Tage zum Vergessen

Manchmal kommt es uns vor, als würden wir uns von einem Tag zum anderen kämpfen. Es gibt gute Tage, wo alles wie geschmiert läuft, und die anderen, die komplett verschissenen Tage. Denn das, was wir hier tagtäglich machen, ist Stress pur, vor allem für den Fahrer. Es ist mit nichts zu vergleichen, was wir von zuhause kennen.

An solchen Tagen frage ich mich, warum ich mir das antue. Wenn ich ununterbrochen auf die Hupe drücken muss. Wenn weder die Fussgänger noch die Radfahrer noch die Kühe oder Ziegen oder Hunde zur Seite ausweichen. Wenn man alle paar Minuten von der Strasse gedrängt wird. Wenn man geschlagene zehn Stunden unterwegs ist und kaum 100 km schafft.

Heute ist einer dieser Tage.

Die Strecke, die zum Teil über das Dekkangebirge führt, ist abwechslungsreich, wenn auch mühsam zu befahren. Die Strassen sind wie gehabt sehr eng, sehr schlecht, aber trotzdem mit allerlei Volk zu Fuss oder auf Rädern unterwegs.

Der Dekkan allerdings, dieses uralte Gebirge, das schon bald keines mehr ist, lädt zum Verweilen ein. Steil abfallende Hänge, an deren Grund nichts zu erkennen ist, an denen schwarzgesichtige Affen herumturnen.

Viele Jahre später werde ich wieder auf den Ghats unterwegs sein, nicht mehr in einem abgefuckten VW-Bus, sondern in einem abgefuckten Local Bus. Viel hat sich nicht verändert.

Lampen, Spiegel, Benzin

Knapp 400 km, ein Klacks würde man meinen, wenn da nicht die indischen Strassen, die indischen Verkehrsteilnehmer wären. Die erste Kalamität – unsere kostbare Lampe, das einzige Licht an dunklen Abenden, die bei einer scharfen Rechtskurve aus dem Kasten fällt und das Glas zerbricht.

Dann ist unser Bus an der Reihe, an sich ein Wunder, dass wir es bisher ohne Schrammen geschafft haben. Die Strasse ist schmal, Ausweichen ist unmöglich, ein Bus kommt mit übersetzter Geschwindigkeit entgegen. Ergebnis: der rechte Seitenspiegel verabschiedet sich.

Selten, aber nicht unmöglich, kann es passieren, dass man in den abgelegenen Regionen keine Tankstelle findet. Das geht vor allem dann an die Nerven, wenn sich die Anzeige bedrohlich dem Empty-Status nähert. Natürlich muss es an diesem vermaledeiten Tag passieren. Mit einigermassen grimmigem Gesicht fülle ich also von meinem letzten Superbenzin nach.

Der Himmel ist nahe

Doch nicht alles ist schlecht an diesem Tag. Manchmal, ganz unerwartet, eine Kamelkarawane, dann wieder ein Elefant samt heiligem Mann auf seinem Rücken. Man bleibt stehen, bestaunt uns genauso wie wir sie, und wundert sich über unsere so unterschiedlichen Welten.

Es sind diese erwarteten und doch überraschenden Begegnungen, die unsere Reise trotz der vielen Probleme zum Abenteuer machen. Deswegen sind wir hier, auch wenn wir es nicht immer auf Anhieb verstehen. Wir sind da, um zu staunen, um zu bewundern und zu wundern. Der Himmel in Indien ist ganz nahe und doch wieder so weit weg. Wie sollen wir in unseren jungen, so unendlich dummen Jahren verstehen, was wir hier tun.

Alles ist sein. Pures Sein.

Das Gesetz der Strasse

Die philosophischen Gedanken zu unserem Hiersein bringen uns nicht weiter, denn die Wirklichkeit ist das, was den Tag ausmacht. So zum Beispiel die Radfahrer auf der Strasse.

Wir haben sie in der Zwischenzeit hassen gelernt. Überzeugt, die Strasse für sich zu haben, fahren sie prinzipiell mitten auf der Strasse. Erst nach langem Hupen bequemen sie sich widerwillig, die Strasse freizugeben.

Man staunt über ihre Dummheit. Oder ist es ganz einfach ein Versuch, uns den Finger zu zeigen? Wir haben ja keine Ahnung, was sie wirklich von uns denken. Über diese merkwürdigen, langhaarigen Leute aus dem fernen Westen, die Zeit und Geld und alles andere haben. Sie kommen einfach her und glauben, ein Recht auf die Strasse zu haben. Man kann es ihnen nicht verübeln. Anyway, irgendwann muss es passieren.

Das Szenario ist klar: Wagen vor uns, hupend, Radfahrer weichen, Wagen fährt durch, Radfahrer sofort zurück auf der Strassenmitte, zweiter Wagen folgt, ausweichen unmöglich – bumm! Radfahrer fliegt samt Rad von der Strasse.

Immerhin beruhigt der Blick in den Rückspiegel. Der Mann erhebt sich, droht mit der Faust. Es dürfte also nicht sehr schlimm sein. Zuhause würde man allerdings anhalten, um sich zu erkundigen.

Nicht hier, nicht in Indien. Eines der ungeschriebenen Gesetze der Strasse lautet, in keinem Fall anzuhalten, denn die Folgen könnten dramatisch sein. Auch wenn man unschuldig ist, könnte Verhaftung, Geldforderungen, im schlimmsten Fall Gefängnis drohen. Zeugen des vermeintlichen Opfers gäbe es genug. Also fährt man weiter. Ein Gesetz der Strasse.

Wir erreichen Varanasi nicht vor dem Eindunkeln, also übernachten wir in einem Resthouse, dessen Adresse allerdings mit den letzten verbleibenden Nerven gesucht werden muss.

Und dann der grosse Moment – Varanasi

Täglich strömen tausende von Pilgern nach Varanasi, die früher unter dem geläufigeren Namen Benares bekannt war, um im heiligen Wasser des Ganges Befreiung von den Sünden zu erlangen. Wir sind zwar keine Pilger, fügen uns aber trotzdem gehorsam in den unendlichen Strom von allerhand seltsamen Gestalten ein.

Das Gebiet ist nun dichter besiedelt, immer mehr Fussgänger, aber natürlich auch alle anderen mobilen Objekte unserer Zuneigung machen das Fahren auf den letzten 70 km noch beschwerlicher als bisher. Der grosse Moment – die Fahrt über die Brücke, über den heiligen Fluss Ganges, der Blick nach vorne gerichtet, auf die heilige Stadt der Hindus – Varanasi/Benares.

Varanasi liegt überwiegend am linken Ufer des Ganges, dem grössten Strom Indiens. Wir befinden uns nun also im Bundesstaat Uttar Pradesh, einem der bevölkerungsreichsten Bundesstaaten des Landes.

Die Stadt ist unter mehreren Namen bekannt. Neben Varanasi wird sie häufig auch immer noch als Benares bezeichnet, obwohl nach der indischen Unabhängigkeit in Rückbesinnung auf die klassische Hindu-Tradition Varanasi zur offiziellen Namensform gemacht wurde. Umgangssprachlich ist Benares aber nach wie vor weit verbreitet.

Ironischerweise entspricht die Stadt trotz ihres heiligen Rufes jeder anderen indischen Stadt dieser Grösse. Es ist laut, es stinkt nach allerhand Dingen, von denen wir besser nichts wissen, unendlich viele Leute und Fahrräder und Rikschas machen das Durchkommen zu einer besonderen Herausforderung.

Alles wie gehabt, keine Sadhus mit Jahrhunderte alten Bärten und vollgemalten Körpern, keine Krüppel, keine Leichen in den Strassengräben, keine fanatischen Hindus, die den ungläubigen Touristen die Fotoapparate wegreissen wollen.

Es findet sich sogar überraschend schnell ein Tourist Bungalow, wo wir uns am Nachmittag in aller Ruhe einrichten. Keine Eile notwendig, auch wenn ein paar Rikschafahrer mit grosser Überzeugungskraft uns dazu überreden versuchen, die Stadt zu erkunden. „Maybe tomorrow!“ Ein Spruch, der uns sehr geläufig geworden ist, auch wenn er in den meisten Fällen auf wenig Glauben stösst.

Die Ganga-Ghats

Diese Ghats sind unser heutiges Ziel. Wir vertrauen uns dem Rikschafahrer an, der gestern Abend die längste Ausdauer hatte. Er soll uns von seinen Qualitäten als Fahrer und Guide überzeugen.

Nun gut, die Sitze sind zwar unbequem, aber die Sicht auf die Dinge des Tages ist mirakulös, sozusagen ein perfekter Beobachtungsposten. Allerdings unterscheidet sich das anfänglich Gesehene in Nichts von jeder anderen Stadt – schmutzige Kinder, abgemagerte heilige Kühe, betörend schöne Frauen in malerischen Gässchen.

Und dann stehen wir am Fluss, am heiligen Ganges, dem Ziel aller frommen Hindus. Der Zeitpunkt zum Besuch der Ganga-Ghats ist nicht der beste, der frühe Morgen ist nach Auskunft des Rikschafahrers vorzuziehen. Wir nehmen stark an, dass er bereits an Morgen denkt, an eine weitere Möglichkeit, etwas Geld zu verdienen.

Wikipedia meint zu den Ghats:

Die Ghats in Varanasi sind Stufen am Flussufer, die zu den Ufern des Ganges führen. Die Stadt hat 84 Ghats., die meisten davon für Bade- und Puja-Zeremonien-Ghat. Zwei Ghats, Manikarnika und Harishchandra, werden ausschliesslich als Einäscherungsstätten genutzt. Die meisten Ghats in Varanasi wurden im 18. Jahrhundert unter der Schirmherrschaft der Marathas wiederaufgebaut. 

Munshi Ghat am Ganges (von Marcin Białek – Eigenes Werk)

Waschen im heiligen Fluss

Auch wenn man es gewusst hat, der Fluss, an sich heilig und voller seliger Versprechen, ist dreckig. Das Wort „dreckig“ beschreibt allerdings in keinster Weise den wahren Zustand des Wassers. Im Grunde genommen ist es ein einziger Pfuhl voller Dreck und Exkremente, tote Tiere schwimmen mit aufgeblähtem Bauch langsam vorbei, ganz ehrlich, wir würden nicht mal den kleinsten Finger in diese grauenhafte Brühe stecken.

Und während also unweit des Ufers ein aufgedunsener toter Esel vorbeischwimmt, waschen die Frauen ihre Wäsche im Wasser, kochen mit dem Wasser, tauchen Männer bis zum Kopf unter, gurgeln mit seeligem Ausdruck im Gesicht mit dem Nektar aus dem heiligen Fluss.

Alles, was sich da an Viren und Bakterien und weiss Gott noch alles tummelt, würde uns Westler innerhalb Stunden umbringen, doch den Einheimischen scheint es nichts auszumachen. Zumindest kurzfristig nicht.

Wenn man es nicht selbst sieht, würde man es nicht glauben.

Einäscherung am heiligen Fluss

Etwas weiter oben befinden sich die Verbrennungsplätze. Die eigentlichen Verbrennungsrituale finden meist frühmorgens statt, also finden wir nur noch die rauchenden Überreste der verbrannten Leichen. Ein magerer Hund nagt an irgendwelchen Knochen herum, ihn kümmert es nicht, dass es dabei um menschliche Überreste geht.

Zehntausende Menschen kommen pro Jahr in die Heilige Stadt des Sterbens nach Varanasi. In einem Sterbehaus – einer Art Altersheim – warten sie auf ihren Tod. Viele Hindus glauben, dass der Kreislauf der Wiedergeburt durchbrochen werden kann. Wer hier stirbt, dessen Asche wird in den heiligen Fluss Ganges geworfen. [Deutschlandfunk, Jürgen Webermann | 27.08.2016]

Affentempel und alte Geschichten

Eigentlich heisst der Affentempel Durga Mandir, auch bekannt als Durga-Tempel. Er ist einer der bekanntesten Tempel in der heiligen Stadt und besitzt grosse religiöse Bedeutung im Hinduismus. Der Durga Mandir wurde im 18. Jahrhundert von Rani Bhabani von Natore errichtet.

Der Durga Mandir wurde im 18. Jahrhundert von der bengalischen Maharani Rani Bhabani errichtet und ist der Göttin Durga gewidmet. Neben dem Tempel befindet sich ein Kund (Teich), der früher mit dem Fluss Ganges verbunden war. 

Die Erklärung zum Ursprung dieses Tempels basiert wie so oft auf heiligen Texten wie den Mahapuranas des Hinduismus (siehe Wikipedia). Es geht um Könige und Prinzen, um Liebe und eine Prinzessin und nachfolgendem Krieg. Also vieles, was wir kennen und offenbar überall auf der Welt zur Existenz der Spezies Mensch gehört.

Was uns aber nicht hindert, dem Tempel die gebührende Hochachtung zu schenken.

Morgens um sechs auf dem Ganges

Kann es ein, dass um sechs, als der Wecker läutet, noch nicht mal die Vögel pfeifen? Aber die Rikschafahrer stehen bereit, auch wenn aus unerfindlichen Gründen unser gestriger Fahrer fehlt. Nun, Ersatz ist schnell gefunden, wir entscheiden uns für einen älteren Mann mit einer sanften Stimme.

Es dauert allerdings nur ein paar Minuten, bis der andere in Windeseile gefahren kommt, doch wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, so wird einige Jahre später ein berühmter Mann sagen. Die flehentlichen Bitten des alten Mannes tun das ihrige, also lassen wir uns von ihm durch das Halbdunkel und das langsam erwachende Varanasi kutschieren.

Im Nachhinein werden wir uns an diese langsame Fahrt erinnern, denn sie ist sozusagen der Auftakt zu einem ausserordentlichen Tag. Kühe und Stachelschweine wühlen im Abfall, Hunde erwachen sich heftig kratzend aus ihrem Schlaf, und auf den Wiesen oder auch mal am Strassenrand kauern schemenhafte Gestalten im niedrigen Gras, offenbar ihren morgentlichen Toilettengang entrichtend.

Der Himmel rötet sich langsam, wir müssen uns beeilen, beim Sonnenaufgang auf dem Ganges zu sein. Ein extrem schielender Bootsmann rudert uns auf den Fluss hinaus, wir hoffen, dass er den Weg findet. Und genau in der Mitte des ruhig dahingleitenden Wassers begrüsst uns die Sonne am Horizont, blutrot und riesengross, dieses tägliche Wunder, und giesst glitzerndes Licht auf das Wasser.

Es ist einer dieser Momente im Leben, die man nie vergisst, die sich einbrennen ins Gedächtnis. Bilder von einer Grossartigkeit, die man nur wenige Male sehen und erleben darf.

Wir fühlen uns zutiefst beschenkt.

Yogis, Leichen, Wasserbüffel

Das andächtige Staunen geht weiter, die Worte fehlen. Auf den Ghats haben sich die Pilger versammelt, waschen sich mit Blick auf die aufgehende Sonne. Und bei diesem Bild verändert sich auch unsere eigene Wahrnehmung. Es stellt sich auch bei uns Ungläubigen so etwas wie eine Ahnung für die Dinge ein, die jenseits des rationalen Verständnisses liegen.

Während erste Rauchsäulen über den Einäscherungsplätzen dem Himmel entgegen steigen, weht der sanfte Morgenwind Stimmen und Gesang herüber. Yogis oder Sadhus sitzen unter ihren riesigen pilzförmigen Schirmen, in einer Haltung, die tiefste Hingebung an das Überirdische manifestiert.

Aber da sind auch die Hunde, einige stehen in achtsamer Distanz zu den Feuern, andere haben bereits erste Beuteteile erhascht und bringen sich eilens vor der Konkurrenz in Sicherheit. Man möchte nicht wissen, was sie da in ihren Schnauzen wegtragen.

Frauen schlagen ihre Wäsche auf Steine, die speziell dazu an diesen Platz gebracht worden sind. Neben uns gleiten Boote vorbei, einige voll mit Touristen, auch sie in atemloser Betrachtung der Ereignisse am Ufer. Spitze Schreie beim Anblick eines langsam vorbeitreibenden toten Wasserbüffels. Auch das muss man ertragen, wenn man den wahren Geist von Varanasi erkunden will.

Der Geruch des Todes

Beim Manikarnika-Ghat gehen wir an Land. Hier befindet sich der Hauptverbrennungsplatz. Zum Glück ist hier Fotographieren strengstens verboten. Einige Scheiterhaufen stehen noch in Flammen, andere glimmen nur noch rötlich. Zwischen den glühenden Scheitern sind doch die halbverbrannten Reste der eingeäscherten Körper zu erkennen, Beine und Arme sind in grotesker Verrenkung verzerrt.

Was soll man sagen? Man steht gelähmt vor dem Unsagbaren, man möchte wegrennen und bleibt doch voller Faszination stehen, der Magen dreht sich, der Geruch des Todes überall.

Das ist Varanasi, das ist Indien, das ist der Hinduismus. Leben und Tod ganz nah beieinander. Und wie schon die Stones erst kürzlich behaupteten – Time waits for no one.

Passender Song: The Rolling Stones – Time waits for no one

Und hier der Trail weiter … nach Bodhgaya

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