Gibt es noch Hippies aus den 60-er Jahren?

Wenn ich das Wort Goa höre, tauchen vor meinem geistigen Auge augenblicklich langhaarige Gestalten in bunten Kleidern auf, Hippies, damals wie heute das Synonym für alternative Lebensformen, für Aussteiger, für Drogen, psychedelische Musik.

Ich habe sie auf dem Hinweg nach Indien angetroffen, die meisten davon auf dem Weg nach Goa oder wahlweise nach Kabul oder Kathmandu, immer schön der Nase nach, dorthin, wo es viele und billige Drogen gegeben hat.

Junge, langhaarige Menschen, voller Lebensfreude, geimpft durch den Summer of Love, Woodstock, das Versprechen von Frieden, Freude, Eierkuchen.

Bis Altamont den Illusionen ein Ende bereitete. Ende der Sechziger- bis Mitte der Siebzigerjahre waren sie auf dem Weg ins gelobte Land, nach Indien, Afghanistan, Nepal. Die meisten kehren zurück, tauchten ein ins bürgerliche Leben, wurden Banker, Politiker, Unternehmer, Handwerker. Doch einige blieben hängen, fanden den Absprung nicht mehr.

Bis sie nur noch als geisterhafte Existenzen durch ein Leben als letzte Hippies wanken …

Verlorenes Paradies

Heute morgen, auf dem Weg durch die Stadt, habe ich einen gefunden, einen der letzten überlebenden Hippies.

Dem Aussehen nach hat er seine besten Jahre hinter sich. Sein Alter ist schwer zu schätzen, aber wenn ich davon ausgehe, dass er seit den Siebzigerjahren hier ist, muss er mindestens zwischen 60 und 70 sein. Sein eingefallenes runzliges Gesicht deutet allerdings eher auf 80 hin. Auch eine Aussteigerbiographie scheint nicht für ewige Jugend zu sorgen.  Da dürften auch ein paar Drogen eine Rolle gespielt haben.

Während ich im Restaurant am Strassenrand meinen Kaffee trinke (hervorragend), sitzt er teilnahmslos auf dem Trottoir und bettelt die vorbei flanierenden Touristen an. Einige greifen in die Tasche, aber ihre Gesichter sagen deutlich, dass hinter ihrer milden Gabe Mitleid steht. Oder gehört auch eine Portion Schadenfreude dazu?

Die späte Rache des Bürgertums? Wer weiss …

Calangute Town

Calangute ist ein kleines Städtchen im Norden von Goa mit ca. 14’000 Einwohnern, zusätzlich ein paar Tausend einheimische und ausländische Touristen während der Hochsaison über Weihnachten und Neujahr und im Sommer, der hier in erster Linie im Mai abgehalten wird.

Calangute Town
Calangute Town

Ein paar Worte zu Goa

(Wikipedia) Goa – auch Konkani oder Marathi genannt – ist der kleinste indische Bundesstaat. Er liegt an der mittleren Westküste Indiens, hat eine Fläche von 3702 Quadratkilometern und knapp 1,5 Millionen Einwohner (Volkszählung 2011). Die Hauptstadt Goas ist Panaji.

Goa ist nach der ehemals gleichnamigen Stadt, heute Velha Goa, benannt. Die Region war rund 450 Jahre lang portugiesische Kolonie und weist daher eine besondere kulturelle Prägung auf. Kaum ein indischer Bundesstaat ist kulturell so nachhaltig von einer europäischen Kolonialmacht beeinflusst worden wie Goa. Dies zeigt auch der hohe katholische Bevölkerungsanteil.

Am 18. Dezember 1961 marschierten indische Truppen mit etwa 20-facher Übermacht in Goa ein.

Das Unternehmen trug den Namen „Operation Vijay“ und war nach 26 Stunden abgeschlossen. Die portugiesischen und goanesischen Truppen kämpften auf verlorenem Posten. Indien bombardierte strategische und zivile Ziele in Goa, Damao und Diu, unter anderem den Marktplatz von Damao. Im darauffolgenden Jahr wurde Goa, zusammen mit Daman und Diu, zu einem indischen Unionsterritorium.

Mir fällt auf, dass sich seit dem letzten Besuch in 2007 die Zusammensetzung der Herkunftsländer der Touristen verändert hat.

Waren es früher vor allem Engländer, die aus geschichtlichen Gründen ihre alte Kolonie besuchten, sind es heute Russen und andere Nationalitäten. Und – vor allem übers Wochenende – jede Menge Einheimische, die, dank lockeren Gesetzen bezüglich Alkohol, ausgiebig Party feiern und sich volllaufen lassen.

Zumindest ein Teil der Todesfälle im Meer ist weniger den Strömungen, sondern dem Alkohol zuzuschreiben. Die Meinung der Einheimischen, d.h. Ladenbesitzer, Wirte, Standverkäufer etc., ist klar: obwohl es viele englische Touristen mit wenig Niveau gegeben hat, so stellen die heutigen im Vergleich eindeutig eine qualitative Verschlechterung dar. Und diese Bezeichnung ist sogar noch freundlich gemeint.

Südwärts

Die Reise in den Süden hat bisher genau ein Ziel definiert: den untersten Zipfel des indischen Subkontinents zu erreichen. Und dort, wo das Arabische Meer und der Golf von Bengalen zusammentreffen, die Füsse ins Wasser zu halten. Einer in diesem Meer, der zweite im anderen. Ich stelle mir das irgendwie mythisch vor.

Ich stehe gleichzeitig in zwei riesigen Meeren.

Wahrscheinlich werde ich keinen Unterschied bemerken.

Dann gegen Abend Abschied von Goa. Zurück nach Tivim, langes Warten, das durch Gespräche mit zwei jungen Indern und einem brasilianischen Paar erleichtert wird. Der Zug hat Verspätung, niemand stört sich daran. Irgendwann taucht in der Ferne die blaue Lokomotive auf, kaum mehr erkennbar in der Dämmerung.

Siesta on the floor
kein Platz zu unbequem für ein Mittagsschläfchen
Stalls at the station
Verkaufsstände am Bahnhof

Im Zug nach Trivandrum

Nun bin ich endlich genau dort, wo ich sein will.

Unterwegs nach irgendwohin.

Mir gegenüber sitzt ein älterer Inder, er stellt sich als Wissenschaftler heraus, freundlich, gescheit, aber auch ein indisches Ehepaar, mit Handys ausgerüstet, deren Klingeltöne Tote zum Leben erwecken könnten.

Mit der typisch indischen Neugier erkundet er sich nach dem Woher und Wohin, stimmt mit dem typisch indischen Kopfschütteln zu oder verzieht zweifelnd den Mund. Da ich nicht zum ersten Mal in Indien bin, kenne ich die Bedeutung des Kopfwackelns und weiss, dass sie Zustimmung meint. Nicht ganz einfach für uns Westler.

Ich erinnere mich gut an das Gesicht des Obstverkäufers irgendwo nahe der Grenze zu Pakistan, als ich mich nach Bananen erkundigte und als Antwort das Kopfwackeln erhielt. Sein verständnisloser Blick wird mir ewig in Erinnerung bleiben, als ich mich mit einem bedauernden Blick verabschiedete.

Am Horizont, knapp erkennbar durch die fürchterlich verschmutzte Fensterscheibe, hängt eine goldgelbe Sonne über braunen, gelben, grünen Landschaften, die vor dem Zug vorüber huschen.

Indien gleitet dahin, ich bin glücklich.

Und während verbrannte Landschaften an die Oberfläche des Mars erinnern, schiebt sich eine andere Erinnerung ins Gedächtnis.

From Goa to Trivandrum
Von Goa nach Trivandrum

Lagaan – Es war einmal in Indien

Ein Film, ein indischer Film, ein Bollywood-Film, der sich tief in meine filmische Erinnerungsreihe eingepflanzt hat. Ein wahrer Schinken von knapp vier Stunden, wovon keine einzige Minute überflüssig oder langweilig gewesen war.

Lagaan spielt im Indien des späten 19. Jahrhunderts. Der Regionaloffizier des britischen Hauptquartiers unterdrückt die Leute in der Region mit hohen Steuern (lagaan), während diese zusätzlich noch unter einer ungewöhnlichen Dürre leiden.

Russell bietet den Bauern des Dorfs Champaner eine Wette an: Er wird für ganze drei Jahre die Steuern der gesamten Provinz erlassen, wenn eine Dorfmannschaft seine Männer beim Cricket besiegen kann – eine Sportart, die den Bewohnern bisher völlig unbekannt ist. Wenn sie jedoch verlieren, wird die dreifache Steuer erhoben.

Lagaan – der Film (Trailer)

Eine schwierige Ausgangslage für die Dorfbewohner. Das zu lösende Problem ist auf den ersten Blick unmöglich zu lösen. Vor allem weil es im mausarmen Dorf an potentiellen Kandidaten für die geforderten Spieler fehlt.

Ohne die Pointe zu verraten, nur soviel: eine Szene gegen Schluss ist ein Magic Moment. Nicht verpassen.

Langsames Abdriften in die Nacht

Ich habe einen Fensterplatz erwischt und erst noch den Lower Bench, was immer ein Vorteil ist, denn man ist dann nicht gezwungen, auf die obere Pritsche zu klettern. So sitze ich also da, schaue aus dem Fenster, denke nichts.

Irgendwann, die Sonne hat sich in üblicher Pracht verabschiedet, wird das Nachtessen serviert. Es dauert etwas, bis sich mein anfängliches Misstrauen in anerkennendes Essvergnügen verwandelt. Diese positiven Erkenntnisse beinhalten ein gewisses Risiko: ein paar Tage später werde ich schmerzlich erfahren müssen, dass nicht jedes Essen im Zug unproblematisch ist, aber dazu später.

Und dann, mit vollem Magen nach einem wirklich guten Essen, der Höhepunkt des Tages – das wohlige Einkuscheln in den Schlafsack, das monotone Rattern der Räder im Ohr, das Hin- und Herschlagen des Wagens beim Überfahren einer Weiche oder sonst was …

 

PS Song zum Thema: Ian Dury & the Blockheads – Sex & Drugs & Rock ’n‘ Roll

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