Murmelnde Geräusche wecken mich aus tiefer Ohnmacht. Der Blick auf die Uhr zeigt, dass ich zehn Stunden geschlafen habe, nicht überraschend nach der gestrigen Tortur. Aber heute soll es gemäss Wanderführer etwas gemächlicher gehen.

Von Trogen (AR) über zwei sanfte Hügel mit grossartiger Aussicht auf den Säntis, die Stadt St.Gallen, den Bodensee und das coupierte Appenzellerland in den weiten Talkessel von Appenzell mit seinen reich verzierten Bürgerhäusern.

Ein Klacks im Vergleich zu gestern.

Stage 2: Trogen - Appenzell
Etappe 2: Von Trogen nach Appenzell

Frühstück mit Leidgenossen

Das Murmeln dringt aus dem Zimmer neben meinem, seltsam.

Anyway, ich mache mich mit erstaunlicherweise kaum noch schmerzenden Gelenken auf zum Frühstück und tatsächlich, aus unerfindlichen Gründen wurde das Gästezimmer zum Frühstückszimmer umfunktioniert. Welchen Vorteil daraus im Vergleich zum viel grösseren normalen Gästeraum im Restaurant zu gewinnen ist, entzieht sich mir.

Auf jeden Fall sitzen bereits vier Personen eng zusammen am Tisch, darunter überraschend auch das Paar aus dem Zug (der Hund musste aber im Zimmer bleiben) und die beiden Biker. Die Wirtin, korpulent und freundlich und gesprächig, führt mich zu einem Einertisch, wo ein ziemlich opulentes Frühstück auf mich wartet.

Das Ehepaar ist tatsächlich auch auf dem Panoramaweg, allerdings nur ein paar Etappen bis Amden, dann steigen sie aus. Wir fühlen uns alle ein bisschen als Helden, vor allem ich, der die ganze Strecke absolvieren will. Ich meine in den ungläubigen Gesichtern allerhand Zweifel zu entdecken, ist es das Alter?

An ihrer Stelle hätte ich die gleichen Zweifel. Einer der Biker fragt doch tatsächlich, ob ich ein zweites Paar Wanderschuhe mitgenommen habe. Na ja …

Das Pestalozzi Kinderdorf

Die Wirtin erklärt mir die Route nach Appenzell, und so starte ich den zweiten Wandertag frohgemut und mit frischem Elan.

Der Weg führt schnell aus Trogen hinaus ins Grüne, der Tag ist so schön wie er nur sein kann. Man kann gar nichts anders als langsam gehen, die würzige Luft einatmen, das Glück spüren. Immer wieder tauchen schmucke Häuser auf, ihre Gärten voll blühender und duftender Blumen, eine einzige Augenweide.

Nicht weit oberhalb von Trogen liegt das Pestalozzi Kinderdorf.

Seit 1946 stehen Kinder und Jugendliche im Mittelpunkt der Tätigkeit dieses Hilfswerks. In zwölf Ländern weltweit ermöglicht die Stiftung benachteiligten Kindern den Zugang zu qualitativ guter Bildung. Im Kinderdorf treffen Schweizer Schulklassen auf Jugendliche aus Osteuropa. Ziel der Projektwochen ist es, Vorurteile abzubauen und mit kulturellen, religiösen und ideellen Unterschieden konstruktiv umzugehen (Wikipedia).

Das Kinderdorf wurde international bekannt. In den ersten zehn Jahren zählte es gegen 500’000 Besucher. Prominente Besucher waren unter anderem Konrad Lorenz, der 14. Dalai Lama, Auguste Piccard, Henri Guisan, Josephine Baker, Pablo Casals, Martin Buber, Königin Friederike und König Paul von Griechenland, Gustav Wyneken, Werner Bergengruen, Carl Jacob Burckhardt, Hermann Gmeiner. (Wikipedia)

Schon von weitem ist sichtbar, dass es sich um eine besondere Siedlung handelt. Der Zugang zu den Hauptgebäuden zeigt Tafeln mit Werken der Kinder, viele aus unterschiedlichsten Kulturkreisen und Sprachregionen, alle mit einem vergleichbaren Schicksal, Armut, Unterernährung, Benachteiligung.

Manchmal frage ich mich, wie diese Leute wie Pestalozzi oder Henri Dunant ticken. Irgendwas unterscheidet sie von uns. Etwas Entscheidendes. Vielleicht liegt es schlicht und einfach darin, dass sie ein Problem erkennen (so wie wir) und sich entscheiden, etwas dagegen zu tun (so wie wir nicht). Ihnen sollte für immer unser Respekt gelten.

Man muss nicht lange überlegen, um einzusehen, dass Pestalozzis Gründung dieses Hilfswerks für das Image der Schweiz weitaus wichtiger ist als der Reichtum, die Banken, die Sauberkeit, Roche und Nestlé und Glencore und alle anderen.

The Pestalozzi Children's Village

Die Werke sind wunderschön, man möchte die Kinder treffen, ihre Geschichte hören, ihnen alles Gute dieser Welt wünschen. Doch man bleibt ein Eindringling, man belässt es besser bei den Gedanken und Wünschen für eine bessere Zukunft dieser Kinder und Jugendlichen.

Der richtige und der falsche Weg

Erwartungsgemäss dauert es nicht lange, bis ich in einem tiefen, dunklen, morastigen Wald stehe und nicht mehr weiss, wo es weitergeht. Der Weg dahin war sorgenlos, entspannt, beinahe euphorisch, durch eine grüne saftige Landschaft die Hügel hinauf. Keine Schmerzen, Rücken und Knie haben sich für den Moment abgemeldet, ich werde es ihnen heute Abend mit einer weiteren Portion Voltaren vergelten.

this is definitely not the right path this one's better

Irgendwo ist also ein Fehler passiert, nur, wie komme ich hier heraus, ohne den ganzen Weg zurückzugehen? Ich kämpfe mich bis zum Ende des Waldes, anschliessend eine steile, bewachsene Wiese hinauf, worauf sich die eben noch vielgelobten Knie melden (wer mehr über meine blöden Knie wissen will, der schaue mal im Südamerika Blog nach).

Schwer schnaufend erreiche ich die Strasse, wo ein Bauer eben dabei ist, den Zaun zu flicken. Da ich die Vorliebe der Bauern für Trampeltiere durch ihre Wiesen kenne, entschuldige ich mich bei dem Herrn. Er lacht nur und zuckt die Schultern. „Nicht meine Wiese, ich flicke nur den Zaun.“ Na dann.

Ich gelange schliesslich hinauf auf die obersten Hügel, zum Ort mit dem Namen Hohe Buche, wo ich allerdings weder einen Baum noch eine hohe Buche finden kann. Dafür zwei Wegweiser mit der 3, die in unterschiedliche Richtungen zeigen. Damn it! Dass darf doch nicht wahr sein. Meine geliebten 3-er Wegweiser wollen mich veräppeln?

Immerhin steht in der Nähe ein Restaurant, wo ich mich nach dem richtigen Weg erkundige. Der Wirt lacht und kann es nicht fassen, dass die Wegweiser verschiedene Richtungen anzeigen. Nun, immerhin kennt er die richtige Abzweigung, und so geht es hügelabwärts, manchmal nicht überraschend auch aufwärts, dem Dorf Bühler entgegen.

Das Bänklein, gerade richtig für einen Schluck Wasser und etwas Süsses, liegt auf der anderen Seite eines Zauns. Neugierige Kühe verfolgen interessiert mein Picknick, kommen näher, wollen genauer wissen, was sich da in meinem Rucksack versteckt hält. Ach die Kühe, ich liebe sie unendlich, diese Furzmaschinen, Klimazerstörer, Methanabsonderer …

Curious cows

Dunkle Wolken

Das Gebräu am Himmel, das Sonne und gute Laune ins Verderben schickt, macht mir etwas Bauchweh. Sollte da ein Gewitter aufziehen? Was ich in diesem Moment noch nicht weiss, ist, dass dies der Beginn einer mehrtägigen Regenperiode sein wird. Manchmal, vor allem bei solchen Unternehmungen, ist es gut, die Zukunft im Dunkel zu belassen.

The clouds are getting darker
Die Wolken werden dunkler

Auf jeden Fall ist mein Einzug in Bühler, einem nachgerade schrecklichen Kaff, eher von Sorgenfalten begleitet. Ein Gewitter ist nicht das, was mein Herz in diesem Augenblick begehrt, also entschliesse ich mich, ein Restaurant zu suchen und den Regen abzuwarten. Ein Einheimischer mit leichtem Balkanakzent zeigt mir die Richtung, ich eile der Strasse entlang, während die ersten Tropfen auf das heisse Pflaster klatschen. Das Restaurant entpuppt sich als sehr geschlossen, und offenbar gibt es kein anderes.

Sollte sich das Wetter tatsächlich unangenehm entwickeln, werde ich die Bahn nach Appenzell nehmen. Der Bahnhof ist nahe, ein guter Platz für das Mittagessen und eine halbe Stunde Warten auf das Gewitter, das sich aber rar macht und nach Norden verzieht. Auch gut.

Junge Dame mit Labrador

Eigentlich ist der weitere Weg sehr angenehm, wären da nicht immer wieder die Streckenabschnitte, die auf Asphaltstrassen bergabwärts führen.

Immerhin gibt es gelegentlich eine hochwillkommene Abwechslung, heute in Gestalt einer jungen Dame, mit der ich ins Gespräch komme. Offenbar ist ihr Labrador derart voller Zecken, dass nur noch ein Gang zum Tierarzt helfen kann. Der Hund erhält ein paar Schmusestreicheleinheiten und beruhigende Worte meinerseits, dann verschwindet die Dame mit einem Tschüss und alles Gute in einem Wäldchen, das hinunter nach Appenzell führt.

Der Talkessel mit dem Hauptort Appenzell des Kantons Appenzell Innerrhoden liegt vor mir, doch die Strasse (natürlich eine Teerstrasse) ist ein Mühsal, und ich bin heilfroh, als endlich die ersten Häuser auf der Talsohle auftauchen. Und da ist auch schon Labrador mit Begleitung, der Arztbesuch bereits erledigt.

Appenzell

Von oben sieht Appenzell genauso aus wie vorgestellt. Ich muss zugeben, dass ich noch nie hier war, zwar in Luang Prabang oder Bogota oder Mandalay, aber noch nie in Appenzell. Warum das so ist, weiss ich nicht. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass in dieser Kleinstadt ein sehr seltsames Völklein lebt, störrische, eigensinnige Menschen, die gerne etwas tun oder denken oder entscheiden, was nicht dem allgemeinen Trend entspricht.

Appenzell from afar
Appenzell von oben – der Misthaufen steht nicht zufällig da

Das äussert sich in unterschiedlicher Weise. Beispielsweise mit dem Beharren der männlichen Bevölkerung, die Frauen von den politischen Prozessen auszuschliessen. Ich bin überzeugt, dass ohne die übergeordnete richterliche Instanz es heute noch kein Stimmrecht für die Frauen geben würde.

Und da ist das sogenannte Ständemehr. Für nicht eingeweihte Leser: die direkte Demokratie der Schweiz sieht vor, dass Referenden und Initiativen, die von der Bevölkerung angeschoben werden können und gleichzeitig Änderungen der Verfassung beinhalten, nicht nur eine Mehrheit der Volksstimmen, sondern auch eine Mehrheit der Kantone erreichen müssen.

Das ist eine Art Checks and Balances Politik nach Schweizer Art. Konkret bedeutet es, dass ein kleiner Kanton wie Appenzell mit ein paar tausend Einwohnern genau gleich viel Einfluss auf die Entscheidung hat wie der bevölkerungsreiche Kanton Zürich.

War dieses Verhältnis früher einigermassen stimmig, so stimmt das heute nicht mehr. Heute entspricht 1 Appenzeller ca. 150 Zürchern. Was natürlich zu Problemen führt und das Ständemehr immer wieder in Frage stellt. Um es abzuschaffen, gibt es allerdings ein kleines Problem. Dazu wäre ein Ständemehr notwendig.

Die Konsequenz: da der Kanton und mit ihm einige andere in der Zentralschweiz zutiefst konservativ sind, haben eher urbane, zukunftsgerichtete Vorlagen reduzierte Chancen, angenommen zu werden. Was natürlich zu Frust und Widerstand der eher progressiven Kantone und Einwohner führt.

Aber sehen wir mal, wie es tatsächlich aussieht in diesem störrischen kleinen Ort. Man sollte schliesslich seinen Gegnern immer zuerst in die Augen sehen, bevor man urteilt.

Appenzell – the real one

Eigentlich fühle ich mich vom ersten Augenblick an sehr wohl. Der Kaffee im Garten eines Restaurants am Eingang der Altstadt, serviert von einer sympathischen jungen Dame, trägt viel dazu bei. Aber es lässt sich nicht verleugnen, dass Appenzell ein touristischer Hotspot erster Ordnung ist.

Die Altstadt wimmelt von Touristen aus aller Welt (ich dachte, dass Corona die meisten vom Reisen abhält; offenbar habe ich da was nicht verstanden. Vorerst gilt es aber, mein Hotel zu finden, und da die Batterie meines Handys leer ist, muss ich auf altmodische Weise versuchen, die Adresse zu finden. Die junge Dame im Restaurant holt ihr eigenes Handy hervor, öffnet Google Maps und erklärt mir die Richtung. Besten Dank, aber wie schon oft habe ich nach ein paar Minuten die Richtungsangaben vergessen und muss jemand anderes um Hilfe bitten. Dieser junge Herr ist ebenfalls sehr hilfsbereit, nur dass er mich in eine ganz andere Richtung weist.

Aber was soll’s, auch blinde Hühner finden irgendwann ein Korn, und so stehe ich schliesslich vor dem Hotel Stossplatz (ein äusserst seltsamer Name), doch das Etablissement hat noch geschlossen. Ich bin aber nicht geneigt, noch einen einzigen zusätzlichen Meter zu gehen, also mache ich es mir vor dem Eingang bequem, bis die Dame des Hauses auftaucht und mir Einlass gewährt.

Appenzöller Chäs Spätzli mit Bölle

Man kommt in Appenzell natürlich drum herum, die wunderbaren bemalten Häuser zu bewundern. Dies dürfte einer der Hauptgründe für den touristischen Erfolg sein. Ich bin tatsächlich beeindruckt, aber nicht nur der Häuser willen, sondern der Atmosphäre in der Stadt. Obwohl ein ziemliches Gewusel herrscht, ist die Stimmung entspannt, freundlich, mit einem Schuss Schlauheit, der so gut zu diesem Volk passt.

Im Unterschied zu seinem Schwesterkanton Appenzell Ausserrhoden hat sich hier die Landsgemeinde erhalten. Der Landsgemeindeplatz scheint geradezu von demokratischer Urkraft zu atmen, auf jeden Fall vermeint man die früheren Herren des Universums ihre Hände (oder ist es das Schwert?) zu heben, um dem lästigen Frauenstimmrecht ein weiteres Mal den Garaus zu machen.

One of those wonderfully painted Houses in Appenzell

... and another one of many

Ich gönne mir – obwohl des Wetter wieder in Richtung Regen kippt – im Garten eines Restaurants eine Appenzeller Spezialität, die man nicht verpassen sollte. Appenzöller Chäs Spätzli mit Bölle. Zahlreiche Touristen, aber auch viele Einheimische spazieren vorbei, man grüsst sich, es scheint, als würde sich hier jeder kennen. Was wahrscheinlich auch so ist.

Dann endgültig Rückzug ins Hotel, es dauert nicht lange, bis Blitze die Nacht erhellen, und der Regen voller Wut und Kraft an meine Fenster schlägt, so dass ich sie schleunigst schliessen muss. Es sieht nicht gut aus für den nächsten Tag. Weitere starke Gewitter sind angesagt, und wenn ich an die Gratwanderung in Richtung Kronberg denke, wird mir etwas mulmig. Wenn ich etwas hasse beim Wandern, sind es Gewitter.

Aber mal sehen. Ich möchte schlafen, aber es scheint sich alles gegen mich verschworen zu haben. Zuerst ärgert mich eine Mücke im Zimmer, dann weckt mich der Donner wieder auf, schliesslich bin ich hellwach und denke an die anstrengende Etappe vom Samstag. Nach Mitternacht gebe ich auf und schlucke eine Schlaftablette, was mich am Morgen garantiert als schlafwandelnden Zombie wecken wird.

Song zum Thema:  Muse – Resistance

Und hier geht die Wanderung weiter … zur Chamhaldenhütte nahe der Schwägalp

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