Habe ich schon erwähnt, dass es wieder einmal regnet?
Es regnet. Beim Frühstück drängen sich alle unter dem grossen Sonnenschirm bzw. Regenschirm und machen sich den Platz streitig. Da es aber ein warmer Regen ist, stört es niemanden. Tja, und dann wieder ein Abschied, allerdings ohne Tränen. Ein weiterer Bus mit einem hoffentlich weniger geistesschwachen Fahrer am Steuer.
Das Verbrechernest fällt schnell hinter uns zurück, der übliche leicht wehmütige Blick zurück entfällt diesmal. Schauen wir vorwärts. Lange Kilometer rasen wir über schnurgerade Autobahnen Richtung Norden.
Hollywood-Verkaufsgespräche im Bus
Aber heute ist Unterhaltung angesagt, zur Abwechslung wieder mal das bereits mehrfach erlebte Spektakel, genannt Verkaufsgespräch im Bus.
Die Vorstellung, dass sich in einem Schweizer Postauto zuvorderst ein Fremder hinstellt und eine zwanzigminütige Eloge über die gesundheitlichen Vorteile einer mit besonderen Kräften ausgestatteten Kette aus Silber (oder was auch immer) hält, ist ziemlich schräg, aber hier offenbar alltäglich. Die Verkäufer, meistens Männer aber gelegentlich auch junge Damen, legen los, ziemlich laut natürlich, ohne Punkt und Komma und ohne ein einziges Mal Luft zu holen.
Sie sind geborene Redner, die es in der Politik weit brächten, Schauspieler, die in jedem Hollywoodfilm eine Rolle finden würden. Auf jeden Fall ziehen sie das Publikum im Nu in ihren Bann (ausser natürlich den einzigen Extranjero im Bus, der wieder mal gar nichts glaubt und entweder mit grimmigen Blicken oder kompletter Verachtung bedacht wird).
Heute werden die mit Begeisterung vorgetragenen Ansprachen von einem Zweier-Team gehalten, die sich abwechseln und offenbar eine Art Arbeitsteilung eingeübt haben. Während der eine redet, hält der andere die entsprechenden Gegenstände in die Luft und geht durch die Reihen nach hinten. Heute sind es Handys, Ladegeräte für Handys, Selfiesticks, undefinierbare andere elektronische Geräte, aber schliesslich auch Kaugummis und andere Süssigkeiten.
Und die Kerle haben Erfolg. Jedem – ausser mir! – wird ein Gegenstand zur näheren Betrachtung in die Hand gedrückt. Später dann kommt der andere, zieht entweder das Geld ein oder nimmt den Gegenstand wieder an sich. Konservativ geschätzt kauft die Hälfte der Passagiere mindestens einen Gegenstand (beim ersten Verkäufer, dem mit den Gesundheitsketten, sass eine ältere Dame neben mir, die sogar drei dieser blöden Ketten kaufte; ich dachte einen Augenblick lang, sie zu warnen, liess es aber sein; jeder ist seines eigenen Glückes Schmied).
Beim nächsten Halt steigen die Verkäufer aus, sehr positiv gestimmt, wie mir scheint. Kein Wunder. Aber ich muss zugeben, sie haben ihren Lohn redlich verdient. Sowas muss man erst mal können …
Regen und Nebel – unsere permanenten Begleiter
Nach knapp drei Stunden haben wir die Hälfte der über 400 Kilometer geschafft.
Wow! Wenn das so weiter geht, sind wir nachmittags um drei in Medellín. Aber natürlich zu früh gefreut, denn es geht nun wieder in die Berge. Je weiter wir an Höhe gewinnen, desto mehr verdüstert sich der Himmel, blasse Nebelfinger tasten sich aus allen Richtungen heran, zucken den Boden entlang, streichen feuchtkalt um die Fenster.
Wie war das nochmal mit Ferien im südlichen Sommer?
Die Geschwindigkeit nimmt nun rapide ab, der Bus schleicht den Berg hinauf, Kehre um Kehre, und wird immer wieder gezwungen, einen dieser monströsen 60-Tönner Lastwagen zu überholen. Wenn man an ihnen vorbeifährt, hat man den Eindruck, dass die Kolonne endlos ist.
Irgendwann eine Unfallstelle, wen wundert’s bei diesen Manövern.
Lange stehen wir, niemand weiss, was los ist, bis unser Busfahrer die Nerven verliert und auf das Gaspedal drückt, die Kolonne überholt und es tatsächlich schafft, am völlig zerknautschten Überbleibsel eines Lastwagens vorbeizukommen.
Was soll man da sagen? Wir sind einerseits froh, andererseits bewusst, welche Risiken unser geliebter Driver eingegangen ist.
Es gibt wenig zu sehen, was nicht schon tausend Mal am Busfenster vorbeigezogen ist. Gelegentlich ein Dorf oder ein Städtchen, ein paar Häuser, farbige TukTuks, Busse, vollgestopft mit tausend Leuten, dann wieder lange nichts, ausser Bäumen und Sträuchern und grünen Wiesen und Weiden und Abhängen und Hügeln und Bergen. Und manchmal ein Fluss, gelbes schnelles Wasser mit sich führend, dann wieder lange nichts.
So vergeht der Tag.
Die einzige Abwechslung – ein Stopp im Nirgendwo.
Es dauert halt doch wie angekündigt seine zehn Stunden, und einmal mehr ist es stockdunkel, als wir in Medellín ankommen. Ausnahmsweise kennt der Taxifahrer die Adresse oder zumindest die Strasse, und so erreichen wir das Hostal Rich, das einrichtungsmässig hoffentlich seinem Namen alle Ehre macht. Silvia, die Hotelmanagerin, Eigentümerin und Mädchen für alles erwartet mich bereits und heisst mich willkommen. Schön …
Kilometerstand: 8331
Song zum Thema: Bruce Ruffin – Rain
Und hier geht die Reise weiter … in Medellin