Wissen wir eigentlich jeweils, was sich im Land, das wir eben durchqueren, abspielt? Gesellschaftlich? Politisch? Wahrscheinlich nicht oder bestensfalls in kleinsten Happen. Dabei durchläuft Pakistan im Jahr 1975 eine Zeit des Wandels und der politischen Unruhen. Zulfikar Ali Bhutto ist noch Premierminister, doch bereits in zwei Jahren wird General Zia-ul Haq die Macht übernehmen, was die Einführung der Militärherrschaft bedeutet.
Und was wir auch nicht wissen, für die Pakistaner aber das Ereignis des Jahres darstellt: Pakistan verliert im Land-Hockey ein Titelmatch gegen Indien. Welche Blamage, welche Katastrophe!
Das alles spielt sich irgendwo in diesem riesigen Land ab, während wir von allem nicht die leiseste Ahnung haben und uns seelenruhig nach Norden treiben lassen.
Lahore Chaos
Es bleibt auch beim zweiten Besuch so – Lahore ist eine chaotische Stadt. Und irgendwie auf unangenehme Weise aggressiv. Sind es die dichten Menschenmassen, die sichtbare Armut, die Unterschiede zu uns Westlern, die Abgründe zwischen uns? Man weiss es nicht. Es fehlt uns die gemeinsame Sprache, um uns zu verstehen. Aber eben, es ist nicht nur die Sprache, es ist alles andere.
Man fühlt sich nicht recht wohl, und der Gang durch die Strassen ist vor allem für unsere weiblichen Begleiterinnen eine Herausforderung. Da greifen im dichten Gewühl schon mal unsichtbare Hände zu, die Berührungen führen zu heftiger Abneigung der Damen. Da nützen auch die grimmigsten Gesichter nichts. Nicht umsonst steht das Land in ihrer Bewertung ziemlich am Schluss.
Crazy!
Durchs Treibhaus
Natürlich hätten wir neue Routen vorgezogen, beispielsweise durch den Süden von Pakistan, dann via Quetta zur iranischen Grenze und von dort nach Kerman und schliesslich Isfahan, ein Ort, den wir schmerzlich vermisst haben.
Aber eben, diesmal wählen wir die einfachere Variante, und zugegeben, es macht auch Spass, bekannte Orte ein zweites Mal zu sehen. Das Erlebnis ist auf jeden Fall ein anderes, denn der Blickwinkel hat sich verändert.
Wir fahren in eher gemächlichem Tempo dem Norden zu, im Wissen, dass sich spätestens nach der Grenze zu Afghanistan so etwas wie Winter auf uns wartet. Im Moment sind die Temperaturen hoch, ebenso die Luftfeuchtigkeit. Winter? Schnee? Unvorstellbar!
Also gibt es keine Eile, der Vorwärtsdrang hat sich gelegt, wir sind nun so etwas wie behäbige Traveller geworden, die alles kennen und durch nichts mehr aus der Ruhe gebracht werden können.
Und so stoppen wir in den dicht bevölkerten Orten, lassen uns treiben, bewundern einmal mehr die Dynamik des Lebens, dieses Treibhaus aus Millionen von Menschen und Tieren.
Stopover in Islamabad
Zugegeben, der erste Besuch in Islamabad war nicht von überwältigend positiven Gefühlen begleitet. Die Vorstellung einer typischen Stadt auf dem indischen Subkontinent? Also entflohen wir nach Rawalpindi, dessen Chaos eher unseren Vorstellungen entsprach.
Nun, wir geben der Stadt eine zweite Chance, denn warum nicht noch ein paar Tage in der Wärme verbringen, wenn im Norden die Kälte droht?
Im Unterschied zur Hinfahrt machen wir uns diesmal schlau. Im Jahr 1975 ist Islamabad (und nicht Karachi, wie man meinen könnte) die Hauptstadt Pakistans und befindet sich in einem eigentlichen Wachstums- und Entwicklungsprozess. Sie ist bereits als Planstadt konzipiert und entwickelt worden, nachdem Pakistan 1960 beschlossen hatte, die Hauptstadt von Karachi nach Islamabad zu verlegen (der Grund ist unklar). Die Stadt ist bekannt für ihre gut durchdachten städtebaulichen Planungen und gilt als eine der am besten geplanten Städte in Südasien.
Und ganz ehrlich, unser Bedarf an asiatischem Chaos ist gedeckt, also dürfte diese Stadt eine willkommene Abwechslung bedeuten. Ein neues Phänomen? Wir sehnen uns nach westlicher Ordnung und Sauberkeit? Eher friert die Hölle ein.
Der Tarbela-Staudamm
Wir verbringen also ein paar erholsame Tage, machen all das, was gelangweilte Reisende tun, also nicht viel. Immerhin benutzen wir die Gelegenheit, um den Bau des grössten Staudamms der Welt zu besichtigen – den Tarbela-Staudamm.
Der Staudamm liegt nur etwa 50 Kilometer nordwestlich von Islamabad, also genau richtig für einen Ausflug zu einem noch im Bau begriffenen Damm. Er wird in Zukunft einen bedeutenden Teil von Pakistans Bedarf an elektrischem Strom aus Wasserkraft abdecken.
Die Talsperre ist ein Teil des „Indus Basin Project“, das 1960 in einem Vertrag zwischen Indien und Pakistan beschlossen worden ist. Der Vertrag sichert Pakistan Wasserzuflüsse unabhängig von Indiens Kontrolle über die Flussoberläufe. Die Talsperre gleicht den Abfluss des Indus während der verschiedenen Jahreszeiten aus.
Beeindruckend!
Gewaltige Baumaschinen wirbeln Staubwolken auf, die bis zum Himmel steigen. Immerhin handelt es sich hier um das grösste Staudammprojekt der Welt, da haben sich wohl einige Firmen, wohl auch westliche, ihren Anteil vom Kuchen gesichert.
Das untere Bild zeigt eine Aufnahme neueren Datums, also nach der Fertigstellung des Damms (zwei Jahre nach unserem Besuch).
Als möchte uns das Land vor der endgültigen Abreise noch ein letztes Mal zeigen, wo der Hammer hängt – ein Generalstreik bringt das Leben zum Erliegen. Alles geschlossen, kein Benzin erhältlich, überall Ausweis- und Strassenkontrollen. Na ja, wir verneigen uns vor deiner Entschlossenheit und ergeben uns dem Schicksal.
Aber dann … vorbei mit schönen Zeit an der Sonne
Die schönen Zeiten neigen sich nun endgültig dem Ende zu. Wir übernachten ein letztes Mal an der Wärme in Peschawar, doch auch hier scheint sich der Winter eingenistet zu haben. Was natürlich eine Übertreibung ist, denn die Temperaturen liegen immer noch zwischen 20 und 30 Grad.
Dann also Abschied vom indischen Subkontinent, von den betäubenden Gerüchen, von den das Auge betörenden Farben, vom Lärm der Verkäufer am Strassenrand, vom ewigen Gehupe, von den Menschen, die uns trotz allem ans Herz gewachsen sind. Ob wir wollen oder nicht, es ist eine Liebe entstanden, ganz unerwartet, und wie die späteren Jahre zeigen, eine dauerhafte.
Zwar noch nicht ganz bewusst, und doch sehen wir die Zeichen am Himmel, dass der Sommer vorbei ist, endgültig. Afghanistan wird kalt sein, ebenso der Iran. Von der Osttürkei, wo es im Winter minus 40 Grad sein kann und die Lastwagen in der Nacht den Motor laufen lassen, damit der Diesel nicht geliert, ganz zu schweigen.
Warum zum Henker sind wir nicht noch ein paar Wochen an der Sonne geblieben?
Nun denn, ein letztes Mal der Khyberpass, diese ultimative Herausforderung eines Gebirgspasses, der so viele historische Ereignisse entscheidend geprägt hat. Für uns bedeutet es zwar kein historisches Ereignis, mehr eine nochmalige Tortur über schlechte Strassen entlang tiefer Abgründe.
Immerhin werden wir auch diesmal weder überfallen noch sind andere Kalamitäten zu beklagen.
Ja, und dann sind wir zurück in Afghanistan. Vor uns liegen wieder die Berge, und ach, die Gipfel schimmern schneebedeckt und kalt. Wir erwarten das Schlimmste.
Passender Song von 1975: Camel – The Snow Goose
Und hier geht der Trail weiter … im geliebten, diesmal äusserst winterlichen Kabul