läden aufzählen, denn von denen gibt es viele, mein Gott. Was hingegen nach kurzer Zeit auffällt, ist die Anzahl der Apotheken und Drogerien. Grob geschätzt findet sich alle hundert Meter entweder die eine oder die andere. Ja, Herrgott, sind die Leute hier alle krank? Oder zumindest Hypochonder? Ich würde ja gerne mal nachfragen, allerdings fürchte ich, dass meine harmlos gemeinte Frage nicht unbedingt auf Verständnis stossen würde …
Aber es macht doch nachdenklich.
Die fünfhundertste Kathedrale
Ich habe zwar dem katholischen Glauben längst abgeschworen, doch manchmal, vor allem hier in Südamerika, wo es öfters schlicht nichts anderes zu bewundern gibt, bin ich zu einem überraschend fleissigen Besucher von Kirchen und Kathedralen und Basiliken und Beichtstühlen geworden.
So auch heute.
Die örtliche Kathedrale, imposant und vom Baustil her attraktiv, ist ein Beispiel für viele. Nach alter Gewohnheit (schliesslich habe ich drei Jahre lang eine Klosterschule besucht) ziehe ich die Mütze vom Kopf in trete ein in die heiligen Hallen … und bin verblüfft.
Wie gesagt, meine katholische Vergangenheit hat offensichtlich immer noch Spuren hinterlassen, und so bestaune ich seltsam berührt den kargen Innerraum, die bescheidene Bestuhlung, vor allem aber die kunstvollen Fenster, die mich ein wenig an die Fraumünsterkirche in Zürich erinnern, nicht gerade wie die grossartigen Fenster Marc Chagalls dort, aber doch irgendwie schön.
Zaghafte Kommunikationsversuche
Nach dem Ausflug in die spirituelle Welt verziehe ich mich in eines der vielen Strassencafés. Die Bedienung in einem der Restaurants, ein junges, ausnehmend hübsches Mädchen, von denen es hier eine ganze Menge gibt, versucht ein paar zaghafte Englischbrocken. Allerdings beschränkt sich ihr Wortschatz auf ein paar wenige Begriffe, sodass unsere Unterhaltung leider kurz und wenig informativ bleibt. Dafür bedienen wir uns dessen, was übrig bleibt: Blicke, Lächeln, Nicken. Manchmal braucht es nicht mehr.
Aber irgendwie verstreicht die Zeit, die Sonne versinkt hinter den Häusern, endlich wird es etwas kühler. Ich setze mich zu einigen Männern in ein Strassencafé, bestelle eine brasilianische Cerveja und nicht Heineken, was bei den Männern zum Daumen hoch führt. Ich versuche, der lautstarken Unterhaltung zu folgen. Es geht auf jeden Fall um Fussball (wie überraschend), doch was ihr Staccato im Detail zu bedeuten hat – keine Ahnung.
Chapecoense
Das Thema Chapecoense lässt mich aber nicht los, und so frage ich, was denn genau geschehen ist an jenem unheilvollen 23. November 2016. Die Männer werden anfangs ganz still, als würde die Frage die Erinnerung wieder wachwerden lassen. Ich verstehe nicht alles, kann aber einigermassen folgen. Ich habe zwecks genauerer Infos am Abend Wikipedia zu Rate gezogen. Das sind die wichtigsten Aussagen (es wird einem übel dabei).
Es scheint, wie immer in solchen Fällen, das eine Menge unglücklicher Umstände zur Katastrophe geführt hat.
- Die Flugstrecke war mit 2994 km länger als die vom Hersteller mit 2965 km angegebene treibstoffbedingte maximale Reichweite des Maschinentyps.
- Ein nach Angaben der Fluggesellschaft geplanter Zwischenstopp am Flughafen Capitán Aníbal Arab, Cobija an der Grenze zwischen Brasilien und Bolivien zum Auftanken war entfallen, da der Flughafen nach Sonnenuntergang geschlossen wird.
- Laut Mitschnitten der letzten Funksprüche baten die Piloten dem Tower gegenüber zwar um Priorität für die Landung wegen Treibstoffmangels, unterließen es aber bis zuletzt, eine Luftnotlage zu erklären.
- Sie erhielten keine sofortige Landeerlaubnis, sondern mussten noch zwei Warteschleifen fliegen.
- Die Piloten meldeten kurze Zeit später, zwölf Kilometer vor dem Flughafen, die Elektrik sei ausgefallen und der Treibstoff verbraucht. Dann brach der Funkkontakt ab.
Also hat einmal mehr menschliches Fehlverhalten bewirkt, dass eine junge talentierte Mannschaft, der Stolz ihrer Stadt, einen sinnlosen Tod fand.
Man sieht es den Männern an, dass die Erinnerung immer noch schmerzhaft ist. Es ist still geworden am Tisch. Draussen zieht der Verkehr lärmend vorbei.
Den Tag in Stücke gehauen
Und dann wird es tatsächlich halb zehn, ich habe den Tag erledigt, erschlagen, in Stücke gehauen, und ein Taxi bringt mich zum Busterminal, wo mein Bus tatsächlich schon bereit steht.
Ich habe einen Platz ganz zuhinterst, was nach meiner Erfahrung eine kleine Chance bedeutet, dass der Platz daneben leer bleibt. Normalerweise wählen die Leute lieber Sitze weiter vorn im Wagen, wo es weniger schaukelt. Der Sitz ist einigermassen bequem, auch wenn sich die Schlafposition partout nicht fixieren lässt. Es ist allerdings auch zu dieser Nachtstunde noch so heiss, dass nicht mal die Klimaanlage Abhilfe schaffen kann. Also für einmal kein Herunterkühlen auf arktische Verhältnisse. Irgendwann, bereits dösend, ist es Mitternacht und somit Samstag …
Kilometerstand: unbekannt
Song zum Thema: Nick Cave – Idiot Prayer
Und hier geht der Trip weiter … nach Foz do Iguaçu