Seltsam.
Für ein paar Augenblicke taucht ein grüner Dschungel vor dem Fenster auf, kaum zu glauben, aber für ganz kurze Zeit ist weder ein Gebäude noch eine Strasse noch irgendein Zeichen der Zivilisation zu sehen. Ein seltener Anblick in unserem zugepflasterten Land.
Ich sitze im Zug in Richtung Bodensee, schaue mit immer noch müden Augen aus dem Fenster, bis Winterthur eine bekannte Strecke zur HWV (heute ZHAW genannt, Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften), damals ein wöchentlicher Ausflug vor eine Klasse gelangweilter Studenten. Sind irgendwelche Erinnerungen geblieben? Nicht viel.
Wenn ich von einem guten Schlaf sprechen wollte, wäre er entschieden anders als die mühsamen 5 Stunden der vergangenen Nacht. Was mich überrascht, denn normalerweise schlafe ich auch vor langen Reisen wie ein Baby. Es muss wohl etwas damit zu tun haben, dass ich diesmal alles andere als sicher bin, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Anyway, auch wenn das Omen ein schlechtes gewesen sein sollte, so bin ich trotzdem mit Vorfreude und einem schweren Rucksack auf dem Weg. Keine Ahnung, ob ich diese Strecke schon mal gefahren bin, die Ostschweiz ist bis anhin eher selten auf meiner Reiseliste gestanden. Auf jeden Fall geniesse ich die letzten Stunden in sitzender Stellung, denn dieses Privileg wird in den nächsten Wochen ein eher seltenes Phänomen sein.
Der heutige Plan
Die Angaben in der schweizmobil Plattform sind klar und unmissverständllich:
Länge: 17 km / Aufstieg | Abstieg: 1100 m | 620 m / Wanderzeit: 5 h 35 min / Technik | Kondition: leicht (Wanderweg) | schwer
Da wartet also bereits am ersten Tag eine ziemliche Herausforderung. Aber mal sehen, wie heiss die Suppe gegessen wird …
Die ersten Schritte (von geschätzten 800’000)
Dann nochmals ein Zugwechsel, die Züge werden immer kleiner, die Passagiere weniger, und so bin ich für kurze Zeit beinahe allein im Abteil. Neben mir hat sich ein Paar mit einem ziemlich grossen Hund breit gemacht. Sie sehen aus wie Wanderer, auf jeden Fall trägt der Hund sein eigenes Gepäck umgeschnallt. Der Herr des Hauses spricht an seinem Handy englisch, es klingt nach sehr wichtigen Problemen. Für ihn ziemlich weltbewegend, den anderen (auch der Ehefrau) entlocken sie im besten Fall ein müdes Lächeln.
Dann Rorschach am Bodensee. Und wieder keinen blassen Schimmer, ob ich schon mal da war. Der See spiegelt einen grauen Himmel, durchzogen mit blauen Einsprengseln, vielleicht gibt es doch noch einen sonnigen Tag. Was mir sehr entgegenkommen würde. Ich nehme zum ersten Mal die Karte zur Hand und befinde mich – hurra – auf dem Alpenpanoramaweg.
Das grüne Schild mit der Nummer 3 und der Bezeichnung Alpenpanoramaweg wird mich nun begleiten, als Führer, als Wegweiser, als Begleiter durch Stock und Stein, als Fluchtort, wenn alle Richtungen unklar sind. Was ich noch nicht weiss, ist die tiefe Verbundenheit mit diesem blöden Schild, die sich im Verlauf der Wanderung ergeben wird. Aber dazu sehr viel mehr später …
Auf jeden Fall vergesse ich, das allererste Schild zu fotografieren, aber voilà, das hier ist das zweite, kurz bevor der Weg zum ersten Mal ansteigt. Nicht zum letzten Mal, wie man annehmen darf …
Endlich Wald, Wiesen, Natur
Die ersten Schritte führen durch bewohnbares Gebiet, man grüsst mich beiläufig, offenbar sind schwerbepackte Wanderer kein seltenes Phänomen. Oder entdecke ich da ein leises mitleidiges Grinsen im Gesicht des Mannes, der den Hund spazieren führt? Egal.
Und siehe da, das Ehepaar mit dem Hund scheint tatsächlich den gleichen Weg zu nehmen. Sieht doch schon mal gut aus. Ich bin nicht der einzige Spinner.
Und dann bleibt Rorschach hinter mir zurück, es geht aufwärts, die erste Abzweigung auf eine Wiese, die steil hinauf direkt in den Wald führt. Nun erlebe ich zum ersten Mal das, worauf ich mich gefreut habe – Waldwege, schattig, nach Tannen und Kräutern riechend, manchmal steil, dann wieder eben, abwechselnd schweisstreibend und wieder entspannend.
Der See blickt ein letztes Mal herauf, blinkend, ganz blau, immer kleiner werdend. Manchmal ist die Schweiz wirklich eine Postkartenidylle.
Schön. Einfach nur schön.
Und schon fehlt der Wegweiser
Es dauert tatsächlich nicht lange, bis ich etwas verloren (nicht das letzte Mal) vor einer Kreuzung stehe. Kein Wegweiser, es gibt zwei Optionen rechts oder links. Ich hasse das, denn meine Erfahrung zeigt, dass wenn ich auf meine Intuition zähle, es garantiert schief geht. Ein älteres Ehepaar, stockbewaffnet, aber mit leichtem Gepäck unterwegs, leistet Hilfe. Danke schön!
Das erste Zwischenziel Wiehnachttobel taucht in der Ferne auf. Ein eigenartiger Name. Während des Wanderns hat man viel Zeit, über Dinge nachzudenken, die einem normalerweise total schnuppe sind. Beispielsweise über diesen seltsamen Namen. Hat das was mit Christi Geburt zu tun? Ist Jesus möglicherweise gar nicht in Bethlehem, sondern in diesem winzigen Kaff geboren worden? Und keine Seele hat davon Kenntnis? Man müsste den Papst darüber informieren, aber eben, das sind diese komplett blödsinnigen Gedanken beim Wandern.
Ich hoffe auf sinnvollere Überlegungen im Verlauf des Weges.
Selbstverständlich fehlt im Dorf schon wieder der Wegweiser, und wieder ist das Ehepaar zur Stelle. Wir gehen eine halbe Stunde gemeinsam weiter, während ich von meiner geplanten Wanderung schwärme (was den beiden ein kritisches Grinsen entlockt) und sie als Entgegnung von einer eigenen, sehr besonderen Wanderung erzählen. Sie haben es geschafft, sämtliche Kantonshauptorte zu durchwandern, ohne ein einziges Mal eine Strecke zu kreuzen. Eine über mehrere Jahre in Etappen erfolgte Wanderung, eher ein logistisches als ein anstrengendes Unternehmen.
Heiden
Die Sonne ist nun ein brennendes rundes Ding am Himmel, der Rucksack wird schwerer, doch der Spirit ist da.
Eine Verzweigung. Nach meiner Karte müsste der Weg nach Heiden rechts abbiegen, aber das Ehepaar rät mir, den linken, offenbar kürzeren Weg zu nehmen. Okay, warum nicht. Allerdings führt die Asphaltstrasse den Hang hinunter, Kuhglocken begleiten mich, und schon bald frage ich mich, ob mich die beiden loshaben wollten. Wer will es ihnen verübeln.
Der Weg führt in eine tiefe Schlucht hinunter und logischerweise ebenso schweisstreibend wieder hinauf. Immerhin ist da ein Baum, ein Bank, ein Plätzchen für das erste Picknick. Das erste von zahlreichen weiteren, die folgen werden.
Dann erreiche ich Heiden, nun mitten im Herz des Appenzellerlands, genau richtig für einen wohlverdienten Kaffee. Meine beiden Bekannten haben das Dorf ebenfalls erreicht, grüssen beim Vorbeigehen.
Allzu viel weiss ich nicht über das sogenannte Biedermeierdorf, offenbar wegen seines klassizistischen Ortskerns (den ich aber nicht entdecken kann; möglicherweise fehlt mir dazu die klassizistische Ausbildung). Es ist vor allem bekannt als Kurort. Viele Leute sind nach einem Herzinfarkt hier gelandet, um in der bezaubernden, vor allem wahrscheinlich unglaublich langweiligen Umgebung, ihre Pumpe wieder auf Vordermann zu bringen.
Wahrscheinlich gäbe es noch einiges zu sagen über das wirklich schöne Dorf, aber der Wanderer muss weiter.
Der Kaienspitz
Es geht nun aufwärts, dem Kaienspitz entgegen, der höchsten Erhebung des heutigen Abschnitts. Der Aufstieg ist lang und mühsam, wenn auch die Anstrengung durch ein leichtes kühles Lüftchen gemildert wird. Ich kreuze einen seltsamen Bauernhof mit Hunden, frei laufenden Ziegen, Gänsen, Hühnern und wohlig grunzenden Schweinen, die mir einen gelangweilten Blick zuwerfen.
Während einer der Hunde begeistert an meinen Beinen hochspringt und dafür eine Portion Streicheleinheiten erhält, grüsse ich eine junge Frau, die offenbar zum Hof gehört, aber nur gebrochen Deutsch spricht. Wenn es heutzutage noch von Hippies bewirtschaftete Höfe gibt, dann muss das einer davon sein. Leider macht das Girl einen scheuen und abweisenden Eindruck, sonst hätte ich nachgefragt. Es sind ja genau diese Begegnungen, die das Wandern so besonders machen.
Der Kaienspitz entpuppt sich als wunderbarer Aussichtspunkt für die ganze Umgebung. Der Blick streift bis weit nach St. Gallen und Wil hinaus, will sich gar nicht mehr lösen von der hinreissenden Landschaft.
Allerdings geht es anschliessend genau so steil abwärts wie vorher aufwärts, und zum ersten Mal melden sich meine Knie, die die ungewohnte Anstrengung offenbar alles andere als angenehm empfinden. Habe ich erwähnt, dass am Tag vor der Abreise mein rechtes Knie bei einer dummen Bewegung im Garten arg gezwickt hat? Es hat mir einige Sorgen bereitet, aber bis zum Abstieg vom Kaienspitz habe ich dies erfolgreich verdrängt.
Nun, sie werden sich wohl oder übel daran gewöhnen müssen, sind wir doch erst ein paar wenige Stunden unterwegs. Ich versuche also, langsam und vorsichtig zu gehen, bemüht, die Belastung möglichst gering zu halten.
Rehetobel
Dann Rehetobel, und schon der nächste Fehltritt im übertragenen Sinn. Man folgt – gemäss Karte – der Asphaltstrasse ins Dorf hinunter, oder man könnte doch, wie ich spekuliere, einem schmalen Pfad dem Abhang nach ans Ziel gelangen. Aber eben, Lektion Nummer eins, man folge der Karte und nicht der eigenen, meist falsch liegenden Intuition.
Auf jeden Fall führt der Weg anfänglich wie gedacht einer duftenden Wiese entlang bis zu einem Baum, der unbedingt fotografiert werden will. Er öffnet den Blick auf Rehetobel und scheint auch sonst ein Exemplar besonderer Baumschönheit zu sein.
Leider entpuppt sich die von mir gewählte Variante als ziemlich blöd, weil ich einen grossen Umweg durch steil abwärts führenden Teerstrassen nehmen muss, die meinen lädierten Knien empörte Aufschreie entlocken. Ansonsten gibt es zu diesem Dorf nicht viel zu sagen, es macht den Anschein, dass hier wohlhabende Leute wohnen, die zahlreichen SUVs und die stillen Strassen, die nach Schlafdorf riechen, zeugen nach Geld, viel Geld.
Das elende Chaschtenloch
Wenn mich nichts täuscht, entdecke ich auf dem gegenüberliegenden Hang das Tagesziel Trogen. Mit neuem Elan mache ich mich an das letzte Teilstück, genannt Chaschtenloch. Anfänglich ist nicht viel von einem Loch zu sehen, obwohl der Weg immer weiter nach unten führt und der Abhang zu Trogen hinauf immer steiler erscheint.
Der Weg ist aber leider nicht so nett, wie ich sie liebe, sondern steil und mühsam. Immerhin durch schattige Wälder, dann wieder entlang blühender Wiesen, die das Gehen dazwischen zu einer einzigen Freude machen.
Allerdings, sobald die Talsohle bei einem munter sprudelnden Bach erreicht ist, beginnt ein Aufstieg, der es in sich hat. Ich habe der Wirtin des Hotels Schäfli versprochen, sie anzurufen, wenn ich in der Nähe bin, sie weist mich darauf hin, dass ich den letzten Aufstieg nach Trogen langsam angehen soll.
Es hätte diese Warnung nicht gebraucht, denn nach bald 7 Stunden ist der Level meiner Batterie in den roten Bereich gerutscht. Mamma mia! Es handelt sich um eine an sich breite, aber äusserst steile Naturstrasse, ohne Stufen, ohne irgendwas, was den Tritt einfacher machen könnte, also mühe ich mich schwer atmend, schwitzend und fluchend den Abhang hinauf, muss mich dazwischen mal in den Klee fallen lassen, um den Puls auf ein normaleres Level zu bringen.
Der Rucksack scheint nun tonnenschwer zu sein, in ganz schwachen Momenten frage ich mich, warum ich mir das antue. Wird aber nicht das letzte Mal sein.
Trogen
Nicht mal mehr fluchend (dazu fehlt mir die Puste), nur noch keuchend erreiche ich schliesslich den alten Landsgemeindeort, wo abwechselnd mit Hundwil bis in die 90-er Jahre die Landsgemeine stattfand. Lange vorbei, schade wie mir scheint, aber es haben wohl einige schwerwiegende Faktoren dazu beigetragen (z.B. auch die Wahlen, die im Unterschied zum Kanton Glarus auch anlässlich der Landsgemeinde durchgeführt wurden).
Das Hotel Schäfli hat heute Ruhetag, also muss ich der Hausherrin per Handy meine Ankunft bekanntgeben. Zwei Biker, die einen Teil des Panoramawegs mit den Mountainbikes absolvieren wollen, sind gleichzeitig eingetroffen, und so okkupieren wir gemeinsam das alte Hotel, dessen Vergangenheit aus allen Ritzen zu dringen scheint. Aber das Zimmer ist okay, mehr brauche ich eigentlich nicht für die nächste Nacht.
Was allerdings erstaunt, ist die Tatsache, dass es neben dem Schäfli, das geschlossen hat, noch ein einziges Restaurant im ganzen Dorf gibt, das geöffnet ist (heute zum ersten Mal seit der Coronapandemie). Ich sitze also kurze Zeit später geduscht und mit schmerzenden Knien im Outdoorbereich des Restaurants vor einem Bier. Es ist nicht nur das erste und wohlverdiente, sondern auch das erste in einer langen Reihe von ebenfalls wohlverdienten Bieren.
Eigentlich bin ich bereits zum zweiten Mal hier, aber auch heute Abend erscheint mir das Dorf zwar architektonisch eine Augenweide zu sein, aber ansonsten so tot wie ein Dorf nur sein kann. Ich stelle mich nach dem Essen auf den grossen Platz, wo früher die Landsgemeinde stattfand, und warte auf Leben. Aber da ist nichts. Keine Menschenseele, kein Laut ausser Vogelgezwitscher, nicht mal ein Auto oder ein Motorrad. Ein seltsames Gefühl macht sich breit.
Was ist hier geschehen? Ist es wie der Niedergang vieler Gemeinden in dieser Grössenordnung, die den Jungen keine Zukunft bieten und langsam aber sicher einem sanften Schlaf entgegendämmern?
Mit diesem etwas traurigen Gedanken mache ich mich auf, meine müden Gelenke (mit grosszügigen Spenden von Ibuprofen und Voltaren) und alles Dazugehörige flach zu legen. Es ist noch hell vor dem Fenster, als ich mich aufstöhnend hinlege, in Gedanken bereits beim morgigen Tag, der die nächsten Herausforderungen bereit hält …
Song zum Thema: The Prodigy – Firestarter
Und hier geht der Trail weiter … nach Appenzell