Ich bin früh auf den Beinen und bemerke mit leisem Bedauern, dass meine Haus- und Hof Kakerlake die Nacht nicht überlebt hat. Sie ist einem hinterhältigen Angriff der winzigen Killer-Ameisen zum Opfer gefallen.

So ist das Leben – wild und meistens tödlich.

Ich esse in „meinem“ Restaurant das Frühstück, bevor ich mich dann in Richtung der Anlegestelle des Boots in Bewegung setze. Es ist ein alter Kahn, dreckige Scheiben, durchgesessene Sitze, er füllt sich langsam mit den gemächlich eintrudelnden Touristen.

Zwei Japaner sind dabei, schweigsam und scheu die ganze Tour lang. Eine ältere englische Lady trifft mit dem Fahrrad ein, dann zwei junge Schweden, ein gut aussehender Engländer, ein Gruppe Russinnen und einige andere, deren Herkunft sich nicht auf den ersten Blick erkennen lässt.

Schmale Buchten und Kanäle

Der Kahn startet zeitgerecht um 10.30, aber nur um auf dem See eine Kurve zu drehen und wieder am gleichen Ort anzulegen. Schwer verständlich, aber das alltägliche Wundern über die Welt in Indien gehört dazu. Irgendwann startet dann doch die Tour.

Fallen palm tree in water
Palme im Wasser

 

Die Passagiere verziehen sich auf das Oberdeck und lassen uns die nächsten 8 Stunden gemächlich durch die Backwaters treiben. Mal sind wir beinahe auf dem offenen Meer, dann wieder auf schmalen Buchten und Kanälen, den nahe am Wasser gebauten Hütten und Häusern entlang.

Fishing nets in the backwaters
Gestelle für Fischernetze
Ship parade on the shore
Schiffsparade am Ufer

 

Ein anderes Leben

Wir gewinnen einen Einblick in das Leben dieser Menschen, wie sie leben, im Freien kochen, die Wäsche waschen, wie die Kinder spielen und herumtoben, die Hunde bellen und dem Schiff nachrennen. Zeitlupe.

Die langsame Fahrt ermöglicht Sehen und Reflektieren, man hat Zeit, das Gesehene zu analysieren und sich Gedanken zu machen über die Unterschiede unserer Leben. Wir sind bewusst oder unbewusst Voyeure, aber das sind wir nicht nur hier sondern grundsätzlich auf solchen Reisen.

Wrecked boat on the shore
Der letzte Ruheort?
Intimate glimpse into a different life
Ein intimer Blick in ein anderes Leben
Poor and idyllic at the same time
Ärmlich und idyllisch zugleich

 

Fester Boden

Wenn man durch die stehenden und fliessenden Gewässer der Backwaters driftet, lässt man die bekannte Welt hinter sich. Man ist sich gewohnt an festen Boden, an etwas, woran man sich halten kann.

Nicht hier, nicht an diesem unwirklichen Ort, wo alles schwimmt und verschwimmt. Natürlich sind da Ufer, wo vermeintliche Festigkeit herrscht, doch mit der Zeit bezweifelt man diese Festigkeit, denkt an Fata Morganas, an Phantome. Nichts ist mehr sicher, nicht mal die eigene Wahrnehmung.

Deshalb ist der angekündigte Stopp auf festem Boden eine willkommene Gelegenheit, die eigene Wahrnehmung zu überprüfen. Ist der Boden wirklich fest? Sinkt man nicht ein, sobald man den Fuss darauf setzt?

Mittagessen aus Palmenblättern

Doch, wider Erwarten entpuppt sich der Boden als fest. Mit einem leisen Seufzer der Erleichterung werden wir zu einer Art Gartenrestaurant geführt, natürlich nicht die Art, wie wir sie kennen, es ist eine Plane, unter deren schützendem Dach wir eine wunderbare Mahlzeit serviert bekommen. Es gibt Reis und etwas Gelbes, das gut schmeckt, und allerhand andere, offenbar lokale Zutaten, die den meisten von uns unbekannt sind. Aber es schmeckt, auch wenn wir nach indischer Art mit den Händen essen, ausgezeichnet.

Lunch in the backwaters
Mittagessen – Reis und allerlei dazu
A kind of kiosk
Wer sich zusätzlich verpflegen möchte, kann dies im Kiosk tun

 

Lebendiges Handwerk

Wenn man den Frauen zusieht, wie sie in grosser Würde ihre Arbeit verrichten, wie sie spinnen und weben und Körbe flechten, kommt Bewunderung auf. Kurzum, in diesen Augenblicken glaubt man etwas zu verstehen. Dass wir Voyeure sind, dass wir Eindringlinge sind in ihre Welt. Dass sie nie verstehen werden, was wir hier tun, was wir hier zu finden hoffen.

Es ist, wie immer in diesen Fällen, eine Mischung zwischen Bewunderung, Mitleid und Scham und mit dieser beunruhigenden Mixtur werden wir nicht fertig. Das sind die Momente, wo man sich nach dem Sinn des Reisens fragt.

Aber vielleicht sind es gerade diese Momente, die den Sinn des Reisens definieren. Dass es nicht um des Reisens als Selbstzweck geht, sondern immer auch eine Suche beinhaltet. Die man in den meisten Fällen nicht mal selbst versteht.

From these unimpressive things the basket weaver creates something beautiful
Aus diesen unscheinbaren Dingen stellt die Korbflechterin etwas Schönes her
Her look reveals something unsettling to us - is it timid or reproachful?
Ihr Blick zeigt uns etwas Beunruhigendes – ist es ein scheuer oder ein vorwurfsvoller Blick?

 

Dann fahren wir weiter, die Stunden gehen dahin, es ist entspannend, meditativ, man sitzt gedankenverloren an der Reling. Das indische und das eigene Leben gleitet vor dem echten und dem inneren Auge vorbei, Ruhe und Frieden kommen auf, gute Gedanken, alles Hektische fällt weg …

Kerala Backwaters
Die Kerala Backwaters – von grossartiger Schönheit
A fisherman on his barge
Ein Fischer auf seinem Kahn
A cyclist gives us a cautious look
Ein Fahrradfahrer wirft uns einen vorsichtigen Blick zu
Excursion boat on the Kerala Backwaters
Ein Ausflugsboot in die andere Richtung
Boats off Alleppey
Wir nähern uns Alleppey
Alleppey port
Kurz vor dem Ziel

 

Und so erreichen wir um sechs Uhr abends Alleppey, eine schnelle Verabschiedung der temporären Freunde und schon sitze ich im Bus zurück nach Kollam.

Und wieder ist es ein Höllenritt wie viele vorher und viele, die noch kommen werden. Ein guter friedvoller Tag geht mit der im Meer versinkenden Sonne dem Ende entgegen, und auch für mich ist Schluss, früh und mit nachdenklichen Gefühlen.

 

PS Song zum Thema:  Maroon 5 – Come away to the Water (aus Hunger Games)

Und hier geht’s weiter …

 

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