Wie sagt man so schön – Hochmut kommt vor den Fall?
So könnte es heute sein. Ich habe nämlich zwei Etappen – die durch die gestrige Verlängerung nun kürzere Etappe von Ranflüh nach Langnau und die Folgeetappe nach Eggiwil zusammengenommen. Vielleicht werde ich es bereuen, aber ich fühle mich topfit, also was soll’s.
Den ersten Abschnitt der zweiteiligen Etappe beschreibt der Travelguide wie folgt:
Abwechslungsreiche Flussuferwanderung entlang der Emme, vorbei an Kiesbänken und Flussschwellen, über alte Holzbrücken und durch Auenwälder. In Langnau, Zentrum des Emmentals, lohnt sich der Besuch des Heimatmuseums im «Chüechlihus» (Holzbau aus dem 16. Jh.)
Und der zweite Teil sieht so aus:
Höhenwanderung über den Hügelzug Hohwacht-Girsgrat. Am Weg ein historischer Signalposten, eine Käserei, die garantiert echten Emmentaler herstellt und einer der ältesten Tunnels der Schweiz. Typisch emmentalischer Flickenteppich aus Eggen, Gräben, Flur und Wald.
Diesmal sind nur meine eigenen Werte relevant:
Länge 19.82 km; Aufstieg | Abstieg 1020 m | 900 m; Wanderzeit 5 h 57 min
He, 20 Kilometer in knapp 6 Stunden? Nicht schlecht für den alten Mann.
Der Emme entlang
Es gibt kaum einen Fluss, den ich so gut kenne. Vielleicht noch die Limmat und ganz weit weg den Mekong, den ich schon ein paar tausend Kilometer begleitet habe. Und nicht zu vegessen der Irrawady, auch er eine Erinnerung, die für ewig bleiben wird.
Aber die Emme ist ein anderes Kaliber als die Riesenflüsse in Asien, klein und fein und blitzsauber. Auch sie kann ganz schön launisch sein, sich in kurzer Zeit zu einem Monstrum entwickeln, so wie viele andere sanfte harmlose Gewässer.
Jetzt ist der Fluss alles andere als ein Monstrum. Die monatelange Trockenheit hat sie zu einem trübseligen Rinnsal gemacht, etwas traurig mitanzusehen. Ich bin ganz grosszügig mit ihr, gehe langsam und bewundere sie trotz ihrer entschwundenen Macht.
Das wird schon wieder, kleiner Fluss.
Wiedersehen mit einem alten Freund
Kurz vor Langnau, genauer gesagt in Emmenmatt, kreuze ich den Alpenpanoramaweg, mein letztjähriges Wanderabenteuer. Ich bin fast ein wenig gerührt, denn ich kann mich noch sehr gut an den heissen Tag erinnern, an die Etappe von der Lüdernalp nach Signau.
Aber die Zeit rast, seltsame Monate sind vergangen, diesmal weniger Corona-behaftet, sondern mit Krieg in Europa, man meint, in einen Perfect Storm geraten zu sein. Ist die Welt momentan im Begriff, den Verstand zu verlieren? Es sieht eher aus, als wäre dies schon geschehen. Ich versuche, die bösen beunruhigenden Gedanken zu verdrängen. Manchmal ist wandern das beste Gegenmittel, um die trüben Gedanken eine Weile zu vergessen.
Vielleicht sollten sich die Verantwortlichen für all diesen Mist mal selbst auf den Weg machen, aber klar, das ist ebenso naiv wie aussichtslos.
Dann erreiche ich Langnau, das Zentrum des Emmentals, berühmt für sein mehr oder weniger erfolgreiches Hockey-Team, viel mehr weiss ich auch nicht. Eine mittelgrosse Stadt, wie es sie viele gibt in der Schweiz. Immerhin hat es nicht allzu weit weg vom Wanderweg eine Einkaufsmöglichkeit, man erinnere sich, in Ranflüh war nichts dergleichen zu finden.
Kurz danach beginnt die Steigung.
In der Nähe einer Schafherde, die sich gemächlich dem erstaunlich saftigen Gras widmet, setze ich mich ins Gras, he Picknick im Gras, was gibt es Besseres.
Langnau wirft mir einen irgendwie grimmigen Blick hinterher, habe ich seine Schönheiten zu wenig gewürdigt? Wahrscheinlich hätte ich wieder mal mehr Zeit gebraucht, aber eben, die Ausrede ist immer die gleiche.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich ausser dem Eishockeyclub nichts weiss, aber auch gar nichts. Vielleicht eine Schande, aber eben, es gibt sovieles, was man nicht kennt und nicht weiss.
Nach ein paar Minuten wird mir bewusst, dass Picknick im Gras zwar tatsächlich etwas Wunderbares ist, allerdings nicht in der Nähe einer Schafherde. Wenn es noch einen Beweis braucht, dass mich die Mücken und anderes Gesindel sogar einer Schar stinkender Schafhintern vorziehen (ich kann es ihnen nicht verübeln), dann dieser heimtückische Angriff von allen Seiten.
Selten hat man jemanden gesehen, der sich so schnell aus dem Staub macht. Mit hektischen Abwehrbewegungen nach links und rechts eile ich den Wald hinauf, bis den Viechern die Lust vergeht.
Kuhherde auf dem Rastplatz
Bezüglich bösartiger Überfälle geflügelter Bösewichte gibt es keine Unterschiede zwischen Schafärschen und solchen von Kühen. Ich bin also gewarnt, als sich genau auf dem Rastplatz, der so wunderbar unter Bäumen liegt, eine Herde Kühe zur mittäglichen Siesta bequem gemacht hat.
Natürlich liebe ich die Kühe und es hat sich gezeigt, dass sie auch mich lieben. Oder zumindest keine Scheu vor meiner Gegenwart kennen. Aber eben, die Fliegen und die Mücken und die Bremsen und alle anderen gefrässigen Brummer, die brauche ich nicht. Also geht’s halt weiter, irgendwo wartet eine Bank auf mich. Ohne Kühe und ohne Schafe.
Was brauche ich den Rastplatz, es gibt soviele schöne luftige Orte, von wo die Umgebung gebührend gefeiert werden kann. Was soll man sagen, wenn es immer und immer wieder die gleiche Offenbarung in Form einer zauberhaften Umgebung ist? Nichts. Man muss es sehen, um es zu verstehen.
Das Gemälde ist vollkommen. Alle Farben sind da, alle Formen, das Zusammenspiel von Wolken, von Wäldern, von Wiesen und vereinzelten Häusern und Dörfern.
Ich versuche mir vorzustellen, wie es vor tausend Jahren hier ausgesehen haben muss. Wald im Überfluss, wenige grüne Flecken, vielleicht gar keine, nur der Himmel und die Wolken über allem sind unverändert.
Kartoffelernte
Mein Rastplatz bietet heute Unterhaltung wie selten. Ich sitze am Waldrand, erhalte Besuch von einem schwarzstruppigen Hund, der mich freundlich beschnuppert und meine milde Gabe in Form einer Wurst mit nachvollziehbarer Freude willkommen heisst.
Er gehört zu einer Gruppe Bauern, älteren und jüngeren Männern und Frauen, die eben daran sind, eine Feld mit Kartoffeln zu ernten.
Der Traktor zieht ein seltsames Gefährt, ein multifunktionelles würde man heute sagen, denn es gräbt erstens die Kartoffeln aus der Erde, bewegt sie nach oben, wo sie von fleissigen Händen begutachtet und sortiert werden.
Die bereits gefüllten Säcke werden am Bord hingestellt, es sind bereits eine ganze Menge. Alles in allem gibt das Feld ungefähr 4 Tonnen Kartoffeln her. Eine ganze Menge, wenn man an die Arbeit der vielen Helfer denkt.
Okay, wieder was gelernt.
Und da ist das dieser Baum, wie ein Monument zum Himmel ragend, er will was zeigen, vielleicht dass er besser und grösser und mächtiger ist als alle anderen. Keine Ahnung, ob Bäume in Konkurrenz zueinander stehen oder ob sie einfach wachsen, wenn sie Platz und Licht haben.
So gerate ich unversehens in eine philosophische Laune hinein, aus der ich kaum mehr rausfinde. Es ist ein Phänomen dieses Wanderns, dass man immer wieder abdriftet und sich über etwas Gedanken macht, für das man normalerweise keine Zeit hat.
Und sei nur ein Baum, der etwas anders ist als die anderen. Eine Metapher? Keine Ahnung. Wie soll ich von etwas Ahnung haben, das sich mir entzieht? Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt von etwas eine Ahnung habe.
Geschlossene Türen
Aber lassen wir das. Es geht dem Tagesziel Eggiwil entgegen, wo mich der Gasthof Hirschen erwartet.
Erwartet ist ziemlich übertrieben, denn das, was mich erwartet, ist nicht der Hirschen sondern ein Déja-Vu. Man hat mich wieder mal vergessen. Zumindest scheint es so.
Das ist nichts Neues für mich. Dieses Schicksal verfolgt mich seit langem, und immer stehe ich müde und verwirrt vor geschlossenen Türen oder nicht existierenden Hotels. Beispiele erwünscht? Montevideo oder Lima.
Der Anruf gelangt zu einem Herrn, offenbar dem Wirt des Hauses. Er reagiert ziemlich verwirrt, denn er befindet sich bereits auf dem Weg nach Hause, genauer gesagt nach Grosshöchstetten, auch nicht gerade vor der Haustür. Anyway, wofür hat man denn wohlgesinnte Nachbarn, also bietet der Wirt eine freundliche Dame auf, die mir Tür und Tor zu meinem Hotel öffnet.
Hotel und auch Zimmer sind in Ordnung, allerdings findet sich kein Restaurant in der Nähe. Es gilt also, ein paar Kilometer zu einem benachbarten Weiler zu gehen (als hätte ich nicht schon genügend Stunden in den Beinen), wo sich tatsächlich ein erstklassiges Restaurant befindet, das meinen knurrenden Magen zu besänftigen vermag.
Ich mag Heimwege bei Mondschein. Sie vermitteln eine seltsame Mischung aus Düsternis und Helle zugleich. Genauso wie heute Abend.
Passender Song: Otis Spann – Moon Blues
Und hier geht der Trail weiter … nach Schangnau