In Ladakh wird man permanent von einem Gefühl eingeholt.
Es scheint, als wäre man aus der Zeit gefallen, man nennt das eine Dischronie. Einen Augenblick ist man in einer Zeit gelandet, die längst vergangen ist (ein Gefühl, das mir aus Burma bekannt ist), Doch das Jetzt macht sich bemerkbar. Mönche, in Roben gekleidet, die gleichen wie vor tausend Jahren, in der Hand ein Handy. Für sie ist diese asynchrone Welt kein Problem, Ich hingegen spüre gelegentlich ein Gefühl des Gespaltenseins, als wäre ich aus meiner eigenen Zeit gefallen und in etwas gelandet, was nicht mehr ist.
Mal sehen, ob sich diese merkwürdigen Gefühle auch heute – oder besonders heute – einstellen, denn heute werde ich einen Trip zu den berühmtesten Klöstern unternehmen und leiste mir zur Abwechslung einen eigenen Driver (dessen Namen ich mir beim allerbesten Willen nicht merken kann) mit Minibus.
Fahrt mit Rundblick
Am Anfang ist alles wunderbar. ich sitze vorne mit prächtigstem Rundblick. Wir fahren einige Zeit dem Indus entlang, der hier bereits seine 800 Kilometer auf dem nassen Buckel hat und einen ziemlich kraftvollen gefährlichen Eindruck macht. Entlang des Flusses gibt’s etwas Grün, ein paar Bäume, manchmal sogar etwas wie Wiesen, doch darum herum eine einzige tote Wüste.
Langezogene kahle Hügel gehen abrupt in schartige Hänge über, die Farben wechseln von Minute zu Minute, von Dunkelbraun zu Ocker zu Gelb, dann wieder zu grauestem Grau und dunkelstem Schwarz. Am Horizont streckt der Sechstausender Stok Kangri seinen schneebedeckten Kopf in die Wolken.
„After Whisky Drive is risky“
Alle paar Kilometer werden die Autofahrer auf die besonderen Gefahren auf der Strasse hingewiesen. Es sind grosse, von weitem sichtbare Tafeln mit witzigen Sprüchen, die Schrift ist klar und unmissverständlich. Mein Fahrer zuckt nur die Schultern, als ich ihn lachend darauf aufmerksam mache.
„Nobody cares about it“, behauptet er. Auf meine Bemerkung, dass in Indien jedes jahr weit über 100’000 Leute im Strassenverkehr sterben, verzieht er bloss das Gesicht. „Nobody cares“, wiederholt er störrisch.
Dabei sind die Sprüche wirklich witzig. Das muss man sich mal vorstellen: irgendwo in einem verstaubten Büro in der Provinz Jammu/Kaschmir sitzen würdevolle alte (oder auch dynamische junge) Inder, denken sich Sprüche aus und lachen sich dabei krumm.
„Life is short, don’t make it shorter!“
Oder eben – „After Whisky, drive is risky!“
Ich hätte mir dei Sprüche aufschreiben sollen, so sind leider nur ein paar wenige im Gedächtnis geblieben.
Es ist lange her, seit ich Ähnliches im Kaschmir gesehen habe. Ich kann mich noch gut an „Be gentile on my Curves“ erinnern, aber der beste von allen bleibt für alle Ewigkeit „Death lays its icy Hands on Speed-Kings“. Einmal mehr – sowas gibt’s – wie so vieles andere – nur in Indien!
Jetzt wird’s ungemütlich
Und dann, nach einer guten halben Stunde, ist’s aus mit der gemütlichen Fahrt, jetzt wird’s richtig heftig. Die Strasse führt zum ersten Mal steil hinab in ein durch den Indus in den Felsen gefressenes Tal (was den Driver nicht aus der Ruhe bringt, der Boden unter meinen Füssen aber ziemlich malträtiert wird).
Sozusagen ein erster Härtetest für die geplante Fahrt von Leh nach Manali auf einem der gefährlichsten Highways der Welt. Ich bin gewarnt.
Der Verkehr ist erstaunlich dicht, Truck um Truck auf dem Weg von Srinagar nach Leh.
Abgesehen von der Gefährlichkeit der Strasse (keine Leitplanken, hunderte Meter senkrecht in die Tiefe, entgegenkommende Fahrzeuge) ist die Aussicht spektakulär. und wie immer in solchen Momenten ergibt man sich am besten der Situation und lässt sich entspannt in den Sitz zurücklehnen und geniesst das Schauspiel.
Strategische Route für die indische Armee
Die Strasse führt von Leh nach Srinagar im Kaschmir und bedeutet deswegen eine strategische Route für die indische Armee.
Was sich auch ziemlich schnell bemerkbar macht: unendlich lange Wagenkolonnen von indischen Armeefahrzeugen blockiert über Kilometer die Strasse; sogar die nicht zu unterschätzenden Überholkünste meines Fahrers vermögen hier wenig auszurichten, im Gegenteil: an einer scharfen Kurve kurz nach einer Brücke bricht der Verkehr vollständig zusammen.
Ein entgegenkommender Militärkonvoi versperrt durch ein Pannenfahrzeug den Weg, und so warten wir halt, ganz nach indischer Art vollkommen gelassen auf die Weiterfahrt. Man unterhält sich mit den Soldaten, sofern sie englisch sprechen, und denkt sich dabei einiges. Was für arme Schweine, die in dieser Einöde Dienst machen müssen!
Das Moon-Valley
Irgendwann geht’s dann doch weiter und über hundert bestehenden Brücken und solchen im Bau, nach zehntausend Kurven erreichen wir das Moon-Valley und gleich darauf die erste Destination, das Kloster Lamayuru.
Das Moon-Valley verdankt seinen Namen sehr eigenartig aussehnden Felsformationen, seltsam gerundeten weissen Kegeln und Wülsten, die sich total von der Umgebung unterscheiden.
Das Kloster Lamayuru befindet sich wie die meisten auf einem hohen Felsen, zu dem man über viele enge Kurven hochfahren muss. Überraschenderweise sind wir fast die einzigen Besucher an diesem grauen Tag, was uns Gelegenheit gibt, das Innere der Gompa, der eigentliche Name für die Klöster, in aller Ruhe inspizieren zu können.
Von jetzt an gilt es also, alle paar Augenblicke die Schuhe auszuziehen, in achtungsvoller Stille durch die Räume zu gehen und ob der unglaublichen Schönheit der hier aufbewahrten Schätze die Sprache zu vergessen.
Nicht unähnlich der katholischen Kirche scheinen auch die Klöster durchaus ein Gefühl für Reichtum zu haben. Der Fahrer klärt mich auf, dass ganze Wälder (von denen es ja nicht allzu viele gibt) den Klöstern gehören. Ich weiss zwar nicht, ob das immer noch der Fall ist, aber der den Klöstern gehörende Boden wurde an landlose Bauern verpachtet und entsprechend ein horrender Pachtzins eingezogen.
Das kommt uns doch ziemlich bekannt vor, nicht wahr?
Einblick ins tägliche Leben
Für jemanden aus dem reichen Westen ist es immer wieder ein zwiespältiges Gefühl, die ärmlichen Lebenswelten anderer Länder zu erfahren. Ein Gefühl der Scham stellt sich ein, aber auch der Hoffnungslosigkeit, der Hilflosigkeit gegenüber der täglichen Mühsal dieser Menschen. Sie kennen nichts anderes, sind sich daran gewöhnt, aber genügt das, um sich wieder in die wohlige Gewissheit des eigenen Lebens zurückziehen zu können? Natürlich nicht. Und jeder einigermassen verantwortungsvolle Traveller wird zumindest das dumpfe Empfinden eigenen Versagens mitnehmen.
Aber trotzdem ist der Einblick ins tägliche Leben der Menschen nicht nur bedrückend. Die Häuser sind einfach und billig gebaut, aus Lehm und Steinen und allem, was die karge Umwelt zur Verfügung stellt. Die Behausungen gleichen manchmal zerfallenden Ruinen, Dächer fehlen oder Mauern oder sind in sich zusammengestürzt. Aber das Leben ist da, auch wenn es im Moment nicht sichtbar ist, Ich würde gerne einen Blick ins innere der Häuser werfen, käme mir aber wie ein Eindringling vor. Aber wir sind eh Eindringlinge. Wir sind da, wo wir eigentlich nichts zu suchen haben. Wir sind nicht besser als Zoobesucher, die mit staunenden Augen vor den Käfigen der willden Tiere stehen.
Zwei zähe alte Ladies
Aber es gibt einen schmalen Durchgang, der hinunter zu den Häusern führt. Man fühlt sich ins Mittelalter versetzt. So stelle ich mir die schmutzigen, stinkenden Gassen der Dörfer und Städte im mittelalterlichen Europa vor. Und in gewissen verarmten Gegenden in Gebirgstälern sieht es immer noch genauso aus.
Doch dann treffe ich auf zwei würdevolle alte Ladies. Sie sitzen auf dem kalten Boden, an die Mauer gelehnt, Gebetsketten in den Händen. Die eine der beiden trägt eine dunkle Sonnenbrille, das Gesicht auf der Vorstufe zu einem spöttischen Grinsen verzogen. Wir tauschen Grussworte aus, die universell gültige Möglichkeit, eine Kommunikation herzustellen. Doch dabei bleibt es. Wir betrachten uns gegenseitig, lächeln, wissend, dass sich die zwei Welten ganz nahe und trotzdem ganz fern sind.
Der schäumende Indus und Momos
Anyway, wir haben in Lamayuru den entferntesten Punkt erreicht, fahren also wieder zurück, einmal mehr den schäumenden Wellen des Indus entlang (der sich irgendwo mit dem Zanskar-Fluss zusammenschliesst und dann den Weg Richtung Kaschmir und anschliessend gegen Süden durch Pakistan nehmen wird).
In der Zwischenzeit ist es Mittag geworden, der Hunger meldet sich, und mein Driver stoppt vor einem unscheinbaren Gebäude, wo es seiner Meinung nach die besten Momos in ganz Ladakh geben soll. Nun denn, warum nicht. Dass die Füllung allerdings aus Ziegenfleisch besteht, ist eine Überraschung, die ich zuerst verdauen muss. Ich erinnere mich an Mui Ne und ein Ziegengericht, dass mich ziemlich schnell aus dem Restaurant vertrieb. Aber es schmeckt gut, und das sehr schüchterne Mädchen, das uns das Essen serviert, bekommt ein paar Komplimente, die es erröten lässt.
Alchi
Alchi, ein weiteres Kloster, ausnahmsweise nicht auf einem Felsen, sondern mitten im Dorf gelegen.
Eigentlich ein trauriger Anblick, denn viele der Malereien sind massiv beschädigt durch einfliessendes Wasser, durch Luftverschmutzung, durch Sorglosigkeit. Es ist nicht mehr in Betrieb, nur noch ein paar Mönche aus einem nahegelegenen Kloster sorgen für etwas Verwaltung, sprich einziehen der Eintrittsgebühr.
Eigentlich wäre eine indische Institution für den Erhalt zuständig, davon merkt man allerdings nicht viel. Eine der mit wirklich ausserordentlichen Malereien bedeckte Wand hat irgendein Dilletant versucht, in ebensolcher Kunstfertigkeit zu übermalen, was allerdings massiv in die Hose gegangen ist. Schade. Das ist die Art und Weise, wie man uralte Kunstwerke verfallen oder zerstören lässt (nicht immer braucht es den IS oder die Taliban dazu).
Likir
Likir, das letzte Kloster auf unserer Fahrt, in einem Nebental gelegen, entpuppt sich als besonderer Leckerbissen. Hier merkt man das Leben, hier sind zahlreiche Mönche zugang, die sich der Erhaltung dieses Klosters besondere Mühe geben. Und der Blick von der obersten Zinne in die Umgebung ist atemberaubend.
Man nähert sich dem Kloster langsam und gemächlich, erkennt von weiterm die Umrisse des mehrstöckigen Gebäudes, das goldene Glitzern des riesigen Buddhas. Und ringsherum, einmal mehr, graue, braune, düstere Felsen machtvoll in ihrer toten Präsenz.
Der Blick ins Tal hinaus gibt die Richtung an, die ich übermorgen am ersten Tag des Treks folgen werde. Es sieht noch wunderbar und angenehm und verlockend aus. Mal sehen, ob es so bleibt …
Eine Sammlung göttlicher Pracht
Aber dann das Innere – eine Sammlung erhabener tibetischer Kunst, die das Auge betäubt. Man glaubt, flüstern zu müssen, macht vorsichtig und lautlos einen Fuss vor den anderen, bleibt stehen, staunt, fassungslos.
Angesichts der drohenden Klimakatastrophe erhält eine umstrittene Ansicht Auftrieb. Hat es die Menschheit verdient zu überleben, oder wäre es besser, sie würde auf Nimmerwiedersehen verschwinden, als hätte es sie nie gegeben? Es gibt nicht nur Mozart und Beethoven, Picasso und Jackson Pollock, James Joyce und Tolstoy und all die anderen, die der Menschheit etwas hinterlassen haben, das sie über alles andere erhebt. Die der Menschheit ein Zeugnis hinterlassen haben, dass der Mensch – wie es John Steinbeck in „East of Eden“ formulierte – bedeutender ist als ein Stern.
Auch diese Kunstwerke hier in diesen abgelegenen Klöstern, von unscheinbaren Mönchen vor langer Zeit geschaffen, geben Zeugnis davon ab, dass der Mensch in all seiner Jämmerlichkeit mehr ist als es die Gegenwart zu zeigen glaubt.
Der Buddha auf dem Dach
Aber nicht nur das Innere gibt Einblicke in die besondere Bedeutung des Klosters. Auf dem Dach (oder ist es die oberste Etage?) sitzt ein gewaltiger Buddha, golden bemalt, mit dunkelblauer Haarkrone, wie ich sie noch nie gesehen habe. Sein Blick aus den halbgeschlossenen Augen wie gewohnt in der Ferne, in einem zukünftigen Leben im Nirvana ohne die ewige Wiederkehr. Man beneidet ihn fast ein wenig …
Müde und erschlagen
Die Batterie ist leer, der Kopf ist voll, das Herz läuft über ob all der Pracht. Es ist Zeit, nach Hause zu fahren und durchzuatmen. Wir sind ruhig geworden, der Driver kennt das Verhalten seiner Kunden, wenn die Energie erschöpft ist. Der Weg ist lang, aber nicht mehr mühsam, nur noch ein Abrollen der Kilometer, hin und wieder ein Blick auf andere Klöster hoch oben auf den Hügeln …
PS Song zum Thema: Bang Gang – Sacred Things
Und hier geht die Reise weiter …