Ein Trek für Babies?
Heute beginnt mein Trek, genauer gesagt der Baby-Trek, also ein Trek für Babies, weil er offenbar im Vergleich zu den „richtigen“ wie z.B. dem Marka-Trek, keine grossen Anforderungen stellen soll. Für einmal bin ich also bescheiden, gebe mich mit dem einfachsten zufrieden, und hoffe damit, das Angenehme mit dem Anspruchsvollen verbinden zu können.
Mal sehen, welche Art Babies gefordert sein werden …
Chin
Es ist Nachmittag, als ich nach mehreren aufwendigen Versuchen den Busbahnhof finde. Er liegt vorteilhafterweise ziemlich weit ausserhalb des Stadtzentrums. Damit ist man aber noch längst nicht am Ziel, denn es gibt
a) die grossen Busse (die nicht nach Likir fahren)
b) die Taxis (die viel zu teuer sind)
c) die kleineren Busse
Die letzteren wären tatsächlich die richtigen, wenn man sie denn finden würde. Mit ein bisschen Charme und weiterem Herumfragen werde ich schliesslich fündig und steige schon mal (anderthalb Stunden vor Abfahrt) in das altersschwach aussehende Vehikel ein. Später wird sich herausstellen, dass dies ein weiser Entschluss ist, denn das noch ziemlich leere Fahrzeug wird sich in den nächsten 90 Minuten bis zum letzten Platz füllen. Ich wähle wie immer die hinterste Reihe, ein junges Mädchen sitzt bereits mit Rucksack am Fenster. Sie stellt sich als Chinesin namens Chin aus China heraus, und sie hat das gleiche Reiseziel und den gleichen Treck wie ich vor.
Das ist doch schon mal gut.
Gasflaschen auf dem Nebensitz
Pünktlicher als die S12 fährt der Bus los, in der Zwischenzeit mit einem Sammelsurium der unterschiedlichsten Leute vollgepackt. Leute würde ja noch gehen, aber es werden zusätzlich tausend Taschen, Behälter, irgendetwas, was wie Hullahopp-Ringe aussieht, Blechkästen und sogar recht gefährlich aussehende Gasflaschen auf, neben und unter den Sitzen verstaut. Meine nicht ganz ernsthaft gemeinte Frage, ob die Dinger explodieren könnten, wird mit herzlichem Gelächter quittiert. Na denn halt!
Der Chauffeur hat sich offenbar den einen oder anderen Jason Bourne Action-Knaller reingezogen, denn er entschliesst sich, erstmal auf der falschen Spur zu fahren. Das führt zwar zu einigen recht dynamischen Manövern und lautem protestierendem Gehupe, was den Fahrer aber nicht im geringsten zu kümmern scheint. Mich schon ein bisschen, denn auf was muss man sich die nächsten Stunden einstellen?
Haus auf dem Dach
Die Fahrt dauert nicht allzu lange, denn nach einer halben Stunde sind wir immer noch in Leh, denn in mehreren Stops in irgendwelchen Hinterhöfen wird ein halbes Haus aufs Dach geladen. Holzlatten, Metallrollen, Werkzeuge, weitere Gasflaschen, Zementsäcke und weiss der Henker noch was. Der Luftwiderstand muss gigantisch sein.
Es gibt mit Ausnahme der allgegenwärtigen Busse keine öffentlichen Verkehrsmittel in Ladakh. Alles, Menschen, Tiere, Material, Nahrungsmittel, und alles andere, was irgendwo gebraucht wird, kann nur mit Bussen oder allenfalls Lastwagen transportiert werden. Die wenigesten Einwohner besitzen ein eigenes Auto, jede Bewegung von A nach B geschieht also in den meisten Fällen mit Bussen. Kleinen, mittleren, grossen, alten, neuen und solche wie meiner in einem Zustand, der Böses erwarten lässt …
Es ist eng und fröhlich
Meine Mitfahrer sind nicht im Geringsten angespannt, nicht mal die waghalsigen Fahrmanöver des Drivers sind Anlass zur Unruhe. Man ist sich hier einiges gewohnt, und so stelle auch ich den inneren Hebel auf Entspanung und harre der Dinge, die da kommen werden.
Mit Ausnahme von Chin und mir sind alle Passagiere einheimisch. Sie haben eine gute Zeit, es wird geplaudert und gelacht, und man scheint trotz der extrem beengten Verhältnisse grossen Spass an der Fahrt zu haben. Und falls noch jemand an der Strasse eine Mitfahrgelegenheit sucht, wird er bestimmt nicht enttäuscht, denn irgendwo findet sich mit Sicherheit noch ein unbesetzter Quadratzentimeter.
Die Stimmung bleibt die ganze Fahrt über fröhlich. Lautes Lachen und Geschnatter sind die stetigen Begleiter, während vor dem Fenster die Landschaft vorbeihuscht. Ich fahre die Strecke bereits zum zweiten Mal, und trotzdem kommt sie mir unbekannt vor. Die Bilder zerfliessen ineinander, Hügel – gelbe, braune, schwarze, violette, und Berge, weiss gekrönt, von majestätischer Pracht und beunruhigender Grösse. Dazwischen der Indus, manchmal ruhig gleitend, eine irritierende Arglosigkeit vorgebend, im nächsten Augenblick zum wilden Biest mutierend.
Likir
Ein paar Stunden später – der Bus hat alle Pässe und Kurven mit zwar beängstigend quietschenden Bremsen geschafft, aber immerhin – geschieht das gleiche mit den Passagieren und dem Haus auf dem Dach, einfach umgekehrt. Der Bus quält sich zu den unmöglichsten Dörfern hoch, manchmal lediglich aus zwei, drei Häusern bestehend, irgendwo in verwunschenen Tälern, um das Material, zwar in Raten, wieder loszuwerden. Und auch die Leute verlassen uns, und irgendwann sind wir sozusagen die letzten Mohikaner im Bus.
Es ist Abend geworden, wir erreichen Likir, und es gilt ein Guesthouse zu finden.
Der Busdriver kennt sich im Dorf aus, natürlich auch diejenigen Etablissement, wo er die höchsten Provisionen erwarten darf. Und so landen wir – zwar etwas oberhalb des Dorfes – im Dolker Guesthouse. Es entpuppt sich als ungemein angenehmes Hotel, wo man sich sofort wohl fühlt.
Teil der Familie
Ein Guesthouse unterscheidet sich in Nichts von einem sogenannten Homestay, also einem privaten Anbieter von Übernachtungsangeboten. Das Schöne dabei ist, dass man sozusagen Teil der Familie ist, im gleichen Raum isst und sich mit den Grosseltern zu unterhalten versucht, während die beiden Kids des Hauses mit kleines Fahrrädern wie die Wilden in der Stube herumfahren.
Dabei sitzt man auf den hier üblichen Sitzen am Boden vor den niedrigen kleinen Tischen und weiss beim besten Willen nicht wohin mit den Beinen. Schliesslich wird das Essen serviert, heute Abend Momos, diesmal aber nicht mit Ziegenfleisch gefüllt (so hoffe ich). Auf jeden Fall mundet das Essen ungemein, und die Stimmung ist einfach wunderbar. Die Herzlichkeit der Ladakhis ist herzergreifend, und einmal mehr merkt man, wieviel wir in unserer eigenen Welt verloren haben.
Kommunikation trotz sprachlicher Grenzen
Man wird sich kaum über die Relativitätstheorie unterhalten können, aber irgendeine Kommunikation ist trotz der sprachlichen Grenzen immer möglich. Das ist das Faszinierende. Wir verstehen kein Wort Ladakhi oder was immer die Leute sprechen, und umgekehrt beherrscht gerade mal die Hausherrin ein paar notwendige Brocken Englisch. Und trotzdem erfahren wir viel. Man unterhält sich mit Händen und Füssen, man beobachtet, stellt Thesen auf, was da genau geschieht, zieht Schlussfolgerungen und hat am Ende einen einigermassen sinnvollen Einblick in eine andere Welt gewonnen.
Mehr braucht es nicht, um zu verstehen, dass wie alle eins sind …
Geographische Entdeckungen
Chin ist eine spannende Gesprächspartnerin, und einmal mehr ist die Erkenntnis eindrücklich, wie sehr man von Vorurteilen geleitet wird. Sie erzählt von ihren Sorgen, vom unerträglichen Stress an ihrem bisherigen Arbeitsort. Sie hat den Job trotz guter Verdienstmöglichkeiten gekündigt, will sich nun in Ladakh darüber klar werden, wohin der Weg führen soll. Immer wieder erstaunlich und Augen öffnend, wenn man hinter die Kulissen einer vermeintlich homogenen Kultur sehen kann.
Weniger erstaunlich dann, als sie in meinem Führer entdeckt, dass China tatsächlich einen Teil von Ladakh besetzt hält. Offenbar kein Thema in der Geographiestunde …
Und dann Rückzug ins Zimmer, in den Schlafsack, in die Träume von den morgigen Anstrengungen …
PS Song zum Thema: Billy Talent – Surprise Surprise
Und hier geht die Reise weiter … mit dem Tag 1 auf dem Baby Trek