Dann sind wir also unterwegs, endlich. Die Strecke nach Pokhara misst 200 Kilometer, sogar mit unserem langsamen Gefährt in einem Tag zu schaffen. Kein Blick zurück im Zorn, wie es im berühmten Schauspiel von John Osborne so schön heisst, sondern einer mit Wehmut, denn wer weiss schon, was die Zukunft bringt und ob wir es schaffen, irgendwann zurückzukehren (doch doch, wir werden es schaffen – 1990 beim Kaligandaki-Trek und 2019 beim Langtang-Trek).
Der Prithvi-Highway
Der Prithvi Rajmarg oder Prithvi Highway ist eine Fernstraße, die Kathmandu mit der weiter westlich gelegenen Stadt Pokhara verbindet und 1974 fertiggestellt wurde.
Der Highway ist eine unbestreitbar landschaftlich reizvolle Reise, die auf der ersten Hälfte dem Trisuli-Fluss folgt und bei der der hohe Himalaya immer näher in Sichtweite kommt, je näher man Pokhara kommt.
Der Verkehr ist zwar noch nicht so dicht wie in späteren Jahren, aber trotzdem gilt es, sich bis Thankot aus dem Kathmandutal herauszuquälen. Die Strasse führt in unzähligen Serpentinen ins Tal hinunter, wo man endlich, spürbar aufatmend, das Tal des Trisuli Flusses erreicht.
Von nun an geht es ziemlich gemütlich dem Talkessel entlang, zur Rechten der Fluss, meist schäumend, dann wieder in sich ruhend, wie es Flüsse manchmal tun. Es gibt leider keine Originalbilder jener Fahrt, also benutze ich ein paar neuere von 2019.
Eine grüne Welt
Der Blick aus dem Fenster – sofern ich als Fahrer mir das erlauben kann – eröffnet erstaunliche Anblicke, die so anders sind als alles Bisherige in Nepal. Der Fluss hat an vielen Stellen tiefe Schluchten gerissen, wo die Strasse sich dem Berg entlang mühen muss. Doch dann wieder überraschen Reisterrassen, die bis ans andere Ende des Tales reichen, und saftige Wiesen, manchmal mit Kühen, dann wieder mit Menschen, die sich um die Reispflanzen kümmern. Und irgendwo in der Ferne, immer etwas im Dunst, die Kette des Himalaya.
Wir haben acht Stunden bis Pokhara eingeplant, aber nicht ganz überraschend werden wir länger brauchen. Was absolut kein Problem darstellt, denn die Umgebung ist überragend und muss mit dem notwendigen Respekt behandelt werden. Und so stoppen wir ein paar Mal, um die Beine zu vertreten oder uns einfach der Schönheit der Landschaft hinzugeben.
Alle paar Kilometer ein Dorf entlang der Strecke, wir kennen dies in der Zwischenzeit, das alltägliche Chaos neben der Strasse, das Leben in allen Fazetten.
Pokhara
Pokhara liegt offenbar ziemlich genau im geografischen Mittelpunkt des Landes, wer hätte das gedacht. Die Stadt ist die zweitgrößte des Landes und grenzt an den Phewa-See und im Norden an den Ausläufer des Annapurnamassives.
Heute kaum vorstellbar, dass bis Ende der 1960er Jahre die Stadt nur zu Fuß erreichbar war und die erste Straßenverbindung erst 1968 fertiggestellt wurde. Wir haben also Glück gehabt, dass wir die beschwerliche Reise nicht zu Fuss machen müssen.
Doch im Jahre des Herrn 1975 ist Pokhara kaum mehr als ein grösseres Dorf, doch bereits spürbar eine Stadt in der Entstehung. Die Strassen sind noch eng, die Gassen mit Unrat und Löchern überhäuft, zu Fuss ist es ratsam, den Blick nicht vom Boden zu nehmen.
Doch von der rasanten Entwicklung zu einem Zentrum touristischer und wirtschaftlicher Aktivitäten ist noch wenig zu spüren. Erst in ein paar Jahren wird Pokhara zu einem wichtigen Ausgangspunkt zu den berühmten Treks zum Annapurna und durch das Kalikandaki-Valley werden. Wo man mit professionellen Piloten Gleitschirmfliegen ausprobieren kann. Und ausserdem über eine halbe Million Einwohner aufweisen.
Das Nepal-Matterhorn
Klar, das erste, was auffällt und man sich lange vorher darauf gefreut hat, ist Nepals Matterhorn – der Machapuchare, der heilige Berg, der noch niemals bestiegen wurde, eben, weil er heilig ist.
Hand aufs Herz – er ist mindestens so schön wie unser heiliger Berg, wenn nicht noch eine Spur schöner und symmetrischer. Auf jeden Fall eine Augenweide, vor allem, wie auf dem Bild unten, beim Abend- oder Morgenlicht. Man könnte ihn stundenlang bestaunen und sich vorstellen, da oben zu stehen, auf knapp 7000 Metern, und dem Gefühl, der erste und einzige zu sein (was für eine blöde Idee).
Wenn er sich nicht zufälligerweise hinter Dunst oder Wolken versteckt, wendet sich der Blick automatisch immer wieder in diese Richtung. Und wenn er sein leuchtendes Antlitz wieder zeigt, begrüsst man ihn als alten Freund.
Und ja, viele Jahre später ist er immer noch ein Wunder.
Torten und triefende Nasen
Landschaften wirken sich auf das Denken aus. Menschen, die in ungewöhnlichen Landschaften leben, haben die Tendenz, ungewöhnlich zu denken. (Olga Tokarczuk)
Keine Ahnung, ob Olgas Ansicht auch hier zutrifft. Man stellt allerdings schnell fest, dass die Menschen hier entspannter und freundlicher sind als ihre Landsleute in Kathmandu. Das ist allerdings keine neue Erkenntnis, Grossstädte sind im Allgemeinen schneller, dynamischer, aber auch abweisender, manchmal arroganter.
Wie auch immer, wir fühlen uns sehr schnell sehr wohl, ob es mit der ungewöhnlichen Landschaft und den entsprechend ungewöhnlich denkenden Menschen zu tun hat, bleibt unbeantwortet.
Der gesuchte Zeltplatz oder wie immer man das nennen will, liegt etwas ausserhalb des Dorfkerns, nicht mehr als ein Stück Wiese mit ein paar niedrigen Mauern rund herum, doch alles in allem ganz angenehm. Der Weg ins Zentrum ist nicht allzu weit, es gibt, wie wir enthusiastisch feststellen, eine Bäckerei/Konditorei, wo es allerhand Süsses gibt, sogar Torten, man stelle sich vor. Genau das, wonach unser ausgehungertes System lechzt.
Während sich Monika eine neuerliche Krankheit (Magenverstimmung? Torten?) zugezogen hat und den Tag im Schlafsack verbringt, bin ich immer wieder auf dem Weg zur Bäckerei, vorbei an spielenden Kindern auf der Strasse, und wundere oder ärgere mich über ihre triefenden Nasen, kein Wunder, denn die Kleinen sind sehr schlecht gekleidet. Es ist Winter, in der Nacht sehr kalt, und auch während des Tages kann es schon mal kühl sein.
Warum also zum Henker werden diese Kinder nicht besser behandelt? Armut? Vernachlässigung?
Nepalesische und andere Dramen
Und noch ein Drama: am Morgen entdecken wir auf der Campingwiese einen Mann, offensichtlich ein Einheimischer, der einen ungewöhnlich traurigen und verlassenen Eindruck macht. Wir sind bemüht, ihm irgendwie zu helfen, laden ihn zu einem Tee oder Kaffee ein, er winkt ab. Die Übersetzungshilfe einer Nepalesin bringt dann Klarheit. Offenbar ist er von seiner Frau verlassen worden und weiss nun nicht, wie es weitergehen soll.
Eine alltägliche Tragödie, die sich so oder ähnlich auf der ganzen Welt abspielt, und immer bleiben Opfer zurück. Wir können ihm nicht helfen, wünschen ihm einfach alles Gute.
Und auch das Drama Frodos geht im ersten Band dem Ende entgegen. Der letzte Satz heisst:
Dann schulterten sie ihre Rucksäcke und nahmen die Suche auf nach einem Pfad, der sie über die grauen Berge des Emyn Muil und hinunter in das Tal des Schattens bringen würde …
Wo zum Henker soll ich bloss die beiden Fortsetzungen herkriegen.
Zu Fuss
Es gilt das Dorf/die Stadt zu erkunden, zu erobern. Das Gleiche schon so viele Male durchgeführt, so viele Male an den Erwartungen gescheitert. Es ist immer anders als vorgestellt. Eine Erkenntnis, die sich jeder Reisende einprägen sollte. Alles ist immer anders als angenommen, die Welt will nicht vorhergesehen werden.
Ach Gott, ich werde wieder mal philosophisch. Gibt es ein Mittel dagegen?
Auf jeden Fall ist es ratsam, die Sache auf leichtem Fuss anzugehen. Auf jeden Fall zu Fuss. Städte werden erst dann zu Vertrauten, wenn man sie zu Fuss abgelaufen hat. Also machen wir uns auf.
Wie gesagt, das Dorf ist wirklich noch ein Dorf. An der Strasse werden Früchte verkauft, etwas abseits steht oder sitzt man zusammen und spielt ein Spiel. Alles sehr entspannt, man würde am liebsten dazusitzen, Teil der Gesellschaft werden.
Bamyan-Bäume und halbnackte Kinder
Man braucht nicht lange, um die Dorfgrenzen zu erreichen. Was sofort ins Auge fällt, sind die riesigen Bamyan-Bäume. In Indien wird der Banyanbaum insbesondere von Hindus als heiliger Baum verehrt. Zweige der Banyan-Feige werden bei rituellen Handlungen eingesetzt.
Wenn man sich darunter setzt, merkt man schnell, wie winzig man im Vergleich ist.
Während des Tages ist es erstaunlich warm, man darf die warmen Kleider bis zum frostigen Abend verstauen. Wenn man einen Blick auf die halbnackten Kinder wirft, fragt man sich schon, wie ihr Leben in der Zukunft sein wird. Werden sie überleben (die Kindersterblichkeit ist hoch)? Hier gilt immer noch Survival of the Fittest, nur die Starken überleben.
Die Frage stellt sich immer wieder – wie können wir die schlimmsten Bilder sehen, ohne den Glauben an die Menscheit zu verlieren? Hat es etwas mit unserem jugendlichen Alter zu tun, das vielleicht mehr Resilienz, mehr Unbekümmertheit besitzt? Doch eigene Erfahrungen zeigen, dass das Alter dünnhäutiger macht.
Ich zitiere:
Und dann geschieht etwas, was mir den Atem nimmt. Auf dem Trottoir kauern ein paar kleine Kinder am Boden, alle völlig verdreckt, alle barfuss, alle bis auf die Haut abgemagert,a und wühlen im Unrat, den dort jemand ausgeleert hat.
Davon lesen und sich schon bei der Vorstellung entsetzen, ist das eine. Das ganze Elend mit eigenen Augen zu sehen, ist das andere. Man sucht verzweifelt nach Ideen, wie man helfen könnte, doch alles, was man hat, sind ein paar Rupien. Das genügt vielleicht bis zum frostigen Abend.
Es bricht einem das Herz.
Auf dem Rückweg nach Delhi
Es ist Februar geworden, der Winter ist auch in Nepal angekommen. Man darf annehmen, dass es in Delhi wärmer sein wird, aber das wird sich zeigen.
Und so verlassen wir eines schönen Morgens das liebgewonnene Pokhara und machen uns auf den Weg zur nepalesisch-indischen Grenze. Es wird ein neuer Übergang sein, die ganze Strecke ist unbekannt. Wir geniessen die unbekannte Strecke, auch wenn sie noch so mühsam ist, denn ab Delhi fahren wir bis in die Türkei den gleichen Weg zurück.
Was man – Gott sei’s gedankt – nie zum Voraus weiss, ist der Zustand der Strasse. Und diese hat es fürwahr in sich. Denn der Regen der letzten Wochen hat die Strasse teilweise unpassierbar gemacht, so zumindest würde es in Europa heissen. Nicht hier, nicht in dieser abgelegenen Gegend, wo der Verkehr zwischen den Dörfern eine wichtige Funktion hat. Und noch wichtiger – diese Strecke dient dem Warentransport zwischen Nepal und Indien.
Die letzte Herausforderung
Sicher eine der schlimmsten Fahrerlebnisse bisher: links ein tiefer Abgrund, natürlich ohne Leitplanken, auf der anderen Seite vollbeladene Lastwagen, die gefährlich nahe kreuzen. Aber eben, eine alte Weisheit sagt, das etwas Schlimmes garantiert durch etwas noch Schlimmeres übertroffen werden kann, siehe Ladakh.
Aber der Tag hält weitere unangenehme Überraschungen bereit. Ausnahmsweise sind weder Lastwagen noch andere Vehikel zu sehen, nur wir und ein steiler, von Schlamm und tiefen Rinnen bedeckter Aufstieg. Er ist nicht besonders lang, aber eben, ziemlich steil. Wie sollen wir das mit unserem schwachen Motörchen bloss schaffen?
Einige Minuten lang – während bereits Zweifel an der Weiterfahrt aufkommen – analysieren wir das Problem. Eigentlich gibt es nur eine einzige Möglichkeit. Wir müssen Anlauf nehmen und hoffen, dass das Tempo genügt, um den Anstieg bewältigen zu können.
Es ist ziemlich still geworden. Ich fahre also den Bus zurück, hundert Meter oder mehr, gebe Gas und bete zu allen Göttern. Und wieder einmal sind sie uns wohlgesonnen.
Der Wagen pflügt sich mit aller Tapferkeit, die er seinem altersschwachen Motor entlocken kann, den Hang hinauf. Am Anfang noch ziemlich rasant, dann immer langsamer, die Räder drehen durch – noch zwanzig Meter, noch zehn, wir atmen längst nicht mehr, dann sind wir oben und recken die Faust. Gott im Himmel, wir haben es tatsächlich geschafft.
Eigentlich sind wir uns bewusst, dass wir Lumbini passieren, dem Geburtsort des Buddhas. Der Ort liegt nur wenige Kilometer nördlich der Grenze zu Indien, aber es drängt uns vorwärts, genug der Pagoden und Tempel. Und so überqueren wir in Butwal die Grenze und sind zurück im geliebten/gehassten Indien.
Der Rest der Strecke bis Delhi ist schnell erzählt. Wir verbringen einen Nacht unterwegs, fragen uns in Lucknow mit Händen und Füssen durch den dichten Verkehr, und dann, ja dann, schliesst sich in Delhi der Kreis.
Passender Song von 1975: AC/DC – It’s a long way to the Top (if you wanna Rock ’n‘ Roll)
Und hier geht der Trail weiter – wieder nordwärts