Wenn es darum geht, Schlauheit und Entschlossenheit für ein erfolgreiches Geschäft einzusetzen, sind die diesbezüglichen Talente der Inder unerreicht. Aber die heutige Anekdote, genannt Love and Kisses, stellt den absoluten Höhepunkt aller Charaden dar. Aber dazu später.
Denn jetzt gilt es erst mal, knapp 350 Kilometer im Government Bus, also geschätzte 8 Stunden von Bikaner nach Jaipur hinter mich zu bringen. Das wird herrlich.
Und so ist es auch. Ich verzichte darauf, erneut darauf hinzuweisen, wie sehr mir diese abgefuckten Busse gefallen, wie sehr ich es geniesse, ganz hinten zu sitzen, wo niemand sitzen will ausser mir, wo es anstelle AC nur das offene Fenster gibt und so sonst nichts. Für mich ist es reinste Meditation.
Infernalischer Lärm
Sieht man vom teuflischen Lärm ab, stört nichts den Fluss der Gedanken. Der Motor dröhnt, die Fenster klappern, irgendwo rumpelt und rattert es permanent. Der Versuch, über die Kopfhörer ein bisschen Musik zu hören, scheitert kläglich. Ich bin nicht mal bei voller Lautstärke imstande herauszufinden, welcher Song gespielt wird.
Bei der Abfahrt morgens um neun bin ich fast der einzige Passagier, dann füllt sich der Bus bei jedem Stopp ein wenig mehr, bis schliesslich alle Plätze besetzt sind. Man wirft mir schüchterne Blicke zu, offenbar ein seltenes Ereignis. Mittlerweile habe ich mich an die Rolle des seltsamen Ausländers, der doch genügend Geld hätte, um jedes andere angenehmere Verkehrsmittel benützen zu können, gewöhnt. Man versucht, mich zu übersehen, aber ich fühle Blicke auf mir, höre leise geraunte Bemerkungen.
Und so gehen schläfrige 8 Stunden in bleierner Hitze vorbei, der Blick liegt in der Ferne, wo sich Erde und Himmel berühren, als gäbe es keinen Unterschied …
600 Millionen in Armut
Ich liebe diese Menschen, sie sind das, was Indien für mich ausmacht (ein wichtiger Grund, diese Strapazen im Bus auf mich zu nehmen). Sie gehören zum nach wie vor riesigen Bodensatz an Menschen, die noch nicht zum Mittelstand gehören, die immer noch auf der Verliererseite leben. Ich gehe mal davon aus, dass immer noch mindestens die Hälfte der Bevölkerung zur Unterschicht gehört, also arm ist.
Das sind grob gerechnet 600 Millionen Menschen, d.h. mehr als die EU Einwohner hat.
Und doch – auch wenn ich damit das eine oder andere Cliché kratze – sehe ich hier mehr fröhliche und entspannte Leute auf hundert Metern als in Zürich auf zehn Kilometern. Trotz der Enge, der unerträglichen Verhältnisse, der Armut gibt es kaum einmal Aggressionen (zumindest nicht sichtbare). Allerdings befürchtet man, dass es einen winzigen Funken braucht, um eine gewaltige Explosion herbeizuführen. Die Zerwürfnisse zwischen den Religionen, vor allem zwischen den Hindus und den Moslems, sind nicht gelöst, im Gegenteil. Alles deutet darauf hin, dass es neue und noch gewalttätigere Auseinandersetzungen geben wird.
Optimismus und Dynamik
Aber alles, was ich hier sehe, ist ungebrochener Optimismus, Zukunftshoffnung und vor allem eine ungeheure Dynamik. Wenn ich der Westen wäre, würde ich nicht China fürchten („China wird alt, bevor es reich ist“ – ein wichtiger Faktor), sondern Indien mit seiner jungen Bevölkerung, gut ausgebildet, intelligent und ambitioniert.
Aber eben, es gibt diese andere Welt, die so gar nicht passt zum Weltbild der gehobenen Klasse.
Die schmutzigen KInder, die an jeder Haltestelle ihre Hände emporrecken. Die Invaliden, am Boden kauernd, die Wanderarbeiter, die für wenige Rupien die schlimmsten Arbeiten verrichten und keine Bleibe haben und oft auf den Trottoirs leben.
Für viele Touristen ist dieser Anblick unerträglich. Es ist nachvollziehbar. Man möchte ja jedem helfen, aber das geht nicht, also sucht man sich halt die wenigen aus, denen man etwas verschämt und schuldbewusst ein paar Rupien in die mageren Hände drückt. Mit der Zeit geschieht das, was mit den meisten hier passiert: man nimmt die Armut nicht mehr wahr. Vielleicht ist es eine Überlebensstrategie, weil man sonst durchdrehen würde, oder viel banaler: der Mensch gewöhnt sich an alles, auch das Allerschlimmste.
Jaipur – die rosa Stadt
Die acht Stunden gehen viel zu schnell vorüber, ich erreiche Jaipur, die rosa Stadt, die „Pink City“. Die Bezeichnung Pink geht übrigens auf das 19. Jahrhundert zurück, als zum Besuch des damaligen Prince of Wales eine Verordnung erlassen wurde, die Häuser einheitlich rosa zu streichen.
Jaipur ist eine Millionenstadt, ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, ein Zentrum für Kultur, ein wichtiger Industriestandort. Vor allem aber bekannt durch einen Palast, der auf der ganzen Welt bekannt ist, den „Palast der Winde“, den ich morgen besuchen werde. Allerdings ist mir bewusst, dass ich nicht der einzige Besucher sein werde, denn der Palast ist der absolute Hotspot für Touristen aus aller Welt, in jüngster Zeit aber auch durch einheimische Besucher.
Die Angaben bezüglich Trinkwasservorräten und Klimaveränderung, die schon hinsichtlich Jodhpur und Bikander erwähnt wurden, treffen auch für Jaipur zu. 2020 werden die Trinkwasservorräte aufgezehrt sein. Was für eine Stadt von über 3 Millionen Einwohnern zu einem gigantischen Problem werden dürfte.
„Liebste Eva, mein Herz verzehrt sich nach dir“
Der Tag ist noch lang, also mache ich mich auf, um die Stadt zu erschnüffeln (sozusagen ein Euphemismus für alles, was indische Gerüche anbetrifft). Aber es sind ja nicht nur die Gerüche, es sind die Farben, die alles übertönenden Geräusche, die Menschen zu Fuss, auf klapprigen Fahrrädern, in laut dröhnenden Tuktuks.
Das ist es, was Indien zu einem unvergesslichen Ereignis macht.
Und dazu gehört ganz bestimmt auch folgende Geschichte, die alles beinhaltet, was Indien ausmacht.
Ich habe bereits auf die unendliche Phantasie und Kreativität der Inder hingewiesen, wenn es darum geht, ein Geschäft anzubahnen.
Der ältere Herr, der mich auf einem der lärmigen Plätze, wo sich halb Jaipur versammelt hat, anspricht, fängt das Gespräch mit den gleichen Floskeln an, die mich mittlerweile im Schlaf verfolgen. „Hello Sir, where you from?“ „Switzerland.“ „Which part, German Part or French part?“ „German part.“
Überraschenderweise flicht der Mann nun ein paar deutsche Wörter ein, nimmt mich dann zur Seite und flüstert, dass er einen Brief auf Deutsch an eine Freundin schreiben will, aber der Sprache zu wenig mächtig sei. Ob ich ihm nicht helfen könne.
Ich denke zuerst an einen Scherz, doch es scheint ihm tatsächlich ernst zu sein. Nach einigem Zögern stimme ich zu, denn die Neugier übertrifft für einmal das das Misstrauen. Was hat er vor? Welche faulen Tricks wird er aus der Tasche ziehen?
Er fischt einen abgerissenes Blatt Papier aus der Tasche und beginnt zu diktieren.
Love and Kisses
Es ist einige Zeit seit meinem letzten Liebesbrief vergangen, aber das, was dieser alte Schwerenöter diktiert, lässt auch mein Herz schmelzen. Gelegentlich kann ich vor Lachen kaum mehr schreiben, aber ich übersetze tapfer weiter.
„Vierundzwanzig Stunden am Tag denke ich nur an dich, und alles, was ich dabei fühle, ist meine tiefe Verbundenheit mit dir. Oh Eva, wie sehr wünsche ich mir, dass du bei mir bist. Bitte beeile dich, ich werde dich am Flughafen in Delhi abholen, und nichts und niemand kann uns dann noch trennen … Love and Kisses!“
Am Schluss lese ich den ganzen Brief vor, übertreibe ein bisschen bei den besonders schmalzigen Abschnitten. Er nickt begeistert, obwohl er vermutlich kein Wort verstanden hat. Mittlerweise hat sich eine ansehnliche Anzahl Neugieriger um uns versammelt und beobachtet und kommentiert jede Regung der beiden Darsteller des Shakespeare’schen Dramas.
Aber das ist natürlich erst der Einstieg. Denn jetzt steuern wir auf den eigentlichen Höhepunkt der Charade zu, dem ultimativen psychologischen Trick.
Da er sich nun in meiner Schuld fühlt (aus den fünf Minuten sind zwanzig geworden), schlägt er mir vor, sich zu revanchieren. Er kenne einen Juwelier, einen guten Freund von ihm, dessen Geschäft ganz in der Nähe sei und der sich sicher dazu überreden lasse, mir einen dramatischen Discount auf seine Ware zu gewähren.
Einführung – Ablenkung – Angriff
Et voilà, die Katze ist aus dem Sack.
Sun Tzu hätte es in „Die Kunst des Krieges“ nicht besser beschreiben können.
Ein derartiger Aufwand, diese Kreativität und Überzeugungskraft, alles, um ein paar Rupien zu verdienen. Mein Kompliment! Aber heute ist ein schlechter Tag. Ich bedanke mich höflich und bediene mich dabei der buddhistischen Weisheit, dass der Gebende sich beim Beschenkten bedanken muss (Karma!), und schüttle ihm heftig die Hand.
Er erkennt in Windeseile, dass er für einmal nicht als Sieger vom Platz geht. Von einem Augenblick zum anderen erlischt das freundliche Lächeln, er wendet sich wortlos und ohne ein Wort des Abschieds ab. Das ist ein bisschen enttäuschend. Man muss auch mal verlieren können. Aber der Auftritt an sich war absolut Oscar-verdächtig (und ich habe – falls es denn nochmals nötig sein sollte – ein paar kreative Ideen für einen Nobelpreis-würdigen Liebesbrief erhalten …).
Wenn das nicht Grund genug ist, dieses Land und seine Menschen zu lieben …
Die Sternwarte Jantar Mantar
Jede touristische Exkursion durch Jaipur führt früher oder später zum Palast der Winde und zur berühmten Sternwarte Jantar Mantar.
Die erste von fünf Anlagen dieser Art wurde 1724 in Delhi erbaut, die weiteren, unter ihnen auch diejenige von Jaipur, wurden in den Jahren danach errichtet. Jantar Mantar ist die größte dieser Anlagen, erbaut nach dem Vorbild des Observatoriums in Delhi. Es beherbergt 14 nach astronomischen Gesichtspunkten entworfene Bauwerke. Diese dienen unter anderem der Messung der Zeit, der Voraussage von Eklipsen, der Beobachtung der Planetenbahnen, der Bestimmung von astronomischer Höhe und Deklination und der Erstellung von Ephemeriden.
Das größte Bauwerk ist das Samrat Jantar, eine Sonnenuhr mit einer Höhe von 27 m, die die Zeit auf etwa 2s genau anzeigen kann. Die Anlage wurde 1901 restauriert und 1948 zu einem National Monument Indiens erklärt. 2010 wurde das Observatorium als UNESCO-Welterbe anerkannt. (Copyright Wikipedia)
Spielzeuge für Erwachsene
Bauwerke aus längst vergangenen Zeiten, erdacht und erbaut von Architekten und Bauherrn, die seit Jahrhunderten tot sind, beherrschen auch heute noch das Bild vieler Städte.
Man denke an den Eiffelturm, den Petersdom, Angkor Wat, die Pyramiden von Gizeh, die chinesische Mauer, den Tadsch Mahal … Dazu gehören, wenn auch in weniger pompöser Weise, viele Bauten in indischen Städten, darunter eben auch der Palast der Winde oder die Sternwarte Jantar Mantar in Jaipur. Wenn man die Sternwarte betritt, glaubt man anfänglich, auf einem Kinderspielplatz für Erwachsene gelandet zu sein. Die einzelnen Bauwerke dienen zwar wissenschaftlichen Kriterien zur Messung allerhand wichtiger Basiswerte, aber sie wirken wie riesige Spielzeuge in allen Formen und Farben.
Auch wenn man sich bemüht, ihren Zweck oder ihre Funktionsweise herauszufinden, scheitert man kläglich. Immerhin sind Tafeln mit den wissenschaftlichen Erklärungen angebracht, aber es bleibt schwierig zu verstehen, wie mit diesen Bauwerken die Planetenbahnen berechnet werden können oder die astronomische Höhe und Deklination bestimmt wird.
Bei diesen Themen habe ich wohl im Physikunterricht gefehlt. Shame on me! Also gibt man sich mit den wunderbaren Formen zufrieden, umkreist mit tausend anderen Besuchern die einzelnen Instrumente, lauscht verschämt den Vorträgen einer Besuchergruppe und versteht trotzdem nicht viel.
Der Hauptzweck des Samrat Yantra war die Bestimmung der Zeit nach dem Sonnenstand, also die Messung der täglichen Sonnenbewegung, und die Messung der jährlichen Sonnenbewegung (entlang der Rampe im Innern der Seitentürme). Mit der aufsteigenden Sonne erscheint der Schatten zuerst auf der linken äußeren Seite der Skala des westlichen Quadranten, läuft dann mit steigender Sonne an der Marmorskala entlang herab, taucht schließlich zur Mittagszeit unter dem Gnomon durch (kein Schatten zu sehen) und läuft an der östlichen Skala wieder hinauf, bis die Sonne am westlichen Horizont versinkt. Eindrücklich.
Der Jai Mahal Palast
Inmittten des Man Sagar Sees liegt der Jai Mahal Palast, ein architektonisches Schaufenster des Rajput-Architekturstils. Der Palast aus eingebautem rotem Sandstein ist ein fünfstöckiges Gebäude, von dem vier Stockwerke unter Wasser bleiben, wenn der See voll ist und das oberste Stockwerk freigelegt ist. Ich setze mich hin, für einmal ganz allein und ohne den Lärm der Besucher.
Auch dieser Palast scheint aus einer anderen Zeit zu kommen, als noch Bauwerke errichtet wurden, die nur dem ästhetischen Genuss dienten und keine Rücksicht auf auf Kosten und Probleme nahmen. Was gelegentlich massive Konsequenzen zur Folge hatte – auch der Bau des Tadsch Mahal führte letztendlich zum finanziellen Disaster und kurze Zeit später zum Sturz des Mogul Jajahan. Aber ich stelle mir den Palast bei milchigem Mondlicht vor, schwimmend auf der kräuselnden Oberfläche des Sees, wie ein gespenstisches Schemen aus der Unterwelt …
Niemand hört zu, niemand schaut zu, niemand liest …
Ken Mogi hat in seinem wunderbaren Buch „Ikigai – Die Japanische Lebenskunst“ folgenden Satz geschrieben: „Machen Sie Musik, wenn niemand zuhört. Malen Sie ein Bild, wenn niemand zuschaut. Schreiben Sie eine Kurzgeschichte, die niemand lesen wird. Die innere Freude und Befriedigung wird mehr als ausreichend sein, um Sie durch Ihr Leben zu tragen …“ Eine Lebensweisheit, die den wunderbaren Tag abschliesst … und mich davon überzeugt, den Blog weiterzuschreiben …
PS Song zum Thema: Pink Floyd – Astronomy domine
Und hier geht die Reise weiter … zum Palast der Winde