“Il est cinq heures, Paris s’éveille”, einer der zeitlosen Hits von Jacques Dutronc. Es ist etwas später als 5 Uhr und anstatt Paris erwacht Saigon aus seinem kurzen Schlaf. (“Les travestis vont se raser, les stripteaseuses sont rhabillées”).
Noch müde vom ebenfalls kurzen Schlaf, lehne ich an die Wand, während rings um mich bereits ein geschäftiges Tun im Gange ist. In einem Hotel in dieser Gegend darf man sich nicht wundern, wenn bis früh in den Morgen eine lautstarke Party abgefeiert wird, so wie vermutlich jede andere Nacht auch.
Das junge Mädchen, dem Lokal gegenüber meinem Hotel zugehörig, wischt die Strasse mit einem Ernst, der beinahe rührend ist (“les balayeurs sont plein d’balais”). Alle Überbleibsel der Party, jedes Papierchen, jedes noch so winzige Mikro-Fetzchen Staub wird sorgfältig zusammengewischt. Das dauert gut und gerne eine Viertelstunde. Nach getaner Arbeit kann ich ihr den verdienten Applaus nicht verwehren, was wiederum ein überraschtes und erfreutes Lächeln auslöst. Eine alte Erkenntnis: Es ist einfach, einen Tag auf positive Weise zu beginnen.
Am Rand der Gesellschaft
Ein paar Meter weiter wird der Tag auf weniger positive Weise begonnen. Zwei Gestalten, eine Frau und ein Mann, wie sich bei näherer Betrachtung herausstellt, wühlen sich durch die Abfallsäcke. Ihre Hände sind geschützt durch mehrmals darum herumgewickelte Plastikfolien. Sie sind erstaunlich erfolgreich in ihrem flink und mit professioneller Erfahrung durchgeführten Tun. Karton, Flaschen, aber auch allerhand undefinierbare Gegenstände werden aus dem Müll gefischt, kurz begutachtet und je nach Eignung in einen mitgeführten Karren gelegt.
Auch das eine Erfahrung, die andere Seite der Grossstadt, ihr menschlicher Ausguss, die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft, deren Tage einzig dem Überleben dienen. In diesen Momenten relativiert sich einiges, auch all das, was man in Reisen wie der meinen zu erfahren, zu erleben, zu erhoffen glaubt. Es gibt eine andere Welt, eine unendlich weit entferntes und trotzdem so verdammt nahes Universum …
Ist das mein Bus?
Der Pickup-Taxi bringt mich nach kurzer Fahrt zu einem wartenden Bus. Nun bin ich doch etwas überrascht, denn anstelle des vornehmen Sleeping-Busses, der mir versprochen wurde, wartet ein mehr als heruntergekommenes Vehikel. Nun gut, das wird also einmal mehr eine toughe Sache, aber was soll’s, die durchgesessenen Sitze und die vermutlich kaputten Stossdämpfer werden Labsal für meine Bandscheiben sein.
Die Erfahrung hat nämlich gezeigt, dass das Geschüttel und Gerüttel meine angegriffenen Wirbel auf eine Weise massiert, dass sie garantiert für mehrere Wochen keinen Mucks mehr von sich geben. Aber natürlich ist alles mal wieder Schall und Rauch, denn der Bus entpuppt sich als zweiter Pickup, der mich zur endgültigen Busstation führt. Dort erwartet mich tatsächlich ein Ungetüm von einem Sleeping-Bus auf mich wartet und auch pünktlich abfährt.
Eine Riesenstadt
Saigon ist eigentlich mehr eine Provinz als eine Stadt, steht im Lonely Planet, beträgt doch die Entfernung vom nördlichsten noch zur Stadt gehörenden Stadtviertel bis zum südlichsten gut und gern 120 Kilometer. So überrascht es nicht, dass wir fahren und fahren und trotzdem immer noch in Saigon sind. Es erinnert mich an Los Angeles, wo wir am Stadtrand übernachteten, um den nächsten Tag damit zu verbringen, die Stadt in Richtung Santa Monica zu durchqueren.
Etwas ausserhalb des Zentrums finden sich kilometerweit Firmen, die ausschliesslich Occasions-Baumaschinen anbieten. Hunderte, tausende von verrosteten Ungetümen, für die es offenbar einen lukrativen Markt gibt. Und dazwischen, wie aus einer anderen Welt, ein winziger Stand am Strassenrand, der nichts anderes als kleine, handgrosse Spiegel anbietet …
Immer wieder Stopps – immer wieder die Möglichkeit, die kunstvoll ausgelegten, exotischen Dinge zu bestaunen.
Der Mekong – zum letzten Mal
Und da ist da wieder dieser Fluss, mein Mekong. Er hat seine homogene Form längst verloren, ist zu einem vielarmigen Kraken geworden, der ein hunderte Kilometer breites Delta geschaffen hat. Ein Spinnennetz von Flussarmen, Kanälen, schmalen und breiten Wasserläufen, an deren Ufer Millionen von Menschen leben.
Am Horizont blinkt das Meer
Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zum südchinesischen Meer, wo er endlich – vielleicht etwas müde geworden und träge – sein Ziel erreicht. Mehrmals winke ich ihm zu in der Meinung, den einzig noch verbleibenden grossen Arm zu sehen, doch jedes Mal werde ich durch einen anderen, noch breiteren überrascht. Und dann, nach knapp neun Stunden, verlassen wir das Mekong-Delta, und am Horizont blinkt das Meer, doch es ist ein anderes, der Golf von Thailand …
Ha Tien
Nach vielen Stunden erreichen wir Ha Tien, die letzte Stadt vor der Grenze zu Kambodscha. Eine lebendige Stadt mit freundlichen Leuten. Die jungen Männer im Hotel geben sich alle Mühe, mir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Sie geben mir Tipps, wo sich ein müder, aber warmer Abend am besten verbringen lässt.
Und tatsächlich – nach dem Abendessen in einem seltsam überdachten Restaurant, entdecke ich eine Art Fairground, wo sich tausend Leute, vor allem Familien mit ihren Kindern vergnügen. Ich schaue ihnen lange zu und fühle mich merkwürdig glücklich …
PS Song zum Thema: Nine Inch Nails – The Beginning of the End
Und hier geht die Reise weiter …