Das wahre Highlight des Tages ist das Frühstück mit der Sikh Familie. Während ich in aller Ruhe in meinem opulenten Frühstück stochere, leistet mir das Ehepaar Gesellschaft.
Er erzählt die irre Geschichte seines Wegs, der ihn von allen Orten der Welt ausgerechnet nach Amden geführt hat. Offenbar ist das Hotel längere Zeit leergestanden, sozusagen ein Schnäppchen für jemanden, der zeigen will, dass er fähig ist, eine auf den ersten Blick aussichtslose Sache zum Erfolg zu bringen. Seine Zuversicht ist ansteckend, ein Beispiel für die ewig ängstlichen Schweizer, die immer nur an die Risiken und selten an die Chancen denken? Ich verlasse mich auf die junge Generation. Sie tickt definitiv anders.
Im Gegenzug erzähle ich von meinen Erlebnissen im Punjab bzw. in Amritsar, vor langer langer Zeit, als die Welt noch jung war.
Der heutige Plan bietet eine Menge Meter und Kilometer, leider nicht die attraktivsten.
Länge: 26 km, Aufstieg | Abstieg: 260 m | 720 m, Wanderzeit: 6 h 30 min
Der Retter der Regenwürmer und Weinbergschnecken
Bevor es auf der Linthebene nur noch gerade aus geht, führt der Weg über einen alten historischen Saumpfad von Amden nach Weesen hinunter. Zuerst geht es aber wie üblich durch nasse glitschige Wiesen hangabwärts, wie immer leitet mich mein alter Freund, der 3-Wegweiser.
Ich werde definitiv in den Schnecken- oder zumindest in den Regenwurmhimmel kommen und dort als Retter und Wohltäter gefeiert. Keine Ahnung, wieviele Regenwürmer ich die letzten Tage von den nassen Strassen auf die angrenzende Wiese in Sicherheit gebracht habe (das Bücken mit dem schweren Rucksack bringt weitere Pluspunkte im Wurmuniversum).
Heute sind die Weinbergschnecken an der Reihe.
Am Anfang denke ich an einzelne Exemplare, bis sich ihre Anzahl allerdings so schnell vervielfacht, dass sich jede Rettungsaktion in eine länger dauernde Übung entwickeln würde. Ich habe noch nie derart viele dieser wunderbaren geschützten Schnecken gesehen, es muss sich hier also um ein eigentliches Schneckenparadies handeln.
Sehr schön! Dann kriecht und vermehrt euch schön, meine Lieben!
Immerhin blinkt durchs dichte Blättergewimmel bereits der Walensee herauf, eine hellblaue Lagune, gekrönt von den hinter weisslich grauen Umhängen versteckten Glarneralpen. Ich hätte gerne einen Blick auf sie geworfen, aber das wird mir heute wohl verwehrt bleiben.
Der Treppenweg
Am Anfang ist der Weg sehr angenehm, leicht bergab führend, ein Vergnügen. Doch dann beginnen die Treppenstufen, und man ahnt es – kein Vergnügen mehr, vor allem nicht für die Knie, die bereits wieder lauthals protestieren. Jede Stufe ist hoch, viel höher als man sich gewöhnt ist. Es erinnert mich an die verflixten Stufen auf dem Langtang Trek in Nepal, der mich dazu verleitet hat, jedem zukünftigen Trek abzuschwören.
Der Treppenweg, als Wegbaukunst zum Kulturgut erklärt, wurde in den Nullerjahren restauriert, sodass man nun aus eigener Erfahrung mitfühlen kann, welche Strapazen früher erlitten werden mussten, um von einem Ort zum anderen zu gelangen.
Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie die Leute früher mit Sack und Pack, wahrscheinlich mit Hilfe von Eseln oder Maultieren, bis 1882 über Hunderte von anstrengenden Steinstufen diesen steilen Weg hinauf oder hinunter geschafft haben. Andererseits weiss man sehr genau, welche Mühsal das Leben früher gewesen sein muss. Keine angenehme Zeit, auch wenn sie gelegentlich romantisiert wird.
Endlich im Tal
Das Städtchen Weesen am Walensee ist berühmt für sein mildes Klima, Trauben und Feigen gedeihen hier, man fühlt sich wohl.
Nach dem Abstieg über den Treppenweg habe ich mir eine Pause verdient, doch nur eine kurze, der Weg ist weit bis Siebnen. Heute ist eine der längsten Etappen angesagt, und ganz ehrlich, auch eine der langweiligsten und ödesten des ganzen Wegs. Aber auch die müssen absolviert werden.
Immerhin, der Weg der Linth entlang, hier ein schnurgerader Kanal, der sich bis zum Zürichsee hinzieht, ist eine mehr als willkommene Abwechslung nach all den Hügeln und Bergen und steilen Wegen.
Die Wiesen stehen in voller Blust, man könnte meinen, es gäbe was zu feiern. Aber vermutlich nützen die Pflanzen den kurzen regenfreien Augenblick, um Sonne und Wärme zu tanken, bevor sie der nächste Schwall Nässe trifft. Der Himmel macht einen bedenklichen Eindruck, als würde meine Wetterprognose in absehbarer Zeit eintreffen.
Der Blick geht ins Tal hinein, ins Glarnerland mit dem Glärnisch und dem Rauti, verdeckt von dicken Wolken, die nichts Gutes für den Nachmittag bedeuten. Ich befinde mich nun sozusagen in meiner engeren Heimat, Näfels ist einen Katzensprung entfernt, ich könnte einen Abstecher zu meinen Verwandten machen, aber eben, der Weg ist wie gesagt noch weit (und der Himmel verdüstert sich einmal mehr).
Hinaus auf die Linthebene
Der Linthkanal (oder Escherkanal) macht einen Schwenk nach rechts, passiert das Dorf Ziegelbrücke und führt dann schnurgerade in Richtung des Zürichsees.
Man kann nicht über den Linthkanal sprechen, ohne ein Wort zur Vergangenheit zu verlieren. Vor der Linthkorrektion 1807-1822 durch Hans Conrad Escher von der Linth vereinigte sich bei Ziegelbrücke die Linth mit der Maag, dem früheren Ausfluss des Walensees. Ab dort mäandrierte die Linth stark und war durch die Anlagerungen von Sandbänken nur bedingt schiffbar.
Durch den Linthkanal – die kanalisierte Maag zwischen Weesen und Ziegelbrücke und die korrigierte Linth zwischen Ziegelbrücke und Zürichsee – fliesst das Wasser seither ohne Geschiebe weiter. Der Geschieberückstau der Linth hatte zuvor zu einer Versumpfung der Linthebene und zu wiederholten Überschwemmungen in Weesen geführt.
Durch den Bau des Linthwerks mit Escher- und Linthkanal senkte sich der Pegel des Walensees um mehrere Meter, das grosse Malaria-verseuchte Sumpfgebiet zwischen Walensee und Obersee konnte trockengelegt und durch wertvolles Kulturland ersetzt werden.
Nordwärts auf der Linthebene
Bei Ziegelbrücke verlasse ich den Kanal und drehe nach Niederurnen ab, in der Hoffnung, ein Restaurant zu finden. Die anstehende Abstimmung (über die ich später noch einige Worte verlieren werde) hinterlässt ihre Spuren auch im kleinen Café, wo ich meine müden Knochen ausstrecke.
Und nicht zum ersten Mal befürchte ich nach den aggressiven Aussagen der Wirtin das Schlimmste (ich sollte recht behalten).
Nördlich von Niederurnen führt wider Erwarten abseits der Hauptstrasse tatsächlich ein Wanderweg dem Waldrand entlang. „Glarner Wanderwege“ heisst es auf zahlreichen Schildern. Die besagten Wanderwege sind gut, allerdings scheint man die Sitzbänke entlang des Weges vergessen zu haben. Es dauert einige Zeit, bis ich mitten in der Verbrennungsanlage wenigstens einen flachen Stein finde, auf dem ich, beobachtet von misstrauischen Arbeitern, mein Mittagessen einnehme.
Nichts gegen die Glarner Wanderwege, aber die erste Sitzbank taucht kurz nach der Kantonsgrenze zu Schwyz auf. Keine Lorbeeren für die Glarner, aber einige für die Schwyzer (es sollten die einzigen bleiben). Eine keuchende Frau mit Hund joggt vorbei, die Frage, ob der Hund keine Probleme mit dem Tempo hat, beantwortet sie mit: „er nicht, aber ich“.
Geschichten von Weitwanderern
Dann in Reichenburg endlich ein Restaurant, sogar mit Garten. Falls jemand meint, dass ich den Hauptteil meiner Wanderung entweder auf Sitzbänken oder in Restaurants verbringe, hat er nicht ganz unrecht. Ich muss oekonomisch wandern, meine Kräfte einteilen, sonst bleibt Genf ein ferner Traum. Also suche ich jeweils nach 90 Minuten einen Platz zum Ausruhen.
Der Wirt setzt sich zu mir, will wissen, wo’s hingeht. Er nickt bedächtig, erzählt dann allerdings von einem 75-jährigen Deutschen, der sich sozusagen seit Jahren auf allen Weitwanderwegen Europas herumtreibt. Also von Kiel nach Kroatien, dann via Italien nach Spanien und weiter quer durch den Kontinent. Sein Handy habe er zuhause gelassen, weil ihn sonst seine Frau ärgere, die dauernd wissen wolle, wo er sei.
Was soll man da sagen? Ich fühle mich mit meinen geplanten 500 Kilometern wie ein Anfänger, ein Niemand (ich werde später kurz vor Genf noch so einen Wahnsinnigen treffen, der auf dem Weg nach Jerusalem ist). Immerhin scheine ich nicht der einzige Spinner unterwegs zu sein. Was ein immerhin kleiner Trost ist.
Es regnet wieder mal
Der Wirt meint, dass es nicht so ernst sei mit dem Regen („es wird ihn sicher wegwinden“). Wie die nächste halbe Stunde zeigt, kann man sich auf solche Prognosen nicht verlassen, denn es beginnt zu pissen, was das Zeug hält.
Was ich Gottlob nicht weiss, ist, dass es bis Siebnen anhalten wird.
Eigentlich würde der Weg nun auf den weiten Feldern nördlich Reichenburg weiterführen. Angesichts des Gewitters mit Blitz und Donner ziehe ich es vor, der Hauptstrasse zu folgen.
Was nun folgt, ist eine endlos lange Wanderung entlang jämmerlich hässlicher Strassen und Dörfer. Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, warum diese einstmals hübschen kleinen Orte derart verschandelt worden sind. Ein unansehnliches Industriegebäude nach dem anderen (die meisten davon in irgendeiner Weise mit Autos verbunden, Garagen, Autohandel, Pneuhandel, Landwirtschaftsmaschinen). Dank dem Regen schaue ich geradeaus, um mich nicht durch die vollkommene Abwesenheit von Schönheit ärgern zu lassen.
Schritt um Schritt
Und so trotte ich vor mich her, der Regen peitscht in mein Gesicht, die Autos und Lastwagen schleudern beim Vorbeifahren Gischt über mich, es ist mir egal. Ich spule lange, endlos lange, teilweise schnurgerade Strassen in gemächlichem Tempo ab, ich muss nicht pressieren, nass bin ich sowieso.
Nicht zum ersten Mal verspüre ich das Meditative beim Gehen. Der Geist hat sich verzogen, das Denken eingestellt, man setzt einen Fuss vor den anderen, alles verschwindet ausser den nächsten Metern, dem nächsten Dorf, der nächsten Abzweigung. Nicht-Wanderer werden es nie begreifen, aber genau diese Momente sind es, die es zu etwas Besonderem machen. Man müsste es jedem empfehlen, der in Problemen steckt, Depressionen, Burnout, Verlorenheit.
Man muss einfach nur gehen. Mit oder ohne Rucksack, bis zur Erschöpfung, bis man nicht mehr kann, bis die schlimmen Gedanken und Gefühle weggebrannt sind.
Endlich da
Schliesslich Schübelbach, dann Buttikon, keine Grenze mehr erkennbar, alles ist miteinander verschmolzen, doch die Umgebung gewinnt auch jetzt nicht an Attraktivität. Vielleicht ist es das schlechte Wetter, vielleicht die letzten Tage mit der Erfahrung der Schönheit der Berge und Täler, dass mir die Hässlichkeit der Umgebung derart ins Auge sticht.
Manchmal setze ich mich auf einen nassen Stein am Strassenrand, müde und mit elenden Knieschmerzen, aber es ist nicht mehr weit bis Siebnen. Die ersten Häuser tauchen auf, ein Mann in meinem Alter bleibt vor mir stehen, fragt nach meinem Befinden. „Da scheint jemand müde zu sein.“
Wir lachen, haben offenbar gemeinsame Freunde in Näfels, ein hochwillkommenes Treffen. Die letzten Meter zum Bahnhof, wo mich mein Freund Nestel erwartet, sind sehr viele Meter, denn der Bahnhof liegt natürlich am anderen Ende von Siebnen. natürlich erkennt er mich nicht in meinen Regenklamotten, kein Wunder, ich muss aussehen wie ein Fremder.
Das Zimmer ist schön, das spätere gemeinsame Nachtessen genau das, was mich von den Erfahrungen des Tages rettet. Morgen geht’s weiter. Allerdings habe ich nach den heutigen knapp 30 Kilometern und 8 Stunden keine Lust auf eine weitere Monsteretappe.
Ich werde mir eine Alternative überlegen. Mal schauen …
Song zum Thema: Bruce Ruffin – Rain
Und hier geht der Trail weiter … nach Einsiedeln